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Wolfgang Sterneck:
DIE ÜBERWINDUNG DER PASSIVITÄT
- DIE KASSETTENKULTUR -
- Die Möglichkeiten der Kassette -
- Die Kassettenkultur und ihre Labels -
- Projekte zwischen Fantasie und Subversion -
Die Entwicklung der Kassette eröffnete neue Möglichkeiten
einer selbständigen Aufnahme, Vervielfältigung und Verbreitung
von Musik. Davon ausgehend wurde die Kassette zum Medium gegenkultureller
Strömungen, die sich den Vorgaben der Musikindustrie bzw. den
Auflagen staatlicher Gremien widersetzten.
DIE MÖGLICHKEITEN DER KASSETTE
In ihrer Urform wurde die Kassette 1964 vom holländischen
Philips-Konzern patentiert. Ein Jahrzehnt später setzte die
massenhafte Verbreitung des neuen Mediums ein. Zu den auslösenden
Faktoren für diese Entwicklung gehörten neben verschiedenen
technischen Verbesserungen vor allem ausgedehnte Werbekampagnen
und fallende Verkaufspreise. Zur endgültigen Etablierung der
Kassette als eigenständiges Medium neben der Schallplatte kam
es durch die Einführung der Leerkassette und entsprechender
Aufnahmegeräte durch japanische Konzerne. Seit den achtziger
Jahren besitzt in den westlichen Industrienationen fast jeder Haushalt
mindestens einen Kassettenrecorder.
Die Kassette bescherte der Industrie neue Rekordeinnahmen, sie
führte gleichzeitig aber auch zu einer Aufhebung des Vervielfältigungsmonopols
der Konzerne, da die Kassette insbesondere auch zum Kopieren von
Schallplatten-Veröffentlichungen genutzt wurde. Alle Versuche
diese Erscheinung über juristische Bestimmungen einzuschränken,
waren gegenüber dem unüberschaubaren Ausmaß der
Vervielfältigungen im privaten und im kommerziellen Bereich
vergebens. Davon ausgehend entwickelte sich die Kassette zu einem
der wichtigsten gegenkulturellen Medien. Im offensichtlichen Gegensatz
zur Schallplatte ermöglicht die Kassette in einer äußerst
flexiblen Weise die Aufnahme und Vervielfältigung von Musik-
und Tondokumenten. Sie versetzt damit MusikerInnen in die Lage,
einen wesentlichen Teil der Musikproduktion und Veröffentlichung
selbst zu übernehmen, ohne daß es kostspieliger Geräte
und Einrichtungen oder eines besonderen technischen Wissens bedarf.
Zudem ermöglicht die Kassette auch in Phasen repressiver staatlicher
Maßnahmen eine verhältnismäßig unkontrollierbare
Vervielfältigung von nicht geduldeten Text- und Musikaufnahmen.
In den späten siebziger Jahren entwickelten insbesondere in
den westlichen Staaten die ersten Ansätze der sogenannten Kassettenkultur.
Dabei konzentrierten sich einzelne MusikerInnen gezielt auf die
Kassette und veröffentlichten eigene, vielfach unter einfachsten
technischen Bedingungen in Privatwohnungen oder Proberäumen
entstandene Musikaufnahmen. Zum übergreifenden Motto der Kassettenkultur
wurde eine Parole, die in Hollywood an das Gebäude von Capitol-Records,
einem us-amerikanischen Musikkonzern, gesprüht wurde: Kassettenaufnahmen
töten die Schallplattenindustrie... und es wird Zeit!.
Bald entstanden netzwerkartige Strukturen von kleinen Labels, Vertrieben
und Einzelpersonen, die über ihre Kassettenproduktionen gezielt
den Kontakt zu ähnlich ausgerichteten Projekten suchten. Der
Tausch von Kassetten wurde dabei immer bedeutsamer, so daß
sich in Anlehnung an den Begriff der Mail Art, dem Versenden von
unterschiedlichsten Kunstgegenständen, in Teilbereichen von
einer Mail-Music-Szene sprechen läßt. Eine wichtige Funktion
nahmen in diesem Zusammenhang einige unabhängige, überregional
erscheinende Musikzeitschriften ein, die über die Darstellung
von Kassettenprojekten und dem Abdruck entsprechender Kontaktadressen
zur Vergrößerung der Szene beitrugen. Wegweisend war
dabei die Rubrik Castanets des us-amerikanischen Musikmagazins
Op, in der auf mehreren Seiten ausschließlich Kassetten besprochen
wurden.
In seinem Fanzine Electronic Cottage beschrieb Hal McGee mehrfach
die Möglichkeiten, welche die Kassettenkultur eröffnet,
aber auch die Notwendigkeit, selbst aktiv zu werden. Um in
Kontakt mit der Szene zu kommen, mußt du bereit sein, dir
die Zeit und die Energie zu nehmen viele Briefe zu schreiben und,
wenn du deine eigenen Aufnahmen veröffentlichen willst, einiges
in Postgebühren und Leerkassetten zu investieren. Aber du wirst
dann feststellen, daß dein Interesse mit jedem neuen Kontakt
zunimmt und deine eigene Kreativität in ungeahnte Größen
steigt. Du wirst Musik hören, die du nie zuvor gehört
hast und wirst in Kontakt mit Leuten kommen, die hoffentlich versuchen,
die äußeren Grenzen zu durchbrechen. Es geht nicht um
Geld und auch nicht um Ruhm. Es ist eine Subkultur von ProduzentInnen,
nicht von passiven KonsumentInnen.(1)
Über die Ablehnung der Musikindustrie hinausgehend, verbinden
allerdings nur wenige MusikerInnen aus dem Bereich der Kassettenkultur
mit ihren Aktivitäten gesellschaftspolitische Positionen. Im
Vordergrund steht neben dem grundlegenden Interesse an der Musik
und der Suche nach neuen Kontakten vor allem das Bedürfnis
nach einer selbstbestimmten kreativen Entfaltung. Beispielhaft ist
die folgende Aussage von Tibo Leone, der die Absurde Musik begründete und die meisten seiner Aufnahmen
auf Kassetten veröffentlichte: Es ist egal, wieviele
Leute deine Musik hören und was sie davon halten, wichtig ist,
was sie dir bringt und daß du unabhängig bleibst. Wenn
du willst, kannst du dein eigener Star sein.(2) Nicht zu unterschätzen
ist jedoch das Bedürfnis nach Anerkennung und Erfolg, welches
auch in der Kassettenkultur einen wesentlichen Faktor der meisten
Veröffentlichungen bildet, aber zumeist als Motivationsgrund
nicht genannt wird.
DIE KASSETTENKULTUR UND IHRE LABELS
Die stilistische Ausrichtung der Kassetten-Labels umfaßt
in ihrer Gesamtheit nahezu das komplette musikalische Spektrum,
wobei in den achtziger Jahren ein Schwergewicht im Bereich der Sound
Culture lag. Viele Labels veröffentlichen Compilations auf
denen sich Beiträge verschiedener Projekte befinden. Teilweise
rufen die Labels dazu auf, zu einem bestimmten Thema Beiträge
zu senden, in anderen Fällen wird ein bestimmter Musikstil
oder die Vorliebe der Person, welche die Kassette zusammenstellt,
zum hauptsächlichen Auswahlkriterium.
Die Auflagen der meisten Veröffentlichungen der kleineren
Labels erreichen allerdings nur selten eine dreistellige Verkaufszahl.
Die finanziellen Überschüsse aus dem Verkauf decken, wenn
überhaupt, zumeist gerade die Unkosten, nur wenige Labels sind
auf die Erwirtschaftung eines finanziellen Gewinns ausgerichtet.
Ein kommerzieller Durchbruch gelang dem auf experimentelle Veröffentlichungen
spezialisierten Amsterdamer Label Staalplaat und dem New Yorker
Label Roir, das eine Reihe mit Aufnahmen verhältnismäßig
bekannter MusikerInnen und Bands produzierte. Von Roir stammt auch
die erste Veröffentlichung der Bad Brains, die mit rund 25.000
Exemplaren zur meistverkauften Kassettenproduktion wurde. Während
Roir auch heute noch vorwiegend Kassetten veröffentlicht, konzentriert
sich Staalplaat inzwischen völlig auf CD-Produktionen und vollzog
damit die Entwicklung vieler Labels, die ursprünglich als reine
Kassettenprojekte begannen, dann aber zunehmend auch Schallplatten
und Compact Discs in ihr Programm aufnahmen. Die Gründe hierfür
liegen in den besseren Vermarktungs- und Vertriebsmöglichkeiten,
der zumeist besseren Tonqualität und in der Einstellung der
meisten KäuferInnen, aber auch vieler MusikerInnen, die eine
Schallplatten- oder CD-Veröffentlichung über eine Kassettenproduktion
stellen.
Das us-amerikanische Label Sound of Pig, das zu den wichtigsten
Projekten der Kassettenkultur gehört, ist in vieler Hinsicht
für die Szene charakteristisch. Sound of Pig wurde 1985 von
Al Margolis gegründet, der in den folgenden Jahren neben Aufnahmen
seines eigenen Projekts If, Bwana rund dreihundert Kassetten
unterschiedlichster Bands veröffentlichte. Margolis übernimmt
dabei fast alle Aufgaben, die mit dem Vertrieb verbunden sind, er
gestaltet die Kassettencover, vervielfältigt die Aufnahmen,
organisiert den Versand und beantwortet Anfragen. Neben der persönlichen
Faszination für die vielfältigen Erscheinungen der Kassettenkultur
gibt Margolis die Verbreitung von unabhängiger Musik und die
indirekte Vermittlung von Kontakten als Beweggründe für
seine Arbeit an. Es ist ein gutes Gefühl, wenn eine Person
mich wissen läßt, daß jemand mit ihr in Kontakt
getreten ist, weil sie auf einer meiner Kassetten vertreten war.
Wenn das passiert, dann war ich erfolgreich.(3)
Das Konzept des inzwischen aufgelösten bundesdeutschen Labels
Irre Tapes ließ sich in mehrerer Hinsicht mit dem von Sound
of Pig vergleichen. Um 1980 begann Matthias Lang beeinflußt
von anderen Kassettenprojekten mit der Veröffentlichung von
Aufnahmen einzelner Bands und der Zusammenstellung von Compilations,
wobei er im Gegensatz zu den meisten anderen Labelgründern
selbst nicht als Musiker tätig war. Neben der Arbeit am eigenen
Label, die keinerlei finanziellen Gewinn abwarf, konzentrierte sich
Lang auf die Verbreitung von Informationen über die Kassettenszene.
Der von ihm herausgegebene Irre Tapes Newsletter, ein achtseitiger
Rundbrief der gegen Erstattung der Unkosten bezogen werden konnte,
beinhaltete insbesondere Besprechungen von zugesandten Kassetten
und Darstellungen von Labels. Beispielhaft für das Selbstverständnis
von Lang war die Aufforderung den Newsletter zu kopieren und weiterzuverteilen.
Eine Ausnahmestellung nahmen die kanadischen Projekte Technawbe
Sound und Maya ein. Inhaltlich beschäftigten sich die Veröffentlichungen
mit geschichtlichen und gegenwärtigen Entwicklungen in Nordamerika,
wobei insbesondere auf die Unterdrückung wie auch auf den Widerstand
der indianischen UreinwohnerInnen und der Afro-AmerikanerInnen eingegangen
wurde. Die musikalischen Ausrichtung der Stücke auf den zumeist
von Patrick Andrade zusammengestellten Compilations reichte vom
HipHop über Hardcore und Dub-Reggae bis zu folkloristisch beeinflußten
Kompositionen. Auf mehreren Kassetten befanden sich zudem Gedichte,
Reden und Interviews, die zum Teil mit Musik unterlegt waren.
In den Ländern des realen Sozialismus wurde der
Bereich der Kultur von den staatlichen Gremien streng reglementiert.
Bands, die kritische Positionen vertraten oder über ihre Musik
ein unangepaßtes Lebensgefühl vermittelten, wurden vielfach
durch Auftrittsverbote und in einigen Fällen durch die Verhängung
von Gefängnisstrafen zum Schweigen gebracht. Doch auch in diesem
Fall eröffneten die Kassetten neue Möglichkeiten, selbst
wenn sie nur zu vergleichsweise hohen Preisen erhältlich waren.
Als Äquivalent zu den Samizdat-Verlagen, die verbotene Schriften
illegal verbreiteten, entstanden die Magnetizdat-Label, die Musikaufnahmen
vervielfältigten.
In der CSSR war es insbesondere Petr Cibulka, der die Musik der
gegenkulturellen Bands des sogenannten Undergrounds dokumentierte
und vervielfältigte. Obwohl die meisten Bands keine konkreten
politischen Positionen vertraten, stellte das von ihnen vermittelte
Lebensgefühl eine direkte Bedrohung für die aufgezwungene
gesellschaftliche Ordnung dar. Wegen angeblich krimineller und staatsfeindlicher
Aktivitäten wurde Cibulka mehrfach verhaftet und zu langjährigen
Haftstrafen verurteilt. In der zweiten Hälfte der siebziger
Jahre organisierte der kommunistische Staat in der CSSR eine Kampagne
gegen den musikalischen Underground und gegen alles, was kreativ
sein konnte. Wir hatten keine Möglichkeiten uns dagegen zu
wehren und so begangen wir die bekanntesten Underground-Bands aufzunehmen.(4)
In Polen entwickelte sich in einem zunehmenden Maße in den
späten achtziger Jahren eine unabhängige Musikszene, die
trotz einer Verschärfung der Zensurgesetze von den staatlichen
Stellen weitgehend geduldet wurde. Insbesondere im Umfeld der anarchistisch
orientierten Hardcore-Musik entstanden einige Fanzines und Kassettenlabel.
Zu den konsequentesten Kassettenprojekten gehörte das 1985
von Arek Marczynski und Kasia Gruszecka gegründete Label R.E.D.-Tapes,
das später in Antena Krzyku überging, und der von Wojtek
Kozielski geleitete Vertrieb Protekcja Distro. Veröffentlicht
wurden Live-Aufnahmen von befreundeten ausländischen Bands
und von polnischen Gruppen. Finanziell trug sich der Vertrieb nur
eingeschränkt, wesentlichere Aspekte waren für die Beteiligten
jedoch die Verbreitung der Musik und der damit verbundenen inhaltichen
Aussagen, sowie die Kontakte, die durch die Veröffentlichungen
entstanden.
Eine wichtige Rolle nahm die Kassette auch in den antiimperialistischen
Befreiungskämpfen der achtziger Jahre ein. Unter den Bedingungen
der Kontrolle der Medien durch reaktionäre, zumeist von den
Vereinigten Staaten unterstützte Regierungen und der Verfolgung
jeglichen Ausdrucks kulturellen Widerstandes wurde die Kassette
zu einem Träger revolutionärer Positionen. So produzierte
beispielsweise die südafrikanische Befreiungsbewegung ANC Kassetten
mit Reden und Musikstücken, welche die Positionen der Organisation
darlegten und zum Widerstand gegen das Apartheid-Regime aufforderten.
Um dieses Vorgehen zu unterstützen, organisierten Solidaritätsgruppen
in Schweden eine Kampagne, in deren Rahmen sie dazu aufriefen Kassetten
zu spenden, die dann dem ANC zur Verfügung gestellt und mit
entsprechenden Aufnahmen bespielt wurden.
In Nicaragua verteilte die Befreiungsbewegung FSLN insbesondere
in Landesteilen, in denen ein großer Teil der Bevölkerung
nicht lesen konnte, unter der Bezeichung Guitarra Armada
Musik-Kassetten mit Liedern, in denen die Ziele der Befreiungsfront
dargestellt und Möglichkeiten der Unterstützung aufgezeigt
wurden. Viele Stücke gingen konkret auf praktische Probleme
des bewaffneten Kampfes ein und beschrieben unter anderem die Herstellung
von Bomben und den Umgang mit verschiedenen Waffen. Auch nach der
Revolution wurden verschiedene Kassettenprogramme entwickelt, die
insbesondere zur Überwindung des Analphabetismus eingesetzt
wurden.
PROJEKTE ZWISCHEN FANTASIE UND SUBVERSION
Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Kassettenkultur in den
westlichen Staaten entstanden eine Vielzahl von eigenständigen
und oftmals auch sehr eigenwilligen Projekten und Konzepten, die
das Medium Kassette in den Mittelpunkt stellen oder es vorrangig
als Tonträger benutzen. Der in Seattle lebende Robin James
versuchte in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre durch verschiedene
Kassetten- und Buchprojekte die Entwicklungen innerhalb der Kassettenszene
zu dokumentieren und darauf aufbauend eine zunehmende Vernetzung
zu ermöglichen. James veröffentlichte unter den Bezeichnungen
Cassette Mythos Death Pack und Audio Alchemy Digest
Compilations, die aus Textbeiträgen und insbesondere aus Stücken
verschiedener Kassettenproduktionen zusammengestellt wurden. Die
Vielfalt der ausgewählten Aufnahmen reichte von herkömmlichen
Rocksongs bis zu Aufzeichnungen wie dem rhythmischen Pfeifen von
vier ghanaischen Poststemplern während ihrer Arbeit. Den Veröffentlichungen
waren jeweils großformatige Poster mit Informationen und Kontaktlisten
beigelegt. Adressen waren immer das Lebensblut des Netzwerkes.
Deshalb gehörte es zu unseren wichtigsten Aufgaben, Kontaktadressen
zu sammeln und weiterzugeben.(5) Daneben arbeitete James Jahre
lang an der Herausgabe des Buches Cassette Mythos, in
dem in verschiedenen Beiträgen und Selbstdarstellungen die
Kassettenszene porträtiert wird.
Das Snapshot-Projekt von Steve Peters und Rich Jensen, die in einer
Radiosendung von HörerInnen eingesandte Kassetten mit Umweltaufnahmen
abspielten, basierte auf der Vorstellung einer bewußteren
Wahrnehmung und dem Ziel einer Überwindung der auferlegten
passiven Konsumhaltung gegenüber dem Radio. Geräuschaufnahmen
erlauben uns, wie Fotografien, Momente aus dem Fluß der Zeit
herauszureißen, sie näher zu untersuchen und einen neuen
Sinn aus ihnen zu ziehen. Manchmal stellt es sich heraus, daß
das vermeintliche Subjekt der Aufnahme längst nicht
so interessant ist, wie das, was sich im Hintergrund
abgespielt hat. Aufnahmen, die in anderen Umgebungen als unserer
eigenen gemacht wurden, vermitteln uns etwas vom dortigen Leben.
Wir können auch kreativ an den Geräuschen teilnehmen,
indem wir unsere eigene Phantasie nutzen, um ein persönliches
visuelles Bild von dem, was wir hören, entstehen zu lassen.(6) Die
letzte Snapshot-Veröffentlichung wurde als Geschenk mit
der Aufschrift: An die, die es angehen mag an öffentlichen
Plätzen hinterlegt. Jede Person, die die Kassette fand, konnte
sie mitnehmen...(7)
Im Zusammenhang mit ihren persönlichen Studien über die
Wirkung von Flüssen auf den Menschen began Annea Lockwood die
Geräusche von Flüssen auf Kassette aufzunehmen und zu
archivieren. Das Archiv ist gleichermaßen ein absurdes
Projekt, da es beabsichtigt, alle Flüsse der Welt zu erfassen,
und ein praktischer Weg des Studiums von Wassergeräuschen und
ihren physiologischen Effekten.(8) Daneben nutzte Lockwood
die Aufnahmen für Installationen und Performances, in denen
die Geräusche einzelner Flüsse mit entsprechenden optischen
Eindrücken verknüpft wurden. 1989 veröffentlichte
Lockwood in Anlehnung an den Begriff der Landkarte eine Geräuschkarte
(Sound-Map) des Hudson Rivers, wobei sie fünfzehn verschiedene
Aufnahmen des Flusses, von seiner Quelle bis zu seiner Mündungin
den Atlantik, aneinanderreihte.
Randy Russell entwickelte die Idee des Environmental Over-Dubs,
die auf der Aufnahme von umgebenden Geräuschen basiert, welche
an einem anderen Ort abgespielt werden, während gleichzeitig
ein weiteres Gerät diese Aufnahmen und wiederum die umgebenden
Geräusche aufzeichnet. Ich lief die Straße hinunter
und spielte eine Kassette ab, auf der jemand die Straße hinunterlief
und nahm heimlich mit einem anderen Gerät auf. Die Aufnahmen
schickte ich zu meinem Freund und bekam bald eine erweitere zurück,
die ich dann wieder für Aufnahmen nutzte. Wir sind inzwischen
in der zwanzigsten Generation und es hört sich verrückt
an.(9) Rückblickend betonte Russell, daß die
Aufnahmen nicht als Kunstform oder als fertiges Produkt gedacht
waren, sondern als fortlaufender Prozeß durch den einige interessante
Geräusche entstehen konnten....(10)
Das Konzept der Collaboration Cassettes, das unter anderem von
Zan Hoffman geprägt wurde, entwickelte sich in den achtziger
Jahren zu einer in der Kassetten-Szene weit verbreiteten Form der
musikalischen Kommunikation. Es basiert auf der kooperativen Zusammenarbeit
von mindestens zwei MusikerInnen oder Bands, die über große
räumlichen Entfernungen hinweg gemeinsam ein Musikstück
erstellen. Dabei schicken sich die beteiligten Personen nacheinander
eine mit einem Vier-Spur-Gerät aufgenommene Kassette zu. Die
erste Person bespielt nur eine Spur und schickt diese dann zur zweiten
Person, die ebenfalls eine Spur bespielt und sie dann wieder zurück
schickt, um nach dem gleichen Verfahren auch die dritte und vierte
Spur zu erhalten. Die letztliche Abmischung des Stücks übernehmen
beide Personen zumeist unabhängig voneinander, so daß
zwei Versionen eines gemeinsam entworfenen Stücks entstehen.
Schon im Alter von dreizehn Jahren veröffentlichte Claus Sterneck,
der zu den Gründern des KomistA-Labels gehört, 1983 seine
erste Dröhn-Kassette. In Abgrenzung zur kommerziellen Pop-Musik
suchte Sterneck nach besonders kurzen und mit vergleichweise geringen
technischen Mitteln produzierten Stücken, wobei im Rahmen der
Auswahl seine Vorliebe für finnische Hardcore-Bands besonders
zum Ausdruck kam. Die Aufnahmen verfremdete er dann teilweise bis
zur Unkenntlichkeit. Ich überspielte die Lieder mit zwei
Kassettenrecordern ohne Kabel auf zwei schlechte Kassetten, die
ich abwechselnd zum Abspielen und Aufnehmen benutzte. Danach bearbeitete
ich sie noch mit einem Magnet. Auf der ersten sechzig Minuten langen
Kassette sind zweiundachtzig Lieder.(11) Später entwickelte
Sterneck eine spezielle Formel mit der er besondere Dröhn-Tage
errechnete, an denen die Dröhn-Musik gehört und durch
weitere Überspielungen noch verschlechtert werden soll.
Das Konzept der Kassetten-Konzerte stammte von Konrad Schnitzler,
der bei entsprechenden Auftritten mit mehreren Abspielgeräten
und einer großen Anzahl von Kassetten, auf denen einzelne
Musiksequenzen aufgenommen waren, arbeitete. Über den Einsatz
und die zeitliche Anordnung der Kassetten entschied er improvisierend
während der Auftritte. Um von den räumlichen und technischen
Gegebenheiten des Auftrittsortes unabhängig zu sein, konstruierte
der Komponist einen Gürtel aus Walkman-Apparaten, die er mit
einem am Kopf befestigten Megaphon verband. Um 1982 veröffentlichte
Schnitzler, der in den frühen siebziger Jahren zu den Gründungsmitgliedern
der Avantgardeband Kluster gehörte, mehrere Kassetten mit Aufnahmen,
die auch von anderen Personen als Grundlage für ein Kassettenkonzert
genutzt werden können.
Nachdem Willem de Ridder seit den fünfziger Jahren an vielzähligen
kulturellen Projekten und Entwicklungen, darunter auch an der Fluxus-Bewegung,
beteiligt war, widmete er sich seit 1974 insbesondere akustischen
Ausdrucksformen, bei denen Kassetten eine besondere Bedeutung erhielten.
So konzipierte er Kassetten- und Radioprogramme für bestimmte
Landkreise und Städte, die über verschiedene Anweisungen
die HörerInnen zu einzelnen Plätzen führen, sie zu
bestimmten Handlungen auffordern oder durch Erzählungen historische
Situationen und Bedingungen nachvollziehen lassen. Teilweise dauern
diese Programme mehrere Stunden oder Tage an.
Die Amsterdamer Radio Arts Foundation, an deren Gründung De
Ridder maßgeblich beteiligt war, bezieht sich auf die Tradition
der oralen Übermittlung. Mehrfach wurden einzelne Personen
dazu angeregt, sich der eigenen Fantasie zu öffnen, unvorbereitet
Geschichten zu erzählen und diese mit einem Kassettenrecorder
aufzuzeichnen. Geschichten erzählen ist wie das Wasser
im Fluß. Du kannst es nicht wirklich tun, du mußt es
strömen lassen, und je weniger du unterbrichst, umso mehr wird
passieren...(12) Einen anderen Schwerpunkt bildete eine Kassettenreihe
mit Erzählungen, Geräuschcollagen und dokumentarischen
Aufzeichnungen. Zu den beeindruckensten Veröffentlichungen
gehört die Aufnahme der Geburt eines Kindes in einem Wohnhaus
und die Beschreibungen der Empfindungen der beteiligten Personen,
die von einer ruhigen, fließenden Musik untermalt werden.
Der Schriftsteller William S. Burroughs setzte sich in mehreren
Aufsätzen mit den Möglichkeiten eines subversiven Einsatzes
von Kassetten auseinander. Er übertrug dabei insbesondere die
Cut-Up-Methode, in deren Rahmen einzelne Textabschnitte aus ihrem
ursprünglichen Bezug gelöst und in einen neuen Zusammenhang
gestellt werden, auf den Bereich akustischer Aufzeichnungen. Einige
Anwendungsbereiche für Cut-Up-Tonbänder, die eine revolutionäre
Waffe sein können, wenn man sie auf der Straße abspielt:
- Verbreitung von Gerüchten: Stell zehn Tonbandagenten mit
sorgfältig vorbereiteten Aufnahmen während der Rush Hour
auf die Straße und seh zu, wie schnell sich die Worte verbreiten.
Die Leute haben etwas gehört, wissen aber nicht, woher es kam...
- Diskreditierung von politischen Gegnern: Nimm eine Rede auf
Band auf, verschneide sie mit Gestammel, Husten, Niesen, Sabbern
und Geifern von Schwachsinnigen, Sex- und Tiergeräuschen und
spiel die Aufnahme auf der Straße, in U-Bahnen, Bahnhöfen,
Parks und auf politischen Veranstaltungen ab...(13)
Die englische Gruppe Crass, die zu den einflußreichsten Hardcore-Bands
gehörte, versandte 1984 anonym Kassetten an Zeitungen, die
mit einem nachgestellten Telefongespräch zwischen dem damaligen
US-Präsidenten Reagan und der englischen Premier-Ministerin
Thatcher bespielt waren. Reagan bekannte sich darin unter anderem
zu Plänen, denen zufolge im Kriegsfall große Teile Europas
durch den Einsatz von Nuklearwaffen zerstört werden sollen.
Die sogenannten Thatchergate-Tapes wurden lange nicht beachtet,
dann dementierten jedoch staatliche Stellen die Aussagen und verdächtigen
den sowjetischen Geheimdienst als Urheber. Später bekannten
sich Crass zur Herstellung der Tapes und nutzten das weltweite Medieninteresse
zur Vermittlung ihrer grundlegenden Kritik an der bürgerlichen
Gesellschaft. Die kategorischen Dementis und ihr Umfang machten
deutlich, daß die Methoden, derer wir uns bedient hatten,
um Thatcher und Reagan zu verleumden, sich in keinster Weise von
denen des State Departments unterschieden.(14)
(1998)
Anmerkungen:
1) McGee, Hal / Editors Foreword. In: Electronic Cottage No.
6. Apollo Beach (USA), 1991.
2) Aus einem Gespräch des Autors mit Tibo Leone am 3.2.1983
in Dörnigheim.
3) Margolis, Al / Sound of Pig. In: James, Robin (Hg.) / Cassette
Mythos. (Autonomedia). Brooklyn, 1992.
4) Petr Cibulka zitiert in: Zago, Susanne / Not everything is in
order. In: Nieuwe Koekrand No. 80/81. Amsterdam, 1987.
5) Aus einem Brief von Robin James an den Autor. Mai 1992.
6) Peters, Steve und Jensen, Rich / The tape recorder as audio camera:
Snapshot Radio Cassette Magazine. In: James / Cassette. (Siehe 3).
7) Aus einem Brief von Steve Peters an den Autor. Mai 1994.
8) Lockwood, Annea / The River Archive. In: James / Cassette. (Siehe
3).
9) Russell, Randy / Environmental O. D.. In: Sound Choice No. 8.
Ojai (USA), 1987.
10) Aus einem Brief von Randy Russell an den Autor. April 1994.
11) Aus einem Gespräch des Autors mit Claus Sterneck am 3.3.1994
in Dörnigheim.
12) Radio Arts Foundation zitiert in: NYX / NYX Global. (Eigenverlag).
Amsterdam, o.J..
13) Burroughs, William S. / Die elektronische Revolution. (1970).
(Expanded Media Edition). Bonn, 1991.
14) Crass / ... in which Crass voluntarily blow their own.
Beilage zur Doppel-LP: Crass / Best before 1984. (Crass Records).
1984.
Aus dem Buch:
Wolfgang Sterneck:
Der Kampf um die Träume - Musik und Gesellschaft. (1998).
contact@sterneck.net
Absurde Musik
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