|
|
Wolfgang Sterneck:
DIE VIELFALT DER WEGE
- KONSEQUENTE MUSIK IM UNDERGROUND -
- Konsequente Musik -
- Missing Foundation und der Häuserkampf -
- Blackbird und die Rebellionen -
- Karma Sutra und die Gegensätze -
- Franti und die Spuren -
- Test Department und das Medium -
- Die Honkies und die Phantasie -
Seit den späten sechziger Jahren entwickelte sich eine weitverzweigte
alternative Musikszene, die sich inhaltlich und musikalisch deutlich
von der Kulturindustrie abgrenzt. Unabhängig von der musikalischen
Ausrichtung bildet bis in die Gegenwart ein konsequentes gegenkulturelles
Selbstverständnis das herausragende verbindende Merkmal.
KONSEQUENTE MUSIK
Entgegen den tatsächlichen Bedingungen stellen viele MusikerInnen
ihre Arbeit in einen scheinbar bezugslosen Raum und ignorieren dabei
die umgebenden gesellschaftlichen Bedingungen, die zwangsläufig
jede kulturelle Ausdrucksform beeinflußen. Im Grunde gibt
es keine unpolitische Musik, denn jedes Stück, gleichermaßen
ein romantischer Schlager, ein sozialkritischer Rap oder ein aggresiver
Punk-Song, vermittelt über die Texte und auch über den
Charakter der musikalischen Form eine bestimmte Sichtweise.
Der Begriff der Konsequenten Musik bezieht sich auf MusikerInnen,
die mit ihren Veröffentlichungen eine klare politische Position
beziehen und sie als eine Form der Gegenöffentlichkeit und
der Gegenkultur verstehen. Musik wird von ihnen als eine Möglichkeit
angesehen, um Inhalte und Gefühle weiterzutragen, um Bewußtsein
zu entwickeln und langfristig in einem befreienden Sinne auf eine
grundlegende gesellschaftliche Veränderung hinzuarbeiten. Das
verbindende Merkmal bildet in diesem Zusammenhang keineswegs eine
bestimmte stilistische Ausrichtung, sondern über alle musikalischen
Unterschiede hinweg ein vergleichbares Selbstverständnis. Dieses
drückt sich nicht nur in den Texten aus, sondern beispielsweise
auch in der Wahl der Auftrittsorte, der Höhe der geforderten
Gagen und der konkreten Zusammenarbeit mit einzelnen Projekten.
Großen Wert wird auf eine weitmöglichste Selbstbestimmung
und Unabhängigkeit gelegt, die sich zumeist in fast allen mit
der Musik verbundenen Bereichen widerspiegelt. Grundlegend ist dabei
die Ablehnung der vorrangig am Profit ausgerichteten Musikindustrie.
Im Unterschied zu den meisten Pop- und Rock-Stars, die sich aus
werbestrategischen Gründen mit einem wohltätigen und engagierten
Image schmücken, ist es ein Merkmal konsequenter MusikerInnen,
daß sie vielfach aus den Bewegungen und den Projekten, die
sie unterstützen, selbst hervorgegangen bzw. in ihnen aktiv
tätig sind.
MISSING FOUNDATION UND DER HÄUSERKAMPF
Im Sommer 1988 beschloß die New Yorker Stadtverwaltung den
Tompkins Park verstärkt zu überwachen und für Obdachlose,
die den Park als Schlafplatz nutzten, zu schließen. Der Widerstand
gegen diese im einzelnen brutal durchgesetzte Verfügung gipfelte
im August 1988 in einer Demonstration, die in eine zeitweise Besetzung
des Parks mündete. Während der Dämmerung drangen
Hunderte in den Park ein. Die Polizei mußte sich zurückziehen.
Triumphierend zogen die DemonstrantInnen dann zum Cristodora House,
einem offensichtlichen Symbol für die gewaltsame Verdrängung
der Armen, stürmten es und demolierten das blutige Eigentum
der Reichen...(1)
Die Wurzel der Auseinandersetzungen bildete der gesellschaftliche
Prozeß der Umstrukturierung, der sich in fast allen Großstädten
beobachten läßt. Stadtteile, die an das von Einkaufs-
und Bürogebäuden bestimmte Zentrum grenzen oder günstig
gelegen sind, werden unter anderem über eine drastische Steigerung
der Mietpreise entwohnt. Die freigewordenen Wohnhäuser werden
entweder renoviert und dann zu erheblich höheren Preisen neu
vermietet oder für gewerbliche Zwecke angeboten. In Folge verändert
sich der Charakter des Stadtteils völlig, die ursprünglich
dort lebenden Menschen müssen weichen und werden in die Ghettos
an den Stadträndern gedrängt.
Die Mitglieder der Band Missing Foundation stammen großteils
aus der Lower East Side, einem Stadtteil New Yorks, der durch die
Umstrukturierungsmaßnahmen seinen Charakter wandelte. Entsprechend
waren auch die einzelnen Musiker, die teilweise in besetzten Häusern
lebten, konkret mit den Folgen der aufgezwungenen Veränderungen,
die sie in Interviews und ihren Texten beständig darstellten
und angriffen, konfrontiert. Pete Missing, der Sänger der Band,
stellte die Entwicklungen immer wieder in einen größeren
Zusammenhang: Multinationale Konzerne umklammern unsere Welt
im Würgegriff und schaffen sich Regierungen, die ihren Interessen
gehorchen. Sie zerstören Kulturen, zerstören die Umwelt.
In New York City zerschmettert die Regierung den Widerstand an allen
Fronten. Mehr als je zuvor werden die letzten Reserven des amerikanischen
Widerstandes, die Armen und die Minderheiten, mit AIDS, Tuberkulose
und Drogen überschüttet und infiziert. Die Armen werden
gewaltsam aus ihren Häusern geschleppt, damit die Hauseigentümer
ihr Diebesgut vermehren. Die Stadt verfolgt die Taktik, Bulldozer
wie zufällig auf besetzte Häuser loszulassen, worauf die
Gebäude für baufällig erklärt und abgerissen
werden, der Grundbesitz wird dann verkauft.(2)
Für HörerInnen, die keinen Bezug zu experimentellen und
extremen Ausdrucksformen haben, entsprach die Musik von Missing
Foundation ganz im Sinne der Bandmitglieder einem akustischen Angriff.
In vielerlei Hinsicht drückte sie die angestaute Wut und den
Haß gegenüber der herrschenden Politik aus. Sie war aggressiv,
roh und auf ihre Weise sehr brutal. Momente der Ruhe oder der Entspannung
bestanden nicht. Viele Stücke basierten auf monotonen Rhythmen,
die insbesondere durch die Verwendung von metallischen Gegenständen
durch zwei Schlagzeuger erzeugt werden. Hinzu kamen verzerrt und
übersteuert aufgenommene Gitarren, sowie bei einigen Songs
Einspielungen von Geräuschen und Stimmen. Die Texte waren kaum
verständlich, zumeist wurden sie geschrieen und teilweise durch
die Verwendung eines Megaphons verfremdet vorgetragen. Im Vordergrund
stand einzig die Ablehnung des Bestehenden, welche zwar die Vision
einer besseren, befreiten Gesellschaft in sich trug, diese Vorstellung
aber weder musikalisch noch textlich konkret formulierte. Charakteristisch
für viele Äußerungen der Bandmitglieder war das
Schwanken zwischen Zuversicht und Resignation. Zum einen wurde in
einer vielfach euphorischen und übertrieben optimistischen
Weise der Widerstand gegen die allgegenwärtige Unterdrückung
beschrieben, zum anderen wurde aber auch die scheinbar unüberwindbare
Macht des herrschenden Systems dargestellt.
Verschiedene gezielt medienwirksame Auftritte, sowie ausgedehnte
Sprühaktionen führten dazu, daß die bürgerliche
Presse und auch die Staatsorgane auf die Band aufmerksam wurden.
Nach den Auseinandersetzungen um den Tompkins Park wurden die Gruppenmitglieder
sogar als Rädelsführer des Aufstands bezeichnet, obwohl
sie sich zu diesem Zeitpunkt außerhalb der Stadt befanden.
In der Folge waren die Auftritte der Band in New York von repressiven
staatlichen Maßnahmen geprägt. So wurden die Konzerte
teilweise von Sondereinheiten der Polizei überwacht, die gegen
einzelne BesucherInnen auch gewaltsam vorgingen. Schon eine
Stunde vor dem Auftritt verteilten sich die Aufstandsbekämpfungseinheiten
der Polizei in der Nähe des Platzes. Noch bevor der erste Song
zu Ende war, begannen die Schweine auf das Publikum einzuschlagen.
Die Trennungslinie zwischen dem Auftritt und der Welt draußen
war aufgehoben...(3)
BLACKBIRD UND DIE REBELLIONEN
Die Band Blackbird gehörte zu den wenigen gegenkulturellen
Projekten in der ehemaligen britischen Kolonie Hongkong, die 1997
an die Volksrepublik China übergeben wurde. In den Texten der
Gruppe, die zumeist in chinesischer, teilweise aber auch in englischer
Sprache vorgetragen wurden, zeigte sich in einer besonderen Deutlichkeit
gleichermaßen die Ablehnung des kapitalistischen Systems wie
auch der real-sozialistischen Ordnung der benachbarten
VR China. So griff Blackbird in mehreren Stücken die chinesischen
Machthaber an, die längst mit den Idealen der marxistischen
Theorie gebrochen hatten. Schon auf ihrer 1986 erschienen Kassette
Manifesto spielte Blackbird in einer völlig verzerrten
Gitarrenversion die Internationale nach. Die Gruppe
lehnte sich dabei an Jimi Hendrix an, der 1969 die us-amerikanische
Nationalhymne ebenso verfremdet nachspielte, um dadurch auf einer
instrumentalen Ebene seine radikale Ablehnung des Vietnam-Krieges
auszudrücken.
Der faschistoide Charakter der vorgeblichen kommunistischen Regierung
offenbarte sich insbesondere im Juni 1989 auf dem Tiananmen-Platz
in Peking, als das Militär ein Massaker unter den AnhängerInnen
der Demokratie-Bewegung verübte. Die Kassettenveröffentlichung
People have the power entstand unter dem Eindruck des
Massakers und wurde den Opfern gewidmet. Das Stück Requiem
war von einem Gefühl der Verzweiflung geprägt, in dem
sich Trauer und Wut vermischten. The tanks rolled over your
bodies. You must come back. The tanks rolled over my heart. I must
come forth. The blood wept the floor of the square. It nourished
hopes. Cold blood stained the pages of history. We will never forget.
Nicht weniger scharf als das System in China kritisierte Blackbird
Hongkong als eine Finanzmetropole, in der das Geld eine alles andere
dominierende Rolle einnimmt und der systembedingte Gegensatz zwischen
Armut und Hunger auf der einen Seite, sowie Luxus und Verschwendung
auf der anderen, offen zur Geltung kommt. In vielerlei Hinsicht
bezogen sich die Musiker mit ihrer Kritik auf ursprünglich
gegenkulturelle Jugend- und Musikbewegungen. In einer Selbstdarstellung
beschrieb sich die Gruppe als Rock-n-Roll-Band, wobei
die Musiker betonten, daß Rock n Roll nicht
nur ein musikalischer Stil ist, sondern eine Lebenseinstellung,
die auf völliger Selbstkontrolle basiert.(4) Davon ausgehend
entsprachen die Aufnahmen der vierköpfigen Band einer Reise
durch die Geschichte der Rockmusik. Bei einigen Stücken griff
Blackbird Folk-Elemente auf, andere hatten einen bluesartigen Charakter.
Teilweise spielte die Gruppe aber auch in einer eigenständigen
Weise Stücke westeuropäischer Rock-, Punk- und Hardcore-Bands
nach.
Eine wesentliche Wurzel von Blackbird lag in der Rebellionsbewegung
von 1968, die sich insbesondere in den westlichen Staaten gegen
autoritäre Strukturen stellte und eine Politisierung großer
Teile der Jugend bewirkte. Beeinflußt von diesen Entwicklungen
gründeten einige der späteren Bandmitglieder einen Buchladen
und übersetzten politische Texte, um auf dieser Ebene durch
die Vermittlung von Inhalten Veränderungen zu bewirken. Nach
etwa einem Jahrzehnt entschieden sie sich jedoch diesen Weg zu verlassen.
Wir erkannten, daß das schriftliche Medium für
die soziale Kommunikation an Bedeutung verloren hatte. Da wir uns
alle sehr für Theater und Rockmusik interessierten, entschieden
wir uns, den Buchladen zu schließen und eine Band und eine
Theater-Gruppe zu gründen. In Hongkong und in anderen Ländern
mit einem niedrigen Bildungsstandard ist das Medium Schrift ein
Problem. Wenn es jemandem nicht möglich ist, einen Text flüssig
zu lesen, dann hat er auch keine Lust, den Text zu Ende zu lesen.
Musik hat die Möglichkeit, die Menschen in Bewegung zu bringen.
Über den Rhythmus und den Beat dringt sie in das Unterbewußtsein
ein. Musik ist deshalb ein Medium um Interesse zu erzeugen. Ein
Drei-Minuten-Song kann aber nur eine Inspiration sein, um das Problem
zu lösen.(5)
KARMA SUTRA UND DIE GEGENSÄTZE
Im Mittelpunkt der Aussagen der Band Karma Sutra aus Luton (England)
stand der Gegensatz zwischen den Lebensbedingungen im Kapitalismus
und der Notwendigkeit der Veränderung bzw. der Möglichkeit
eines befreiten Lebens. Dabei beschränkten sich die Texte der
Gruppe nicht auf die klassischen linken Themen, sondern bezogen
sich insbesondere auch auf den zwischenmenschlichen Bereich. Von
diesem Verständnis ausgehend, versuchte sich die Gruppe gleichermaßen
von den vielfach abgehobenen und szenebezogenen Artikeln linksradikaler
Zeitschriften, sowie von den teilweise stark vereinfachenden, floskelhaften
Songtexten anarchistisch orientierter Musikbands zu lösen.
Während der Konzerte wurden die Aussagen durch Dia-Projektionen
und Videofilme unterstrichen.
Beispielhaft war das Stück Pillow Talk in dem
sich die Band für eine Befreiung der Liebe und der Sexualität
aussprach: Love I once considered uncontrollable. Now awaits
pre-packaged to be bought and sold. Romantic novels, films and songs
just alienate. - Weve grown sick and tired of mere representation
and hiding emotions away, of capitalist culture its a manifestation,
to keep us all in our place. - So you take us tenderly, or you wont
take us at all. A moment of beauty to share and enjoy for wimmin
can orgasm too. - Love is the basis of our revolution. Free love
is a spirit that youll never kill. (...)
Musikalisch standen einige ruhige, sehr gefühlvolle Songs
neben vergleichsweise hart und schnell gespielten Stücken.
Außer den herkömmlichen Rock-Instrumenten wurde auch
eine Flöte eingesetzt, die den melodischen Charakter der meisten
Aufnahmen unterstrich. Prägend waren die abwechselnden weiblichen
und männlichen Gesangspassagen, die zumeist eine bestimmende,
aber keineswegs aggressive Ausstrahlung hatten. Die Texte waren
in der Regel verhältnismäßig deutlich zu verstehen,
was gerade bei politischen Musikbands trotz ihres Anspruchs keineswegs
selbstverständlich ist.
Inhaltlicher Ausgangspunkt war eine anarchistische Grundhaltung,
wobei sich die einzelnen Bandmitglieder auf das Proletariat als
vermeintlichen Träger einer revolutionären Veränderung
bezogen. Trotz der breiten Unterstützung der ArbeiterInnen
für die rückschrittliche Politik der konservativen und
sozialdemokratischen Regierungen in Großbritannien gingen
die MusikerInnen davon aus, daß es langfristig zu einer proletarischen
Revolution kommen wird. Sie verwiesen dabei auf das proletarische
Klassenbewußtsein, welches zum Beispiel während des BergarbeiterInnenstreiks
und im Kampf gegen die Poll-Tax-Steuer offen zur Geltung kam. Entsprechend
kritisierten sie unter anderem die auf sich selbst fixierte
Punk- und Hardcore-Szene, in der zumeist die subkulturelle Rebellion
die konkrete revolutionäre Betätigung ersetzt.(6)
In einer scharfen Form griff Karma Sutra zudem die vorgeblich linken
oder alternativen MusikerInnen an, die mit den multinationalen Konzernen
zusammenarbeiten: Es gibt politische Bands, die gegen die
Fehler der Welt ansingen, aber sie offerieren ein falsches Bild
der Freiheit und der politischen Möglichkeiten, weil sie den
Kapitalismus eher aufrecht erhalten als zu seiner Zerstörung
beizutragen. Sie schaffen es nicht, ihre Rolle in einer kapitalistischen
Gesellschaft und die Rolle ihrer Konzerne in der Produktion und
im Konsumbereich anzugehen.(7) Aus der klassenkämpferischen
Grundhaltung leitete sich auch das Verständnis der Musik unter
den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen ab: In der kapitalistischen
Gesellschaft wurde die Musik, wie alle Formen der Kreativität
und des Selbstausdrucks, in Beschlag genommen und zu einem harmlosen,
standardisierten, mit Mythen überschwemmten Furzgeblubber gemacht.
Seit der maschinellen Herstellung von Schallplatten wurde die Musik
des Vergnügens durch die Musik des Profits ersetzt. In den
Musikgeschäften übertönt die Melodie der Registrierkassen
inzwischen alles andere.(8)
FRANTI UND DIE SPUREN
Die italienische Gruppe Franti bezog sich mit ihrem Namen auf eine
Figur aus einem Kinderbuch, die sich immer wieder den Anforderungen
von Eltern, Schule und Kirche widersetzte. Die Gruppe wurde 1978
in Turin als SchülerInnenband gegründet, die ausdrücklich
für neue Personen und verschiedene Stile offen war. Die Grundlage
bildete von Anfang an ein konsequentes, auf größtmöglicher
Selbstbestimmung basierendes Musikverständnis und eine antiautoritäre
Lebenseinstellung. Die Texte von Franti hatten durchgehend einen
direkten politischen Charakter. Konkret thematisierten die Bandmitglieder
unter anderem die Situation politischer Gefangener in Italien, die
Rüstungspolitik und die imperialistische Zielsetzungen der
westlichen Regierungen. Musikalisch war die Gruppe vom ausdrucksstarken
Gesang der Sängerin Lalli und dem Saxophonspiel Stefano Giaccones
geprägt. Bestimmend waren vor allem Einflüsse aus der
Rockmusik, die sich auch in der übrigen Instrumentierung der
Band (Gitarre, Baß, Schlagzeug) widerspiegelten.
Zu den Veröffentlichungen Frantis gehörte eine Split-LP
mit der Hardcore-Band Contrazione, durch die es den beiden Gruppen
auf der Grundlage inhaltlicher Gemeinsamkeiten gelang, scheinbare
musikalische Grenzen und die Fixierungen auf einzelne Szenen zu
überwinden. Diese Schallplatte wurde komplett von den
beiden Bands, die darauf spielen, gemacht. In dieser Welt, die von
Profit und Macht bestimmt und zermalmt wird, glauben wir, daß
selbstbestimmte und selbstgemachte Produktionen die wichtigsten
Dinge für MusikerInnen sind. Die Zusammenarbeit ist wesentlich
für uns, weil wir auf diesem Wege mehr und verschiedene Leute
erreichen können. Dies ist kein kommerzieller Grund, sondern
ein Bedürfnis nach Kommunikation in der Absicht, einen Schritt
weiterzukommen und auf die Inhalte und nicht auf die Bezeichnungen
oder die Symbole zu schauen.(9)
Nachdem sich Franti 1987 auflöste, gründeten Lalli und
Giaccone die Gruppe Environs und das Label Inisheer. Beide Projekte
setzten den von Franti eingeschlagenen Weg fort und knüpften
inhaltlich, sowie nun insbesondere auch musikalisch an den 1979
verstorbenen Sänger Demetrio Stratos und dessen Gruppe Area
an, die in Italien einen großen Einfluß erlangte. Die
erste Veröffentlichung von Environs 3 luglio 1969
hatte den zwanzigsten Jahrestag eines revolutionären Aufstandes
zum Thema. Nachdem sich im Juli 1969 im Turiner Stadtteil Mirafiori
streikende ArbeiterInnen und StudentInnen am Corso Traiano stundenlange
Straßenkämpfe mit der Polizei lieferten, gelang es ihnen
zwei Tage lang, den Stadtteil zu kontrollieren und den Traum gesellschaftlicher
Selbstbestimmung in dieser Zeit zumindest ansatzweise zu realisieren.
Die zurückliegenden Spuren wiederaufnehmen, wieder in
die existentielle Dimension zwischen den Menschen treten, die Verbindung
zwischen den Lebenszeichen herstellen, um sie vorauszuwerfen. Corso
Traiano heißt für Turin, heißt für uns Autonomie,
schwarzes Zeichen auf weißem Grund, Bruch. Auch das steckt
den Kreis ab, in dem wir leben...(10)
Musikalisch grenzte sich Environs bewußt von den italienischen
Musiktraditionen ab und verknüpfte Free-Jazz-, Blues- und Folk-Einflüsse.
Das Stück Steams, das eine ganze Schallplattenseite
einnimmt, folgt einer Spur innerhalb der amerikanischen (?)
Musik, einer, die wir geliebt haben, die wir immerzu hörten
und die wir auf eine gewisse Weise auch zu spielen gelernt haben.
Einer Spur in unserer Musikkultur zu folgen, wäre für
uns ziemlich unnatürlich gewesen, da wir keine lebendige Beziehung
zu ihr haben.
Die zweite LP bestand aus Kompositionen für die Aufführung
einer modernen Version der Antigone von Sophokles durch
das Turiner Theater-Ensemble Rote Fabrik. Die MusikerInnen untermalten
dabei Texte der griechischen Dichter Michalis Katsaros und Iannis
Ritsos in einer betont improvisierten und freien Weise. Auf
dieser Schallplatte haben wir mit dem schwersten musikalischen Stil,
der Improvisation, gearbeitet. Die Improvisation als ein Versuch,
neue Wege der Kommunikation zwischen uns selbst und zwischen uns
und dem Publikum zu erreichen. Etwas wie eine neue Sprache, wie
eine Kommunikation. Ein Spiegel alternativer sozialer Möglichkeiten
und ein Schlag gegen das Verständnis von Musik als Ware.(11)
TEST DEPARTMENT UND DAS MEDIUM
Die frühen Veröffentlichungen und Auftritte der englischen
Gruppe Test Department knüpften an die sowjetische Avantgarde
und dabei insbesondere an die Produktionsmusik der ersten Jahre
nach der sozialistischen Oktoberrevolution an. Die Bandmitglieder
nutzten dabei fast ausschließlich Gegenstände aus dem
Bereich der industriellen Produktion als Instrumente, darunter Hämmer,
Stahlstangen und Metallplatten, um eine Musik zu erzeugen, welche
den industriellen Arbeitsprozeß und die Rolle des Menschen
innerhalb des Produktionsbereiches angemessen wiedergibt. Im Vordergrund
standen monotone, hart und brutal wirkende Rhythmen, die nur geringen
Raum für Variationen und melodische Passagen ließ. Die
Texte wurden brüllend vorgetragen und auf kurze klassenkämpferische
Parolen reduziert. Um die optische und inhaltliche Wirkung zu verstärken,
führte die Gruppe während der Auftritte Filme auf, die
Arbeiter innerhalb riesiger Industrieanlagen zeigten.
Zu einem zentralem Bezugspunkt der Gruppe wurde der britische BergarbeiterInnenstreik
(1984-85), der sich gegen die Schließung von Kohlezechen und
den damit verbundenen Verlust von rund 20.000 Arbeitsplätzen
richtete. Nach mehreren Monaten andauernden Auseinandersetzungen
wurde der Streik erst abgebrochen, als sich die materielle Situation
der Beteiligten in einem nicht länger tragbaren Maße
verschlechtert hatte. Test Department unterstützten den Streik
in Zusammenarbeit mit dem South Wales Striking Miners Choir durch
eine landesweite Benefiztour und eine LP-Veröffentlichung mit
dem bezeichnenden Titel Shoulder to shoulder, deren
finanzielle Gewinne den Streikenden zur Verfügung gestellt
wurden. Die in dieser Zeit entstandenen Stücke wurzelten insbesondere
in der Wechselwirkung zwischen der direkten Erfahrung des Widerstandes
und dem politischen Selbstverständnis der Band: Wir arbeiteten
mit Menschen zusammen, die an den Kämpfen direkt beteiligt
waren, und machten Stücke, die von diesen Menschen inspiriert
wurden und wiederum andere inspirieren sollten.(12)
Die heroische Darstellung von ArbeiterInnen aus einer ausdrücklich
klassenkämpferischen Sicht, die teilweise stilistisch an den
Sozialistischen Realismus erinnerte, stieß erwartungsgemäß
auf gegensätzliche Reaktionen: Im Westen hatte es eine
anregende und aufbrechende Wirkung, daß wir die ArbeiterInnen
und die Arbeit würdevoll mit Respekt und Achtung als Teil einer
kraftvollen künstlerischen Aussage darstellten. Aber gleichzeitig
konntest du im Osten sehen, wie diese Darstellungsweise seit der
Herrschaft Stalins gegen die Menschen eingesetzt wurde. Es sind
zwei Seiten einer Medaille.(13)
In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre lösten sich
Test Department vom Konzept der Produktionsmusik und konzentrierten
sich auf die Auseinandersetzung mit geschichtlichen Ereignissen
im Rahmen von Konzeptplatten und multimedialen Bühnenaufführungen.
Dabei wurden die Musikdarbietungen mit Elementen des aufklärenden
Epischen Theaters verbunden und wiederum auch Filme und Dias eingesetzt.
Einen wesentlichen Ausgangspunkt bildete dabei die beständige
Suche nach veränderten Ausdrucksmöglichkeiten um ein größeres
Publikum zu erreichen. Charakteristisch blieb das Bestreben der
Gruppe eine Einheit zwischen der inhaltlichen Aussage und der äußeren
Form zu entwickeln. Der bei vielen politischen MusikerInnen gegebene
Widerspruch zwischen den vorgetragenen revolutionären Positionen
und der gleichzeitigen Verwendung konventioneller Ausdrucksmittel
sollte so überwunden werden.
Zu einer Verknüpfung moderner und traditioneller musikalischer
Elemente kam es im Rahmen eines Bühnenprojekts, das die wirtschaftlich
begründete Vertreibung von Teilen der Bevölkerung der
schottischen Highlands durch Großgrundbesitzer im 18. Jahrhundert
beschrieb. Eingesetzt wurden dabei neben unterschiedlichen Schlaginstrumenten
insbesondere auch Dudelsäcke und Hörner. Die Musik reichte
von Marschrhythmen bis zu gesangsbetonten folkloristischen Stücken.
Auf einem ähnlichen musikalischen Konzept basierte die Vertonung
von Gododin, dem ältesten überlieferten walisischen
Gedicht, in dem der aussichtslose Kampf einer kleinen Gruppe keltischer
Krieger gegen angelsächsische Truppen beschrieben wird.
Mit der Ausarbeitung und Veröffentlichung des politischen
Oratoriums Pax Britannica, das sich mit der imperialistischen
Geschichte Großbritanniens beschäftigte, begab sich die
Gruppe auch in die Bereiche der klassischen und der Neuen Musik.
Die Aufnahmen, die zusammen mit dem Scottish Chamber Orchestra und
einem Chor eingespielt wurden, sind von pathetischen orchestralen
Stücken getragen, denen an einigen Stellen traditionelle Elemente
und die für Test Department typischen perkussiven Strukturen
gegenüber stehen. In die Kompositionen integrierte die Gruppe
zudem mehrere Originalaufnahmen von Ausführungen britischer
PolitikerInnen, darunter Aussagen der ehemaligen Premierministerin
Thatcher, deren nationalistischer Charakter im inhaltlichen und
musikalischen Zusammenhang des Oratoriums offensichtlich wurde.
DIE HONKIES UND DIE PHANTASIE
Nicht immer sind Texte nötig, um eine klare politische Aussage
zu vermitteln. Auch durch ein gelebtes konsequentes Selbstverständnis
oder durch den musikalischen Stil und dem Aufbau eines Stückes
lassen sich Einstellungen und Positionen vermitteln. Die Londoner
Band Honkies war beispielhaft für einen solchen Weg. Ohne es
gezielt anzustreben oder in den Songtexten konkret auszusprechen,
verkörperte sie die sprichwörtliche Aufforderung an das
Publikum aus der Reihe zu tanzen. Auffallend war die Fröhlichkeit,
der Spaß und die Selbstironie, die in der Musik wie im Auftreten
der MusikerInnen zum Ausdruck kam.
Den Honkies gehörten zwei Saxophonistinnen, ein Trompeter
und ein Schlagzeuger an. Während der Konzerte wurden neben
den eigentlichen Instrumenten der MusikerInnen verschiedenartige
geräuscherzeugende Geräte benutzt, zu denen gleichermaßen
selbstgebaute Rasseln wie auch Waschmaschinenschläuche gehörten.
Alle vier Bandmitglieder traten geschminkt auf und trugen selbstgemachte
Kostüme. So erinnerte die Bekleidung von Richard Harrison,
dem Schlagzeuger, an einen skurrilen Schlafanzug, während die
Kleider der Saxophonistinnen Caroline Kraabel und Kathy Hulme unter
anderem aus den Deckeln von Blechdosen gestaltet wurden. Durch die
ständige Bewegung während der Auftritte erzeugte das Blechkleid
Geräusche und wurde dadurch zu einem weiteren Instrument.
Viele Stücke waren von Rhythmusveränderungen geprägt,
anfangs aufgebaute Strukturen wurden plötzlich aufgebrochen
und gingen in ein scheinbares Chaos über, aus dem sich dann
wieder eine Melodie herausbildete. Der Rahmen der meisten Stücke
war vorgegeben, bot aber genügend Raum für Improvisationen,
der während der Auftritte genutzt wurde. Im Vordergrund standen
Elemente aus dem Jazz-Bereich, welche die MusikerInnen mit Ausdrucksformen
aus den verschiedensten Stilen verbanden. Auf ihre Einflüsse
angesprochen, verwiesen die Honkies in der für sie typischen
ironischen Art auf die großen nordischen Gitarrenbands,
wobei sie für ihre Aufnahmen keine Gitarren benutzten, und
auf den Komiker Buster Keaton. Sie selbst bezeichneten ihre Musik
als Selfmade-Music, als selbstgemachte Musik.
Einen Höhepunkt der Veröffentlichungen der Honkies bildete
eine Live-Aufnahme von How do we prevent the advance of the
desert?, die in einem besetzten Haus in Hanau entstand. In
der Regel endete das Stück mit einem mehrstimmigen Gesang.
Das Publikum führte es jedoch mit Schreien, Jaulen und Brüllen
fort und hob so die gängigen Grenzen zwischen den KonzertbesucherInnen
und den MusikerInnen auf. Nach einiger Zeit setzte auch der Trompeter
Andy Diagram wieder ein und paßte sich improvisierend dem
Rhythmus der Stimmen an.
Die Texte wurden von den Bandmitgliedern bei einigen Stücken
gemeinsam, bei anderen von einzelnen oder auch abwechselnd vorgetragen.
Beispielhaft für die vielfach assoziativen und betont skurrilen
Aussagen ist der kurze Text des Stücks Citywide search
for mother earth: Im not the big dumb sea - and
I dont move with the moon. Ausdrücklich überließ
es die Gruppe den HörerInnen, ob die Aussagen der Texte als
solche angenommen oder vielschichtig interpretiert werden. Akzeptiere
nicht was dir vorgesetzt wird. Finde in den Texten deine eigene
Aussage, deinen eigenen Sinn.(14)
Die Cover der Veröffentlichungen der Honkies gestalteten die
Bandmitglieder selbst. Bei einigen wurden sogar die Schallplatten-
und Kassettencover einzeln bemalt und beklebt, so daß jedes
einen eigenen Ausdruck erhielt und kein Cover dem anderen glich.
Zumeist bestand die Gestaltung aus Farbcollagen mit eingearbeiteten
bunten Papierstücken oder Zeitungsausschnitten. Wie viele andere
konsequente Musikgruppen organisierten die Honkies ihre Auftritte
selbst oder arbeiteten bei der Vorbereitung mit befreundeten Personen
zusammen. Auftrittsorte waren gleichermaßen Clubs, Jugendzentren
und besetzte Häuser. Auf den Tourneen traten sie mit MusikerInnen
auf, mit denen sie ein gemeinsames konsequentes Selbstverständnis
verband, auch wenn es sich musikalisch und textlich unterschiedlich
ausdrückte.
(1998)
Anmerkungen:
1) The battle of Tompkins Park. In: World War 3 Illustrated No.
11 - The Riot Issue. New York, 1988.
2) Aus einem Interview mit Pete Missing. In: Kabeljau Nr. 13. Norderstedt,
1989.
3) K. J. / A slice of life: Police state invades entertainment industry.
In: Shadow No. 13. New York, 1990.
4) Aus dem Beiheft zur Kassette: Blackbird / People have the power.
(Eigenproduktion). 1989.
5) Aus einem Interview mit Guo Da-Nian (Blackbird). In: Maximum
Rocknroll No. 92. Berkeley, 1991.
6) Aus dem Covertext der LP: Karma Sutra / The daydreams of a production
line worker. (Paradoxical). 1987.
7) Aus einem Gespräch des Autors mit Lil, John und Graeme (Karma
Sutra) im Nov. 1989 in Luton (England).
8) Siehe 6).
9) Aus der Einleitung zu den Songtexten der LP: Franti & Contrazione
/ F/C. (Eigenproduktion). 1984.
10) Aus dem Covertext zur LP: Environs / 3 luglio 1969. (Inisheer).
1989.
11) Aus einem Brief von Stefano Giaccone an den Autor. September
1991.
12) Aus einem Gespräch mit Angus Farquhar (Test Department)
am 3.12.1987 in Wiesbaden.
13) Siehe 12)
14) Aus einem Gespräch des Autors mit Andy Diagram, Caroline
Kraabel, Kathy Hulme und Richard Harrison (Honkies) am 14.4.1992
in Hanau.
Aus dem Buch:
Wolfgang Sterneck:
Der Kampf um die Träume - Musik und Gesellschaft. (1998).
contact@sterneck.net
|