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Claus Sterneck / Claus in Iceland
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Wolfgang Sterneck
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Wolfgang Sterneck:

DER BEFREITE KLANG
- AVANTGARDE UND KONSEQUENZ -

- Luigi Nono und die Revolution -
- John Cage und die Stille -

Eine konsequent verstandene experimentelle Musik steht für das Bestreben musikalische und gleichzeitig auch gesellschaftliche Grenzen aufzubrechen. Dies kann wie bei Luigi Nono insbesondere über textliche Aussagen oder wie bei John Cage über einen aufbrechenden kompositorischen Ansatz geschehen.

LUIGI NONO UND DIE REVOLUTION

Viele MusikerInnen, die ihre Arbeit als avantgardistisch verstehen, stellen diese in einen scheinbar bezugslosen künstlerischen Raum und ignorieren dadurch die gesellschaftlichen Zusammenhänge, die zwangsläufig alle Ausdrucksformen beeinflußen. Der italienische Komponist Luigi Nono trat dieser Haltung entschieden entgegen und verstand seine Musik ausdrücklich als politische Waffe im Kampf für eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft. Konsequent bekannte er sich zum Kommunismus, wobei er eine kritische Haltung gegenüber den Entwicklungen in den Staaten des ”realen Sozialismus” einnahm. ”Die Position, in der ich mich selbst erkenne, ist jene, die die Kultur als Moment der Bewußtwerdung, des Kampfes, der Provokation, der Diskussion, der Teilnahme versteht. Eine Kultur, die nicht mehr paternalistisch zu verbreiten ist, sondern in einem neuen sozialen Gewebe auf die Probe gestellt werden muß. Das verstehe ich unter Musikmachen: etwas das mich nicht anders engagiert als die Teilnahme an einer Demonstration, an einer Auseinandersetzung mit der Polizei, oder, wie es morgen der Fall sein könnte, an einem bewaffneten Kampf, das heißt Klassenkampf. (...)”(1)

Nono trat 1953 der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) bei, war an mehreren Kultur- und Bildungsprogrammen beteiligt, die im Umfeld der Partei entstanden, und gehörte zeitweise deren Zentralkomitee an. Der Komponist bezeichnete sich selbst im Sinne Antonio Gramscis, einem der Gründer und Theoretiker der PCI auf den sich Nono immer wieder bezog, als ”organischen Intellektuellen”.(2) Er sah sich damit als ein Künstler, der im Klassenkampf klar Position bezieht und in vielfältiger Hinsicht am Leben des Proletariats, der im marxistischen Verständnis revolutionären Klasse, teilnimmt.

Die klaren gesellschaftspolitischen Positionen Nonos führten zwangsläufig zu einer scharfen Kritik an anderen Komponisten der modernen Musik. So kritisierte Nono Karlheinz Stockhausen am Beispiel seiner Komposition ”Hymnen”, in der gleichermaßen faschistische Nationalhymnen und revolutionäre Lieder völlig undifferenziert zu einer Komposition verbunden wurden. Realitätsfern setzte Stockhausen dadurch extremste gesellschaftliche Gegensätze wie Unterdrückung und Selbstbestimmung, Diktatur und Freiheitskampf auf eine Stufe. Nicht minder scharf griff Nono John Cage an, dem er vorwarf, die geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, in denen ein künstlerisches Werk entsteht, zugunsten einer mystifizierenden und egozentrischen Grundhaltung zu ignorieren. Nono unterschätzte dabei jedoch die potentiellen Möglichkeiten der Kompositionen von Cage, die über die Vermittlung eines erweiterten Begriffs von Musik ein bewußteres Wahrnehmen und einen Prozeß der inneren Veränderung einleiten können, der sich letztlich auch gesellschaftlich niederschlägt.

Ablehnend stand Nono allerdings auch dem Konzept des Sozialistischen Realismus gegenüber, das seit den frühen dreißiger Jahren von der sowjetischen Staatsführung als einzig geduldete künstlerische Ausrichtung vorgegeben wurde. Der Sozialistische Realismus sollte ursprünglich die gesellschaftliche Entwicklung von einer revolutionären Perspektive ausgehend erfassen. Die entsprechenden KünstlerInnen reduzierten ihre Aussagen aber bald auf eine, an den Richtlinien der Partei ausgerichtete schematische Darstellung der vorgeblichen sozialen Wirklichkeit.

Eine zentrale Stellung im Werk Luigi Nonos nahm der Kampf gegen den Faschismus ein, wobei sich der Komponist insbesondere auf die Resistenza, die italienische Widerstandsbewegung bezog. So basierte der Text seines Chorwerks ”Il canto sospeso” (”Der unterbrochene Gesang”) auf Zitaten aus Abschiedsbriefen antifaschistischer WiderstandskämpferInnen, die zum Tode verurteilt wurden. Über die Würdigung des Widerstandes und die Trauer über die Opfer hinausgehend, verstand Nono die Komposition als Aufforderung, den Kampf für eine freie Gesellschaft auch in der Gegenwart fortzusetzen. ”Nicht nur ein ruhmreiches Banner der Vergangenheit, sondern Resistenza als ständiger Kampf, als neues Bewußtsein in ständiger Entwicklung im subjektiven Handeln.”(3)

Seit den sechziger Jahren ging Nono mit seinen Kompositionen zunehmend auf die weltweiten antiimperialistischen Befreiungskämpfe ein. Mehrfach vertonte Nono Reden und Texte von RevolutionärInnen in denen einzelne Aspekte der Kämpfe beispielhaft zum Ausdruck kamen. Darüber hinaus widmete er einzelne Stücke unter anderem den Befreiungsbewegungen Vietnams und Venezuelas. Die Entwicklung eines betont internationalistischen Ansatzes führte folgerichtig zu einer Kritik an der gängigen Überbewertung der europäischen Musikgeschichte und zu einer Öffnung gegenüber anderen Musikkulturen.

Die 1975 erstmals aufgeführte Komposition ”Al gran sole carico d’amore” (”Unter der großen Sonne mit Liebe beladen”) wurde zu einer umfassenden Darstellung der Ideale von revolutionären, linken Bewegungen. Nono zeigte darin geschichtliche Verbindungslinien auf, die von der Pariser Kommune und der russischen Revolution von 1905 über den antifaschistischen Widerstand bis zu den antiimperialistischen Befreiungsbewegungen und regionalen Arbeitskämpfen der Gegenwart reichten. Der szenischen Aktion, wie Nono das Stück selbst bezeichnete, war ein Zitat Che Guevaras vorangestellt, das sich auf die dialektische Beziehung zwischen gesellschaftlichen Bedingungen und kulturellem Ausdruck bezog: ”Unsere Schönheit ist uns wiedergegeben durch die Revolution”. Der Text des musikalisch vielschichtigen und komplexen Werkes, der zumeist von Frauenchören vorgetragen wurde, setzte sich unter anderem aus Reden und Texten von Louise Michel, Lenin, Bertolt Brecht und Fidel Castro zusammen. Widersprüchlich blieb allerdings wie bei vielen anderen Stücken Nonos die schwerverständliche sprachliche Darbietung der Texte, die der Vermittlung der entsprechenden Inhalte entgegenstand.

Die 1964 entstandene Komposition ”La fabbrica illuminata” (”Die erleuchtete Fabrik”) setzte sich mit den entfremdeten Arbeits- und Lebensbedingungen der ArbeiterInnen in der Metallfabrik Italsider in Genua auseinander. Beispielhaft sollte dabei der unmenschliche Charakter des kapitalistischen Systems aufgezeigt werden. Nono bezog in die Komposition gleichermaßen Gespräche, die er mit den ArbeiterInnen der Fabrik geführt hatte, und Geräuschaufnahmen des Produktionsprozesses ein, die neben Gesangsaufnahmen und elektronischen Klangstrukturen eine eigenständige Ebene der Musik bildeten. Auf Grund der inhaltlichen Ausrichtung untersagte die Leitung des Italienischen Rundfunks, die Nono ursprünglich einen Kompositionsauftrag erteilt hatte, die Ausstrahlung des Stücks.

Der Eingangschor basierte inhaltlich auf einer Beschreibung der Situation der ArbeiterInnen in der Fabrik: ”Fabrik der Toten wird sie genannt. Ausgesetztsein der Arbeiter den Verbrennungen, den Giftgasen, den großen Gußstahlmassen. Ausgesetztsein der Arbeiter den sehr hohen Temperaturen. Für acht Stunden Arbeit kassiert der Arbeiter nur zwei. Ausgesetztsein der Arbeiter den herumfliegenden Metallteilen. Humanitäre Bedingungen zur Beschleunigung des Arbeitstempos. Ausgesetztsein der Arbeiter den herunterstürzenden Gegenständen, den blendenden Lichtern, dem Hochspannungsstrom. Wieviele Minuten pro Mensch, um zu sterben?”. Der zweite Textabschnitt beschrieb assoziativ den Einfluß des Arbeitsprozesses auf das alltägliche Leben, der bis in den Bereich der Sexualität reicht. Weitergehend wurde auf die Beziehung der Fabrik zur umgebenden Stadt, sowie auf Auseinandersetzungen mit den Staatsorganen eingegangen, um dann in der abschließenden Strophe symbolhaft den Aufbruch aus der Unterdrückung und Ausbeutung darzustellen. ”Vergehen werden die Morgen. Vergehen werden die Ängste. Es wird nicht immer so sein. Du wirst etwas wiederfinden.”

Nono führte ”La fabbrica illuminata” mehrfach in Fabriken auf und diskutierte mit den ArbeiterInnen über das Stück und darüber hinausgehend über die gesellschaftliche Bedeutung der Musik. Die meisten ArbeiterInnen bewerteten das Werk grundlegend positiv, äußerten aber auch in einzelnen Punkten Kritik, die wiederum in eine Auseinandersetzung über den eigenen Umgang mit den Arbeitsbedingungen mündete: ”Ganz direkt wollten die Arbeiter wissen, wie das komponiert sei, wie aus Fabriklärm und Tarifverträgen Musik werden könne. Sie bezogen das, was sie hörten, sofort auf sich. Und dann warfen sie mir vor, die Geräusche in meinem Stück seien bei weitem nicht so stark, wie die, die sie gewöhnt seien. Das fiel ihnen auf. Sie sahen ein, daß sie bisher wie Roboter in die Fabrik gegangen waren und ihre Arbeit getan hatten, ohne weiter darüber nachzudenken. Jetzt wurde ihnen durch den Vergleich plötzlich bewußt, unter welchen akustischen Bedingungen sie arbeiten, und sie begannen zu überlegen, ob das denn so sein müsse und ob es nicht Möglichkeiten gebe, das zu verändern.”(4)

JOHN CAGE UND DIE STILLE

Ausgehend von anarchistischen und zen-buddhistischen Grundgedanken durchbrach der us-amerikanische Komponist John Cage (1912-1992) immer wieder die Regeln und Grenzen der traditionellen Ausdrucksformen. Seit den vierziger Jahren entwickelte er im Gegensatz dazu die Theorie und Praxis einer in sich herrschaftsfreien Musik und beeinflußte damit nachhaltig die Entwicklung der modernen Musik. Cage zufolge hat jede Form des Seins auf einer übergeordneten Ebene letztlich die gleiche Wertigkeit, unabhängig davon, ob sie sich ihrer selbst subjektiv bewußt ist oder nicht. Entsprechend war für Cage jeder Klang, jedes Geräusch und jeder Ton gleichwertig, egal ob er von einer Flöte oder von einem fallenden Stein hervorgerufen wird. Beide haben ihre ursprüngliche Bedeutung in sich selbst. Die traditionelle Musikauffassung akzeptiert diese Eigenständigkeit nicht. Sie ordnet vielmehr einen Ton ständig in einen Zusammenhang mit anderen Tönen ein, bewertet ihn und stellt ihn dabei über oder unter diese. Cage widersetze sich diesem Verständnis, das sich in allen Bereichen der klassischen Musik widerspiegelt, und setzte ihr ein erweitertes Verständnis von Musik bzw. von musikalischer Wahrnehmung entgegen.

Eine entscheidende Phase im Leben von John Cage bildete um 1950 die Auseinandersetzung mit der Stille, die das gesamte spätere Werk des Komponisten prägte. In einem schalldichten Raum an der Harvard University in Cambridge stellte Cage überrascht fest, daß er Geräusche hörte. Der zuständige Techniker erklärte ihm später, daß er verschiedene Abläufe in seinem Körper vernommen hatte. ”Ich hörte, daß Schweigen, Stille, nicht die Abwesenheit von Geräusch war, sondern das absichtslose Funktionieren meines Nervensystems und meines Blutkreislaufes. Ich entdeckte, daß die Stille nicht akustisch ist. Es ist eine Bewußtseinsveränderung, eine Wandlung. Dem habe ich meine Musik gewidmet. Meine Arbeit wurde zu einer Erkundung des Absichtslosen. (...)”(5)

Das veränderte Verständnis der Stille führte zur Komposition von ”4,33”, einem Stück in dem kein Geräusch absichtlich erzeugt wird. Die Aufgabe der beteiligten MusikerInnen ist es, die Bühne zu betreten und sie nach einer Zeitspanne von 4,33 Minuten wieder zu verlassen ohne ein Instrument gespielt zu haben. Die Musik besteht aus den Geräuschen des Publikums, einem Husten, Flüstern oder auch aus Protestrufen, genauso wie beispielsweise aus den Geräuschen einer quietschenden Tür, eines vorbeifahrenden Lastwagens oder eines Regengusses. Einige Jahre nach der Komposition von ”4,33” erklärte Cage in einem Interview, daß er das Stück nicht mehr benötige, da er inzwischen in der Lage sei, es ständig zu hören. ”Die Musik, die mir am liebsten ist und die ich meiner eigenen oder irgendeines anderen vorziehe, ist einfach die, die wir hören, wenn wir ruhig sind.”(6)

Um seinem Ideal einer absichtslosen Musik auch in anderen Kompositionen möglichst nahe zu kommen, arbeitete Cage mehrfach mit dem Zufallsprinzip. Er erreichte damit, daß die Auswahl der Töne nicht nur völlig unabhängig von einem wertenden Aufbau, sondern auch darüber hinausgehend unabhängig vom individuellen Geschmack des Komponisten, sowie von jeglichen psychologischen und traditionellen Zusammenhängen stattfand. Cage verstand dabei den Zufall nicht als etwas völlig beliebiges, sondern im eigentlichen Sinne des Wortes als etwas, das einer Person zufällt. Auch für ein zufälliges Ereignis gibt es immer eine Ursache, dessen Wurzel sich in einem größeren Zusammenhang befindet, auch wenn sie nicht offensichtlich ist.

Für die Komposition von Stücken ohne beabsichtigte Höhepunkte, Reihenfolgen und Wiederholungen nutzte Cage verschiedene Zufallsoperationen, darunter insbesondere das chinesische Orakel I-Ging, dessen zumeist durch Münzwürfe hervorgerufenen Ergebnisse in vorbereitete Notentabellen übertragen wurden. Das auf diese Weise 1951 entstandene Klavierstück ”Music of Changes” gilt inzwischen als ein Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts. Ebenfalls im Sinne der Absichtslosigkeitsetzte setzte Cage bei der Aufführung von ”Imaginary Landscapes No. 4” zwölf Radioapparate ein, die ohne vorherige Kenntnis des Programms eingeschaltet wurden. ”Imaginary Landscapes No. 5” basierte auf der Verwendung von zweiundvierzig beliebig ausgewählten Schallplatten, die jeweils phasenweise überlagert abgespielt wurden, wobei Cage auch in diesem Fall die entsprechenden Zeitverläufe durch Zufallsoperationen ermittelte. Für die Komposition ”Atlas Eclipticalis” nutzte Cage die Konstellation von Sternen auf entsprechenden Karten zur Komposition.

Ein grundlegender Widerspruch in Bezug auf die Verwirklichung einer Musik der Absichtslosigkeit blieb aber zwangsläufig auch in den Stücken von Cage unaufgehoben. Denn selbst wenn die Bestimmung der einzelnen Töne unabhängig von der komponierenden Person stattfindet stattfindet, die Auswahl also absichtslos ist, so bleibt die anfängliche Absicht bestehen, ein Stück zu erstellen. Eine völlig absichtslose Musik kann nur dann entstehen, wenn der Akt der Komposition ein völlig unbewußter ist. Im Grunde besteht sie bereits in den umgebenden Geräuschen und Schwingungen,im Rauschen der Bäume genauso wie in den monotonen Rhythmen von Maschinen oder in den Schwingungen der Atome. Die Gefahr, die den zufallsbedingten Kompositionen zu Grunde lag, wie im übrigen allen vom Zen-Buddhismus beeinflußten Betrachtungen, war die Gefahr einer zu abstrakten und abgehobenen Sichtweise. Eine gleichmütige, gegenüber allem offene und nicht wertende Position führt zu einer passiv akzeptierenden Haltung, die letztlich auch objektives Unrecht nicht angeht sondern duldet. Oftmals wird dabei durch die ausschließliche Konzentration auf den Prozeß der persönlichen Weiterentwicklung die Wechselbeziehung zwischen innerer und äußerer gesellschaftlicher Veränderung ignoriert.

Die Kompositionen und Konzerte von Cage entsprachen zumeist einer vielschichtigen Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten akustischer Ausdrucksformen. So nutzte Cage für die Realisation von ”Variations VII”, das 1966 in einer Halle in New York aufgeführt wurde, Geräuschquellen wie Toaster und Mixer, Impulsgeneratoren, Geigerzähler, Radiogeräte und Fernsehapparate. Zudem waren an den Körpern von vier MitarbeiterInnen Elektroden angebracht, welche die entsprechenden Körperklänge wiedergaben. Hinzu kamen die Geräusche von Plätzen außerhalb der Halle, darunter ein Vogelhaus in einem Zoo, ein Restaurant und ein Busbahnhof, die durch Telefonverbindungen direkt übermittelt wurden. Während der Aufführung konnte sich das Publikum in der Halle frei bewegen und sich dadurch nach Belieben einzelnen Geräuschquellen widmen. ”Beschränke dich auf Geräusche, die während der Vorstellung entstehen (über TV, Radio, Telefon, Mikrofon) / keine schon verarbeiteten Geräusche / Geräusche aus der Luft fangen wie mit einem Netz, vor allem die unhörbaren nicht verloren gehen lassen / ständige Quellen / keine Partitur keine Stimmen / vorhandene Empfänger frei manipulieren / das sonst unhörbare hörbar machen und keine Intention dazwischen schieben / einfach das Hören erleichtern. (...)”(7)

Das Stück ”Roaratorio” ging von James Joyces Roman ”Finnegans Wake” aus. An den von Joyce aufgeführten Orten ließ Cage Tonbandaufnahmen machen, die zusammen mit irischen Volksliedern und neu zusammengesetzten Passagen aus dem Originaltext zu einer Collage verbunden wurden. Alle auftretenden Geräusche wurden dabei gleichbehandelt, wobei deren Position innerhalb des Stückes durch Zufallsoperationen ermittelt wurden. ”Ich wollte eine Musik machen, frei von Melodie und frei von Harmonie und frei von Kontrapunkt - frei von musikalischer Theorie. Ich wollte nicht, daß es Musik im Sinne von Musik wird, sondern ich wollte das es Musik wird im Sinne von Finnegans Wake, daß die Musik unmittelbar daraus hervorgeht.”(8)

Wesentliche Elemente des Werkes von Cage, darunter die Einbeziehung der Stille, des Zufallsprinzips und die gesellschaftspolitische Ausrichtung, beinhaltete beispielhaft die Komposition ”Five Hanau Silence”, die Cage 1992 kurz vor seinem Tod in Zusammenarbeit mit Claus und Wolfgang Sterneck konzipierte. Im Rahmen des Entstehungsprozesses wurden durch Zufallsoperationen fünf Orte in Hanau ausgewählt, an denen es an bestimmten, auf die gleiche Weise festgelegten Tagen und Uhrzeiten zu Tonaufnahmen kam, die später miteinander verbunden wurden. Das akustische Ergebnis erschien zusammen mit einem Buch als Benefiz-Projekt für das Autonome Kulturzentrum Metzgerstraße, einem besetzten Haus in Hanau, dem Cage auch die Komposition widmete.

Der Einfluß von Cage ging weit über den musikalischen Bereich hinaus. So markierte eine 1952 in Black Mountain von Cage initiierte Aufführung den Ausgangspunkt für die Happening-Bewegung der sechziger Jahre: ”Durch die Lektüre von Artaud erfuhren wir von der Idee, daß das Theater nicht auf einem Text basieren muß, daß der Text nicht alle Handlungen vorschreiben muß, so daß sich Klänge, Aktivitäten usw. unabhängig voneinander entfalten können, ohne aufeinander zu verweisen. Weder sollte der Tanz Ausdruck der Musik noch die Musik Ausdruck des Tanzes sein. Beide konnten unabhängig voneinander bestehen. Wir haben diesen Gedanken auf die Poesie, die Malerei usw. und das Publikum ausgeweitet. Die Aufmerksamkeit wurde nicht ausschließlich in eine bestimmte Richtung gelenkt. An einer Wand des Saals wurde ein Film gezeigt, am anderen Ende wurden Dias projiziert. In gewissen Zeitabschnitten, die ich Zeitklammern nannte, konnten die Interpreten innerhalb bestimmter Grenzen machen, was sie wollten. Robert Rauschenberg ließ Musik abspielen. David Tudor spielte Klavier. Merce Cunningham und andere Tänzer bewegten sich durch und um das Publikum herum. Über uns waren Rauschenbergs weiße Bilder aufgehängt. Auf jedem Zuschauersitz befand sich eine Tasse ohne eine Gebrauchsanweisung für das Publikum. Manchmal wurde sie als Aschenbecher benutzt. Die Performance wurde durch eine Art Ritual beendet, indem Kaffee in die Becher gegossen wurde. (...)”(9)

Cage bezeichnete sich selbst als Anarchist, wobei er auf dem Weg zu einer freien Gesellschaft die auf einem ”Netz von sozialen Nützlichkeiten” basiert, immer wieder die Notwendigkeit eines gewaltfreien gesellschaftlichen Wandels betonte, der von einem Prozess innerer Weiterentwicklung ausgeht. In den Kompositionen von Cage kamen dessen gesellschaftliche Vorstellungen nur in Ausnahmefällen auf einer textlichen Ebene zum Ausdruck. Vorrangig zeigte sich beständig im strukturellen Grundaufbau seiner Stücke das Ideal einer herrschaftsfreien Gesellschaft, in der die Möglichkeit einer freien Entfaltung zur Selbstverständlichkeit geworden ist und sich damit auch neue Möglichkeiten der Kreativität eröffnen. Charakteristisch war dabei insbesondere die Offenheit der Kompositionen, die vielfach so konzipiert sind, dass sie bei jeder Aufführung einen völlig neuen Charakter erhalten können. Darüber hinausgehend eröffneten die Stücke in ihrer Gesamtheit immer wieder den Weg zu einer neuen Art von Hörerlebnis bzw. zu einem bewussteren Hören und darüber hinausgehend zu einer bewussteren Wahrnehmung der umgebenden Entwicklungen. Auf diesem Wege entfalten gerade auch die scheinbar unpolitischen Kompositionen von Cage eine eigene tiefgreifende gesellschaftliche Dimension. ”Wir brauchen eine Musik, in der nicht nur die Töne einfach Töne sind, sondern auch die Menschen einfach Menschen, dass heißt keinen Regeln unterworfen, die einer von ihnen aufgestellt hat, selbst wenn es ’der Komponist’ oder ’der Dirigent’ wäre. Bewegungsfreiheit ist die Grundlage dieser neuen Kunst und dieser neuen funktionierenden Gesellschaft mit Menschen, die ohne Anführer und Oberhaupt zusammenleben.”(11)

(1998)

Anmerkungen:
1) Nono, Luigi / Musik und Revolution (1969). In: Stenzl, Jürg (Hrsg.) / Luigi Nono: Texte - Studien zu seiner Musik. (Atlantis). Zürich, 1975.
2) Nono, Luigi / Seminar über die Funktion der Musik heute (1972). In: Stenzl / Nono. (Siehe 1).
3) Luigi Nono / Musik und Resistenza. (1963). In: Stenzl / Nono. (Siehe 1).
4) Aus einem Interview mit Luigi Nono. In: Pauli, Hansjörg (Hrsg.) / Für wenn komponieren Sie eigentlich? (Fischer). Frankfurt am Main, 1971.
5) Cage, John / Autobiographische Selbst(er)findung im echolosen Raum. (1989). In: Neue Zeitschrift für Musik Nr. 5/91. Mainz, 1991.
6) Aus einem Interview mit John Cage. (1966). In: Kostelanetz, Richard (Hrsg.) / John Cage. (Penguin Press). London, 1971.
7) Schöning, Klaus (Hrsg.) / John Cage - Roaratorio. (Athenäum-Verlag). Königstein / Taunus, 1985.
8) John Cage zitiert in: Klüver, Billy / 9 Evenings: Theatre and Engineering. In: Akademie der Künste und Berliner Festspiele GmbH (Hrsg.) / Für Augen und Ohren. (Akademie der Künste). Berlin, 1980.
9) John Cage zitiert in: Kostelanetz, Richard / John Cage im Gespräch. (DuMont). Köln, 1989.
10) Cage, John und Charles, Daniel / Für die Vögel. (1970). (Merve Verlag). Berlin, 1987.
11) Siehe 9).

Vom Autor überarbeiteter Abschnitt aus dem Buch:
Wolfgang Sterneck: Der Kampf um die Träume - Musik und Gesellschaft. (1998).
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