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Claus Sterneck / Claus in Iceland
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Wolfgang Sterneck
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Wolfgang Sterneck:

DIE KÜNSTLICHE REALITÄT
- DIE MEDIEN DER ZUKUNFT
(1998)

- Der Interaktive Eingriff -
- Die Virtuelle Realität -
- Die Kultur des Cybertribes -

Im Bereich der elektronischen Medien vollziehen sich eine Reihe vielfach unterschätzter Entwicklungen, die den Alltag der meisten Menschen in den westlichen Staaten, deren Verhältnis zu gesellschaftlichen Prozessen und deren Verständnis der Wirklichkeit grundlegend verändern werden.

DER INTERAKTIVE EINGRIFF

Die derzeit gegebene Unterteilung in Fernsehapparate, Telefone, verschiedene musik-abspielende Geräte, Videorecorder und Computer wird bald weitgehend der Vergangenheit angehören. Vielmehr werden in absehbarer Zeit diese Geräte durch ein einzelnes ersetzt, das alle Funktionen vereint bzw. auf einer neuen Ebene übernimmt und gleichzeitig vielfältige neue Eingriffsmöglichkeiten bietet. Eine Etappe auf diesem Weg bilden die interaktiven Medien, welche Musik- und FernsehkonsumentInnen, die bisher auf eine passive Rolle festgelegt waren, in Teilbereichen eine aktive Gestaltung der angebotenen Programme ermöglichen.

Ausgehend vom Multimedia-Konzept als Verbindung von verschiedenen Darstellungsformen kommt es im Bereich der Musik seit 1993 zur Veröffentlichung interaktiver Musikproduktionen für Personal Computer. Als Datenträger werden dabei CD-ROMs benutzt, die neben dem Tonmaterial auch visuelle Informationen speichern. Abrufbar sind unter anderem Musikstücke, Videos, Animationen, Filmsequenzen, Fotos, Grafiken und Textbeiträge. Die BenutzerInnen können über die herkömmlichen Funktionen eines Kassettenrecorders oder eines CD-Players, wie dem Abspielen, Stoppen und Spulen, hinausgehend in Abläufe eingreifen und so beispielsweise Musikstücke neu abmischen.

Das Konzept der weltweit ersten interaktiven Musik-CD-ROM, die von der Avantgarde-Rock-Band Residents veröffentlicht wurde, lehnt sich an die sogenannten Freakshows an, deren Attraktion in den Auftritten von Menschen mit körperlichen Mißbildungen oder ungewöhnlichen Eigenschaften lag. Im Zentrum des ausschließlich computergraphisch gestalteten Programms der Residents steht ein Zirkuszelt, in das die BenutzerInnen durch die Bedienung der Computermaus eintreten und dort zwischen mehreren Angeboten wählen können. So erklingen beispielsweise beim Anklicken bestimmter Motive Musikstücke der Gruppe, die graphisch von bizarr wirkenden Musikern vorgetragen werden, und bei anderen Motiven können dokumentarische Text- und Bildinformationen über einzelne Personen abgerufen werden, die bei den Freakshows auftraten.

Die im Bereich der CD-ROM noch immer wegweisende ”Xplora 1” von Peter Gabriel beinhaltet unter anderem die Darstellung von Gabriels persönlicher Entwicklung, seiner Karriere und seinem Engagement für Menschenrechtsorganisationen. Abrufbar sind zudem verschiedene Videos, sowie Informationen zu deren Herstellung, Gestaltung und Inhalt. Einen weiteren Schwerpunkt nimmt die Dokumentation von Musikprojekten ein, die auf Gabriels Label Real World veröffentlicht wurden. Begleitend werden dazu Musikinstrumente aus unterschiedlichen Kulturen beschreibend vorgestellt. Einen Höhepunkt der CD-ROM bildet die Möglichkeit, die Musikstücke Gabriels neu abzumischen oder durch die Verwendung von gespeicherten musikalischen Materials, das durch verschiedene SessionmusikerInnen personifiziert dargestellt wird, neue Stücke zu kreieren. Zwischen den Programmteilen werden Animationssequenzen eingespielt, welche den Ablauf auflockern oder die BenutzerInnen in die Bedienung einweisen sollen.

Auch im Bereich des Fernsehens wird die herkömmliche auf mehreren TV-Kanälen vorgegebene Programmstruktur durch ein interaktives Angebot ersetzt werden. Die KonsumentInnen sind dann in der Lage, sich aus einem riesigen Fundus von Sendungen und Filmen unterschiedlichster Art durch Tastendruck ein beliebiges Programm selbst zusammenzustellen, das jederzeit abgebrochen und neu bestimmt werden kann. So wird ein direkter Zugriff auf spezielle Spielfilme, Aufzeichnungen einzelner Sportveranstaltungen oder Nachrichten zu einem besonderen Thema bestehen. Darüber hinausgehend sind bereits Programme in Arbeit bzw. zum Teil schon realisiert, in deren Rahmen sich die ZuschauerInnen an einzelnen Stellen zwischen verschiedenen Handlungsabläufen eines Spielfilms entscheiden, an Quizsendungen direkt beteiligen oder die in Werbesendungen angebotene Produkte sofort bestellen können.

In den USA gilt der von der Clinton-Regierung und den großen Medienkonzernen vorangetriebene Aufbau einer Glasfaser-Vernetzung des Landes als größtes Investitionsprogramm der neunziger Jahre. Sie soll als sogenannter Information-Super-Highway die Voraussetzungen für die mit dem interaktiven Fernsehen verbundene Übermittlung riesiger Datenströme schaffen. Gleichzeitig schließen sich weltweit führende Medienkonzerne zusammen, um die äußerst hohen Investitionskosten tragen zu können und sich langfristig eine marktbeherrschende Position zu sichern.

Die vorrangige Zielsetzung des interaktiven Fernsehens liegt entsprechend in einer Steigerung der Gewinne der Medienkonzerne. Die neuen Möglichkeiten der Benutzerinnen sind dabei nur ein Mittel zum Zweck. Ausgerichtet an einem Glücksbegriff, der ausschließlich materiell orientiert ist, faßte Gerald Levin, der Vorstandsvorsitzende von Time-Warner, dem weltweit größten Medienkonzern, diese Grundhaltung prägnant zusammen: ”Der Konsument wird sein eigener Programmdirektor. Und davor sollten wir keine Angst haben, wir sollten es begrüßen, denn der Konsument, der soviel Auswahl hat, wird der glücklichste Konsument sein.”(1)

DIE VIRTUELLE REALITÄT

In einem kaum vergleichbaren und bisher meist unterschätzten Maße wird in den kommenden Jahrzehnten die Weiterentwicklung und Durchsetzung des Mediums Cyberspace bzw. der Virtual Reality das Denken und Handeln großer Teile der Bevölkerung in den westlichen Staaten beeinflussen. Langfristig wird es dabei zu tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen kommen, die in ihrer Dimension aus heutiger Sicht nur ansatzweise einzuschätzen sind.

Cyberspace bezeichnet einen dreidimensionalen, durch einen Computer simulierten Raum. Mit Hilfe einer speziellen Ausrüstung, die derzeit aus einer Helmbrille (EyePhone) und einem datenübertragenden Handschuh (DataGlove) oder einem den ganzen Körper umfassenden Anzug (DataSuit) besteht, wird es einer Person ermöglicht, in den künstlichen Raum und damit in eine virtuelle Realität einzutreten und in ihr zu agieren. Durch die reale Bewegungen des Körpers kann es zur Veränderung der Sichtperspektive, zur Berührung simulierter Gegenstände oder zu einer Fortbewegung kommen. Der Computer nimmt jeweils die entsprechenden Informationen auf und setzt sie sofort bildlich um.

Den Begriff Cyberspace prägte der Science-Fiction-Autor William Gibson in seinen 1984 veröffentlichten Roman ”Neuromancer”, der eine zukünftige Gesellschaft beschreibt, in der das Leben der Menschen von virtuellen Realitäten geprägt ist. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre setzte Jaron Lanier, der zuvor Computerspiele konzipiert hatte, die Vorstellungen Gibsons in ersten Ansätzen praktisch um. Inzwischen gehört der Bereich der Virtual Reality in den USA zu den am stärksten von staatlichen und wirtschaftlichen Stellen geförderten Forschungszweigen. Einzelne Programme, die insbesondere auch im Vorfeld des zweiten Golfkriegs von der US-Army eingesetzt wurden, dienen zur Ausbildung von Soldaten. In anderen Fällen werden Vorgänge bei Operationen oder die Schwerelosigkeit im Weltraum simuliert. Vielfach eingesetzt wird die Cyberspace-Technik zudem im Bereich der Architektur und des Designs, wobei sich bereits vor dem Baubeginn geplante Räume und Gebäude virtuell begehen, einrichten oder verändern lassen. Insbesondere in den USA und in Japan kommt es daneben zunehmend zur Gründung von Vergnügungszentren, in denen entsprechende Spielprogramme angeboten werden.

Im Zuge der Optimierung der Bildqualität, der Beschleunigung des Datentransports und der Verbesserung der Empfindungsübertragung wird es in absehbarer Zeit möglich sein, sich beispielsweise in das Mittelalter versetzen zu lassen, um dort märchenhafte Abenteuer zu durchleben, als Mitglied einer Raumschiffcrew imaginäre Planeten zu erkunden oder als Fisch durch einen Ozean zu schwimmen. Ebenso werden in einigen Jahren Programme erhältlich sein, in deren Rahmen sich die BenutzerInnen in der Virtuellen Realität mit simulierten Persönlichkeiten aus der Showbranche unterhalten oder gemeinsam vor einem ebenfalls simulierten Publikum auftreten können. Vielfach werden daneben die zukünftigen Möglichkeiten auf dem Gebiet der Sexualität aufgeführt, zu denen erotische Begegnungen mit einer beliebigen Person gehören, bei der sich individuelle Bedürfnisse und Fantasien ohne Einschränkungen ausleben lassen.

Gemessen an der Schnelligkeit der technischen Entwicklungen wird die Virtuelle Realität in absehbarer Zeit in den westlichen Staaten eine stark zunehmende Verbreitung finden. Dabei werden die faszinierenden Erfahrungs- und Erlebnismöglichkeiten von weitreichenden Veränderungen des Bewußtseins begleitet sein. Langfristig wird es in einem fließenden Prozeß zu einer Neudefinition des Begriffs der Wirklichkeit kommen. Zukünftige Generationen, die mit der Virtuellen Realität aufwachsen und diese als einen selbstverständlichen Teil des Alltags erleben, werden zwangsläufig ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit außerhalb der Virtualität entwickeln und diese auch anders bewerten. Die Entwicklung von Plastikbäumen, die in den Wohnzimmern natürliche Pflanzen ersetzen, über die Tamagotchis, die als virtuelles Spielzeug den Platz von Haustieren einnehmen, bis zur real empfundenen Erlebniswelt des Cyberspace ist in diesem Zusammenhang ein kontinuierlicher und folgerichtiger Prozeß.

In einer Veröffentlichung der VPL Research, einem von Jaron Lanier gegründeten Unternehmen zur Entwicklung und Produktion der Cyberspace-Technologie, heißt es dazu: ”Die Virtuelle Realität ist intersubjektiv und objektiv vorhanden wie die physische Welt, zu gestalten wie ein Kunstwerk und so grenzenlos und unschädlich wie ein Traum. Wenn die Virtuelle Realität um die Jahrhundertwende allgemein verfügbar ist, wird man sie nicht als ein Medium innerhalb der physischen Wirklichkeit verstehen, sondern als zusätzliche Wirklichkeit. Sie erschließt einen neuen Erdteil von Ideen und Möglichkeiten.”(2)

DIE KULTUR DES CYBERTRIBES

Im Zusammenhang mit der Veränderung des Verständnisses der Wirklichkeit wird die gesellschaftliche Dimension der Virtuellen Realität besonders deutlich. Wenn die Erfahrung real bestehender Situationen gegenüber dem Erleben der virtuellen Realität an Bedeutung verliert, dann wird auch die Betroffenheit und das Verantwortungsgefühl gegenüber tatsächlichem Unrecht zumindest abgeschwächt. Die Virtuelle Realität wird so nicht nur zu einem Medium, das den BenutzerInnen neue Welten und Perspektiven erschließt, sondern gleichzeitig zu einem Medium der Ablenkung, der Zerstreuung und letztlich der Manipulation. In einer bemerkenswerten Offenheit formulierte dies Gary Bishop, einer der führenden Computerwissenschaftler in den USA: ”Fernziel der Virtuellen Realität ist es, dem Benutzer die Illusion zu vermitteln, daß die vom Computer geschaffene Welt echt ist.”(3)

Vor diesem Hintergrund kann auch ein im Grunde gegenkultureller Ansatz schnell in sein Gegenteil verkehrt werden, wenn er die Wirkungen der Virtuellen Realität nicht in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang stellt. Dies zeigt ein Konzept Rudy Ruckers, der zu den Herausgebern der wegweisenden Zeitschrift Mondo 2000 gehört, die sich unter anderem mit den Entwicklungen im Bereich der Neuen Medien auseinandersetzt. Die von Rucker beschriebene Strategie der Verweigerung führt letztlich in einen Prozeß der Isolation bzw. des entpolitisierenden Rückzugs und damit zu einer Stabilisierung der Zustände, die er eigentlich ablehnt. Im einzelnen schreibt Rucker: ”Der Weg, den das Big Business geht, ist offensichtlich nicht der beste Weg; er ist rücksichtslos und in keinster Weise wie du ihn wirklich willst. Ich meine, schau was sie im Fernsehen zeigen! Schau was die Regierung mit deinen Steuern macht! Wie können wir es besser machen? Die alte politische Herangehensweise ist, zu versuchen innerhalb des Systems zu arbeiten, um in eine Position zu gelangen, in der Du es besser machen kannst. Du wirst Jahre damit verbringen und am Ende hast Du gar kein Interesse mehr an Veränderungen. Aber jetzt bist du dank der High-Tech in der Lage ihnen den Rücken zuzukehren und es selbst zu machen. Du kannst deine eigene Literatur gestalten, deine eigene Musik, dein eigenes Fernsehen, dein eigenes Leben, und - am wichtigsten von allem - deine eigene Realität.”(4)

Einen vielschichtigeren Ansatz bildet das Konzept des Cybertribes im Sinne eines Grenzen überschreitenden Netzwerks von kleinen gemeinschaftlich ausgerichteten Gruppen. Die technologischen Entwicklungen werden dabei nicht als isolierte Erscheinungen betrachtet, sondern in ihrer Wechselwirkung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen analysiert und angegangen. Zentrales Element ist die Wiederentdeckung und teilweise Neudefinition des Wissens alter Kulturen, das in einen direkten Bezug zu den gegenwärtigen technologischen Entwicklungen gestellt wird. Dies wird im Verständnis von Techno-Parties als Trance-Rituale genauso deutlich wie im Gebrauch von psychedelischen Drogen als Mittel zur Bewußtseinserweiterung oder der Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Cyberspace. Die einzelnen Gruppen des Cybertribes versuchen ihrem Verständnis zufolge die moderne Technologie überall dort zu nutzen, wo sie deren Entfaltung dient, und sich ihr dort zu widersetzen, wo sie vorrangig an den Zielen des Profits und der Manipulation ausgerichtet ist. Grundlegend ist die Abkehr von den Vorgaben der bestehenden Gesellschaftsordnung, der die Entwicklung von Freiräumen entgegengesetzt wird, in denen ein Leben möglich ist, in dessen Mittelpunkt das Streben nach persönlicher Entfaltung und gesellschaftlicher Veränderung steht .

(1998)

Anmerkungen:
1) Gerald M. Levin in einem Interview in der TV-Sendung: Aspekte-Extra - Die Medienrevolution. Zweites Deutsches Fernsehen, 1984.
2) Aus einem Text der VPL Research (1989). Zitiert in: Rheingold, Howard / Virtuelle Welten. (Rowohlt). Reinbeck bei Hamburg, 1992.
3) Englebardt, Stanley / Willkommen in der virtuellen Realität! In: Reader’s Digest 2/94. Stuttgart, 1994.
4) Rucker, Rudy / On the edge of the Pacific. In: Rucker, Rudy, Sirius, R. U. und Queen Mu / Mondo 2000 - A User’s Guide to the New Edge. (Thames and Hudson). London, 1993.

Aus dem Buch:
Wolfgang Sterneck:
Der Kampf um die Träume - Musik und Gesellschaft. (1998).

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