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Wolfgang Sterneck:
DAS AKUSTISCHE MATERIAL
- DIE SOUND CULTURE -
- Zoviet France und das Material -
- Merzbow und der Lärm -
- P16.D4 und die Strukturen -
- Maeror Tri und das Bewußtsein -
Zu den wesentlichen Ergebnissen der avantgardistischen Musikströmungen
des zwanzigsten Jahrhunderts gehört die Einbeziehung des Geräusches
in die Musik. Die Sound Culture knüpft seit den achtziger Jahren
an diese Entwicklung an und versucht sie bis in die Gegenwart mit
erweiterten musikalischen Mitteln fortzuführen. Die Ansätze
sind dabei keineswegs einheitlich, vielmehr stehen vielfältige
Konzepte nebeneinander. So basieren beispielsweise die Veröffentlichungen
von Asmus Tietchens und Kapotte Muziek auf dem Prozeß
des Recyclings im Sinne einer Wiederverwertung von Sound(1),
wobei der Auswahl und der Bearbeitungsweise keine Grenzen gesetzt
sind. Akifumi Nakajima konzentriert sich dagegen im Rahmen seines
Projektes Aube zumeist auf die Geräusche einer Quelle, wie
die einer Glühbirne oder eines Oscillators, um diese dann völlig
zu verfremden und neu zusammenzusetzen. Die Veröffentlichungen
von Merzbow sind in der Regel von mehreren übereinander gelagerten
extrem ausgeprägten Geräuschschichten geprägt, während
bei den meisten Veröffentlichungen von Ios Smolders die Betonung
auf der collagenhaften Arbeit mit konkreten Klängen und Stimmen
liegt.
Für fast alle Projekte der Sound Culture, selbst für
die bekannteren gilt, dass ihre Veröffentlichungen im herkömmlichen
Kunst- und Musikbetrieb kaum wahrgenommen werden. Die entsprechenden
Stücke werden in der Regel nicht im Radio gespielt und weder
in Rockmagazinen noch in Zeitschriften erwähnt, die sich mit
dem Bereich der Neuen Musik beschäftigen. Erhältlich sind
sie meist nur über kleine Underground-Vertriebe oder im Direktversand.
Die Gründe für diesen Zustand liegen insbesondere in der
schweren Zugänglichkeit der Veröffentlichungen, die ein
grundlegendes Interesse oder zumindest eine Offenheit gegenüber
einer Ausdrucksform voraussetzt, die dem gängigen Musikverständnis
völlig widerspricht.
Eine herausragende Rolle innerhalb der Szene nimmt die Kassette
als Medium ein, auch wenn die CD durch die Möglichkeit einer
eigenständigen Bespielung zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die
Kassette ermöglichte es selbstständig Aufnahmen zu vervielfältigen
bzw. zu vertreiben und bildete dadurch die Grundlage zur Entwicklung
einer eigenständigen Szene. Meist erscheinen die Kassetten
in einer geringen Auflage, die nur selten einige hundert Exemplare
übersteigt. Gerade diese Underground-Veröffentlichungen
verdeutlichen jedoch die Vielfalt der Strömungen, auch wenn
neben innovativen Projekten zahlreiche Gruppen bestehen, die im
Grunde nur bereits geebneten Wegen folgen. In der Kassettenkultur
wurzeln auch die Collaboration-Projekte in deren Rahmen sich mehrere
MusikerInnen gegenseitig Aufnahmen zusenden, die dann wechselseitig
bearbeitet werden.
Beispielhaft für die Vielfalt innovativer Projekte innerhalb
der Sound Culture, die kaum ein größeres Publikum finden,
aber unabhängig davon in ihrer Ausrichtung wegweisend sind,
ist die Kassette The 4 Elements - Anthology of Interpretations.
Ausgangspunkt war eine von Frans de Waard in Anlehnung an John Cage
erstellte Graphik, die hauptsächlich aus stilistisch unterschiedlich
ausgefüllten Flächen bestand. Die Graphik wurde dann als
Komposition an verschiedene MusikerInnen geschickt, verbunden mit
der Bitte sie akustisch umzusetzen. Stelle dir vor, was passiert,
wenn eine Partitur so konstruiert ist, dass selbst die Instrumente
und Noten durch Symbole ersetzt werden, die nicht der allgemeinen
Praxis in der Musik entsprechen. Es ist dadurch nicht nur möglich
die Klangfarbe und Dynamik frei zu wählen, sondern auch Instrumente
(oder besser jegliche Klangquelle, welche sich erdenken läßt)
und (in einigen Fällen) die zeitliche Länge, die das Stück
benötigt.(2)
ZOVIET FRANCE UND DAS MATERIAL
Die Veröffentlichungen der englischen Gruppe Zoviet France
fallen schon durch die Gestaltung der Cover ihrer Kassetten, Schallplatten
und CDs aus dem Rahmen des Gewohnten. Anstatt der gewöhnlichen
Papp- und Papierhüllen nutzte die Gruppe zum Teil handbemalte
oder auf andere Weise bearbeitete Materialien wie Aluminiumfolie,
Jutestoff, Dachpappe, Pressspahn und Holz. Die Verwendung ungewöhnlicher
Materialien für die Cover fand eine musikalische Entsprechung
in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Klangquellen. So
wurden beispielsweise gesampelte Stimmen oder traditionelle afrikanische
Gesänge mit Tonbandschleifen von geräuschhaften, pulsierenden
Rhythmen unterlegt. Andere Veröffentlichungen basierten auf
einen sich nur leicht verändernden Grundton oder minimalistischen
perkussiven Klängen, die keine Struktur erkennen ließen.
Für ihre Stücke verwendeten die Mitglieder des Projektes,
das inzwischen nur noch von Ben Ponton weitergeführt wird,
gleichermaßen herkömmliche wie auch selbstgebaute Instrumente,
wobei im Grunde jeder klangerzeugende Gegenstand potentiell einem
Instrument entsprach. Was uns wirklich antreibt ist das Interesse
an Geräuschen und Klängen. Es geht uns nicht darum ein
bestimmtes Instrument besonders gut zu beherrschen, es geht uns
um den Sound als abstraktes rohes Material mit dem gearbeitet werden
kann, um dadurch Musik zu kreieren.(3) Auch wenn der ästhetische
Ansatz der Gruppe deutliche Bezüge zur Konkreten Musik der
späten vierziger Jahre erkennen ließ, verwies die Gruppe
als prägenden Einfluß keineswegs auf experimentelle Strömungen,
sondern führte die Punk-Bewegung auf. Ausgehend vom Prinzip
des Do it yourself hatte Punk aufgezeigt, dass es weder
besonder musikalischer Kenntnisse noch eines teuren technischen
Equipments bedarf um sich musikalisch kreativ zu entfalten.
Als Einzelpersonen hielten sich die Mitglieder von Zoviet France
im Zusammenhang mit ihren Veröffentlichungen betont im Hintergrund.
Es wurde vermieden Namen auf den Covers aufzuführen oder Fotos
der Bandmitglieder abzudrucken. Auch Interviews oder Reaktionen
auf schriftliche Anfragen, die über Bestellungen hinausgingen,
blieben eine seltene Ausnahme. Die Gruppe grenzte sich so vom Starkult
innerhalb der Pop- und Rock-Musik, aber auch von zahlreichen Projekten
aus dem Umfeld der Industrial Music ab, die auf die Vermittlung
eines bestimmten oftmals ideologisch überfrachteten Images
großen Wert legten. Letztlich führte jedoch gerade diese
Grundeinstellung zum Bild einer mysteriösen, geheimnisvollen
Band, welches sicherlich nicht unwesentlich zum Kultstatus beitrug,
den die Gruppe im Verlauf der achtziger Jahre erlangte. Zoviet France
selbst setzten dieses scheinbare Anti-Image werbewirksam in den
Informationsblättern des bandeigenen Labels Charrm ein.
Die ursprüngliche Vorgehensweise von Zoviet France unterteilte
sich in der Regel in zwei Arbeitsschritte. Zuerst improvisierten
die Musiker mit verschiedenen Klangquellen, später kam es dann
zu einer Bearbeitung der entsprechenden Aufnahmen. Einzelne Klangstrukturen
wurden dabei isoliert oder mit anderen verknüpft, die wiederum
zum Teil so verfremdet wurden, dass kaum noch eine Zuordnung zur
ursprünglichen Quelle möglich war. Wir sind inzwischen
im Besitz einer ganzen Kollektion von ethnischen Musikinstrumenten,
selbsthergestellten Instrumenten und Objekten, die wir als Geräuscherzeuger
benutzen können. Dies ist immer der Ausgangspunkt. Wir stellen
ein paar Mikrophone an den Ort den wir für die Aufnahmen ausgewählt
haben. Dann spielen wir einfach drauf los. Wir nehmen ungefähr
zwei bis drei Stunden lang auf, dann mixen wir das Material und
stellen ein Reihe fertiger Aufnahmen zusammen, die vielleicht irgendwann
einmal veröffentlicht werden.(4)
Wichtiger als das fertige Produkt Schallplatte erschien den Musikern
der Entstehungsprozeß. Innerhalb dieser Phase entstand eine
enge Beziehung zwischen den Musikern und dem Material, die von eigenen
für Außenstehende nur schwer nachvollziehbaren Empfindungen
und Kriterien geprägt war. Wir stellen immer wieder fest,
dass wir ohne Konzept mit unserer Arbeit beginnen. Wenn wir dann
aber im Nachhinein den Entstehungsprozeß nocheinmal durchgehen
und uns die Ergebnisse anhören, dann finden wir oftmals viele
kleine Bezüge zu uns persönlich oder zu den Dingen die
uns beschäftigt haben. Manchmal ist es wie eine Botschaft,
die wir an uns selbst in die Zukunft geschickt haben... Es gilt
wohl für eine Reihe von Kunstformen, dass die KünstlerInnen
auf einer rein improvisierenden Basis beginnen, beispielsweise mit
einem völlig leeren Blatt Papier, und einfach schauen was zum
Schluß herauskommt. Am Ende ist es dann möglich an den
Anfang zurückzukehren und etwas herauszuziehen was von Bedeutung
ist.(5)
MERZBOW UND DAS GERÄUSCH
Zu den musikalisch extremsten Erscheinungen des weiten Bereiches
der Sound Culture gehört Merzbow, das Projekt des in Tokio
lebenden Musikers Masami Akita, der bei einigen Aufnahmen und Auftritten
von Reiko A unterstützt wird. Der Name Merzbow ist von Merz
abgeleitet, einem Begriff den Kurt Schwitters für seine im
Dadaismus wurzelnden Arbeiten fand. Ähnlichkeiten zwischen
dadaistischen Techniken und der Musik von Merzbow lassen sich insbesondere
im Prinzip der Collage erkennen, wobei Akita im wesentlichen mit
Geräuschen arbeitet. Ich habe Merzbow 1980 hauptsächlich
gegründet um Musik für Kassetten zu machen. Zuvor war
ich im Bereich improvisierter Musik tätig und benutzte normale
Instrumente, aber dies langweilte mich. Eines Tages setzte ich beim
Spielen nur Feedbacks ein und fand dies so interessant, dass ich
beschloß, nur noch mit puren Geräuschen und ungewöhnlichen
Instrumenten zu arbeiten.(6)
Für seine Aufnahmen nutzt Akita selbstgebaute elektronische
Geräte, Radioapparate und Schlaginstrumente, die unter anderem
aus Abfallprodukten hergestellt wurden. Zumeist kommt es zur Erzeugung
mehrerer Geräuschebenen, die miteinander verbunden werden,
um einen äußerst aggressiv und brutal anmutenden Geräuschteppich
zu bilden. Das klangliche Ergebnis gleicht einer völligen Zerstörung
gängiger musikalischer Strukturen und einem akustischen Angriff
auf die herkömmlichen Hörgewohnheiten. Entsprechend wird
die Musik von Merzbow zumeist als Krach bezeichnet und entsprechend
abgelehnt. Akita läßt dies allerdings unbeeindruckt.
Ich will nicht provozieren, es ist mir ziemlich egal, was
die Leute von mir denken. Es geht mir um eine Auseinandersetzung
mit Lärm auf einer physischen Ebene, so extrem wie möglich.(7)
Ein großer Teil der Einspielungen von Merzbow erschien auf
verschiedenen westeuropäischen und nordamerikanischen Labels.
Vielfach stellte Akita dabei gegen Erstattung der Unkosten Stücke
für verschiedene Kassetten-Compilations zur Verfügung.
Nicht zuletzt drückt sich darin die hohe Bedeutung aus, die
Akita der Kassettenkultur als Gegengewicht zur Musikindustrie zumißt.
Vielfach beeinflußt von Merzbow entstanden in den achtziger
Jahren insbesondere in Japan eine Reihe sogenannter Noise-Projekte,
die zumeist versuchten, sich gegenseitig in der Härte und Aggressivität
ihrer Aufnahmen zu übertreffen, aber nicht selten über
ihre Einfallslosigkeit schnell in musikalischen Sackgassen endeten.
Zahlreiche Cover der Veröffentlichungen Merzbows zeigen sexuelle
Motive. So sind auf dem Cover der Kassette Age of 369
Fotos von einem nur mit einer Tarnkappe bekleideten Mann zu sehen,
dessen Glied erregt ist. Vor ihm steht eine Frau, die an den Armen
und am Hals gefesselt ist, während an ihren Brüsten sind
Saugknöpfe befestigt sind. Ihr Oberkörper ist nach unten
gebeugt, so dass der Mann ihr einen länglichen Gegenstand,
vermutlich einen Vibrator, in die Vagina einführen kann. Soweit
sich der Gesichtsausdruck der Frau erkennen läßt, ist
auch sie erregt.
Akita greift über die Verwendung derartiger Fotos, die zumeist
von ihm selbst erstellt wurden, das Tabu der Sexualität in
der äußerst patriarchal aufgebauten japanischen Gesellschaft
an. Dieses Tabu spiegelt sich insbesondere in den staatlichen Repressionsmaßnahmen
gegen die offene Darstellung der Sexualität in Filmen, Literatur
und Musik, denen allerdings eine vielfältige sexuelle Subkultur
gegenübersteht, die von den maßgeblichen Behörden
geduldet und teilweise auch gefördert wird. Letztlich ist gerade
diese Doppelmoral vielfach ein wesentlicher Grund für die Verhinderung
einer freien sexuellen Entfaltung und für die Entstehung masochistischer
und sadistischer Haltungen.
Die provozierende Auseinandersetzung von Akita mit dieser Situation
ignoriert allerdings die besondere Unterdrückung von Frauen.
Über zahlreiche Covermotive, in denen Frauen auf die Rolle
des passiven Sexobjekts reduziert wird, werden vielmehr die repressiven
patriarchalen Gesellschaftsstrukturen reproduziert, auch wenn diese
in anderer Hinsicht angegriffen werden. Mit diesem widersprüchlichen
Ansatz steht Akita nicht allein. Vielfach fordern Musiker verschiedener
Underground-Szenen eine Enttabuisierung der Sexualität und
versuchen für sich selbst eine individuelle sexuelle Befreiung
zu verwirklichen, was aber nicht selten zu einem unreflektierten
Ausleben der eigenen Bedürfnisse führt. In der Regel geht
diese scheinbare Befreiung zu Lasten der Frauen, die in Texten,
Covermotiven, und Filmen keine eigenständige Rolle mit entsprechenden
Bedürfnissen und Vorstellungen einnehmen, sondern ausschließlich
Objekte männlicher Bedürfnisse und Vorstellungen bleiben.
P16.D4 UND DIE STRUKTUREN
Die Aufnahmen der 1980 erschienen EP Alltag der Mainzer
Gruppe P.D. bestanden aus verfremdeten Geräuschen, die unter
anderem in einer Bahnhofshalle aufgenommen wurden, und mit verzerrten
elektronischen Grundrhythmen unterlegt wurden. Die Stücke erinnerten
an eine surrealistische Sicht- und Hörweise, sowie teilweise
an psychedelisch geprägte Wahrnehmungen. Unabhängig von
derartigen Einschätzungen betonte ein Zitat auf dem Cover der
EP den theoretischen Ausgangspunkt hinsichtlich der Notwendigkeit
der Entwicklung einer neuen zeitgemäßen Musik: Wenn
überhaupt noch eine Musik, dann eine, die stärker
mit den Verkehrs- und Kommunikationsmitteln, dem technischen Display
des modernen Alltags interferiert, die enger mit den Tag-um-Tag-Rhythmen
verzahnt ist als alle vorhergehenden Musiken.(8)
Im gleichen Jahr gründeten Mitglieder von P.D. das Kassettenlabel
Wahrnehmungen, welches später zu Selektion umbenannt wurde
und sich auf die Produktion von Schallplatten und CDs konzentrierte.
Die Gruppe und das Label waren in ihrer Anfangszeit ein Teil der
zu diesem Zeitpunkt äußerst vielfältigen Untergrundszene
in der Bundesrepublik. Vielfach angeregt durch die ursprünglichen
Grundaussagen der Punk-Bewegung entstanden gegen Ende der siebziger
Jahre verschiedene Musikprojekte, die durch ein Netz kleiner Kassetten-
und Plattenlabels strukturell miteinander verbunden waren. Viele
Bands suchten nach neuen Wegen und wandten sich, oftmals von der
Rockmusik ausgehend, experimentellen und avantgardistischen Ausdrucksformen
zu. Nach einer äußerst kreativen Phase kam es jedoch
1982 zu einem entscheidenden Einschnitt. Teile der Szene wurden
unter der Bezeichnung Neue Deutsche Welle (NDW) von der Musikindustrie
kommerziel ausgeschlachtet, darunter bezeichnender Weise auch die
VertreterInnen eines verkaufswirksam aktualisierten Schlagers.
P.D. bzw. nach einer Namensänderung P16.D4 blieben von dieser
Entwicklung weitgehend unberührt, da ihre musikalischen Ausdrucksformen
zu radikal waren, um bei der Industrie auf Interesse zu stoßen.
1982 begann die Gruppe mit der Arbeit an Distant Structures,
einem international ausgerichteten Projekt, das auf der Idee des
Materialaustausches basierte. Insgesamt fünfzehn Gruppen aus
verschiedenen Staaten schickten Aufnahmen an P16.D4, die diese weiterverarbeiteten,
miteinander verknüpften und letztlich in einer neugestalteten
Form veröffentlichten. In ihrer Gesamtheit standen die Arbeiten
von P16.D4 in der Tradition der forschenden Auseinandersetzung mit
akustischen Materialien durch die Vertreter der Musique concrète
und der Elektronischen Musik in den späten vierziger und fünfziger
Jahren. P16.D4 führten deren Versuche mit einem anderen inhaltlichen
Hintergrund weiter, ohne sie wie andere vorgeblich experimentelle
Gruppen mit verbesserten technischen Mitteln nur zu wiederholen.
1986 griffen P16.D4 in Zusammenarbeit mit dem Projekt Swimming
Behaviour Of The Human Infant (S.B.O.T.H.I.) das Prinzip des Materialaustausches
erneut auf, allerdings in einer auf zwei Beteiligte reduzierten
Form. Erneut wurden Töne bearbeitet, in neue Zusammenhänge
gestellt und veränderten Bedeutungen zugeführt. Die Ergebnisse
dieser Zusammenarbeit wurden auf der Doppel-LP Nichts Niemand
Nirgends Nie! veröffentlicht. In einem Beiheft dokumentierten
P16.D4 ausführlich die einzelnen Schritte des Entstehungsprozesses:
1. Materialsammlung. 2. Materialübermittlung. 3.
Auswahl. 4. Bearbeitung (Bildung von Mikrostrukturen). 5. Komposition
(Bildung von Makrostrukturen). Als Beispiele für den
Vorgang der Bearbeitung wurden unter anderem angegeben: Cut
Ups, Richtungsänderung, Geschwindigkeitsänderung, Bandknittern,
Harmonisierung, Over-dubbing...(9) Die Arbeitsvorgänge
unterteilten sich in Phasen, deren Ablauf vorher festgelegt wurde,
in Phasen, bei denen mit dem Mittel des kontrollierten Zufalls gearbeitet
wurde, sowie in Phasen, in denen frei improvisiert wurde.
Wesentlich für das Verständnis der dadurch entstandenen
Kompositionen ist die grundsätzlich ablehnende Haltung von
P16.D4 und S.B.O.T.H.I. gegenüber der populären Musik
in all ihren Ausprägungen bzw. der Bewusstseinsindustrie als
strukturelle Basis von Manipulation und Ablenkung. Pop im
Warenhaus, im Kino, im TV, bei der Arbeit. Die Funktion: Werbung.
Die Kriterien, mit denen die Qualität von Pop gemessen wird:
Pseudokriterien einer Pseudoqualität: Werbung fürs System:
Duldung der Verhältnisse. Die Musiker selbst beabsichtigten
eine Musik zu schaffen, bei der eine distanzlose Identifikation
bzw. eine Flucht in eine Illusionswelt schon strukturell unmöglich
ist. Kein Rhythmus, auf den man tanz-vögeln-marschieren
kann / keine Harmonien als Ausgleich für Emotionsdefizite /
keine Texte zum Mitsingen und Selbstvergessen / keine Möglichkeit
zu beschaulicher Meditation bei Kerzen und Wein.(10)
In einer Überschätzung der eigenen Musik ignorierten
die Musiker allerdings die Möglichkeit, dass auch verhältnismäßig
konventionelle musikalische Ausdrucksformen durch die Vermittlung
entsprechender Inhalte oder Stimmungen in einem konsequenten Sinne
genutzt werden können. Gleichzeitig kann auch eine vermeintliche
Anti-Musik einen verschleiernden und keineswegs zwangsläufig
aufbrechenden Charakter haben. Gerade im Bereich der experimentellen
Musik sind zahlreiche Veröffentlichungen, die stilistisch mit
dem herkömmlichen Musikverständnis brechen, unabhängig
von der ursprünglichen Absicht der MusikerInnen mit einem illusionären
Image verbunden. Die Wahrnehmung und die Wirkung einer Veröffentlichung
kann nur bis zu einer bestimmten Grenze von den MusikerInnen beeinflußt
werden, letztlich entscheidend für die Aufnahme von Musik ist
in einem Prozeß vielschichtiger Wechselwirkungen das Bewusstsein
der HörerInnen.
MAEROR TRI UND DAS BEWUSSTSEIN
Im Zentrum der Veröffentlichungen von Maeror Tri stand die
beständige Auseinandersetzung mit dem menschlichen Bewusstsein.
Ausdrücklich bezeichnete die Gruppe ihre Veröffentlichungen
als Musik für die rechte Seite des Gehirns, die insbesondere
für Gefühle, Kreativität und Intuition verantwortlich
ist, während die linke das rationelle Denken und Handeln steuert.
Unsere Welt ist von seit Jahrtausenden von der linken Hemisphäre
des Gehirns dominiert. Wir gehen von der Theorie aus, dass es notwendig
ist, die rechte Hemisphäre zu stimulieren, um wieder einen
Zustand gleicher Aktivitäten beider Hirnhälften herstellen.
Die Musik von Maeror Tri hat das Ziel zu einem Ausgleich der Aktivitäten
beider Hirnhälften beizutragen. Sie soll wie eine akustische
Vision auf das Unterbewusstsein wirken.(11)
Ein zentrales Element der Stücke von Maeror Tri bildeten verfremdete
und überlagerte Gitarrenklänge. Zum Teil nur unterschwellig
vernehmbar ist ein ständiges Rauschen und Brummen, das allerdings
nie störend wirkte. Auf den Einsatz eines Schlagzeugs bzw.
auf einen grundlegenden Beat wurde völlig verzichtet. Ebenso
vermieden wurde die Verwendung von Texten, da die Gruppe die Musik
an sich als Sprache bzw. deren Charakter letztlich als Botschaft
verstand. Herausragend und in seiner Grundstruktur zugleich beispielhaft
für zahlreiche Veröffentlichungen ist das rund fünfzigminütige
Stück Myein, das von einem Grundkonzept ausgehend
improvisierend eingespielt wurde. Obwohl es sich in seiner Grundstruktur
nicht verändert und keinen erkennbaren Höhepunkt besitzt,
befindet es sich beständig in einem Zustand fließender
Bewegung. Im ursprünglichen Sinne von Ambient Music läßt
es sich als Hintergrundmusik bezeichnen, die jedoch zu weit vom
gängigen Musikverständnis entfernt ist, um eine illusionäre
Wirkung zu entfalten.
Das ehemalige Maeror-Tri-Mitglied Baraka(H) beschreibt die Musik
der Gruppe und ähnlich ausgerichteter Projekte als Archaische
Musik. Deren Zielsetzung liegt weder wie bei musikalisch verwandten
Stilrichtungen in der Vermittlung von inhaltlichen Positionen, noch
in der Erzeugung eines Zustandes der Entspannung. Vielmehr wird
beabsichtigt über die Musik ursprüngliche Klangerfahrungen
anzusprechen, die sich im Unterbewusstsein jedes Menschen befinden.
Davon ausgehend soll ein Verständnis eröffnet werden,
welches natürliche Geräusche wie das Rauschen des Meeres
als eigentliche Musik begreift. In einem ganzheitlichen Sinne kann
es dann zu einem bewussten Hören und Wahrnehmen kommen. Tiefere
Emotionen, tieferes Empfinden beim Hören als bei herkömmlicher
Musik: bis zur Essenz, dem ursprünglichen
gehen. - Archaisch und natürlich klingen, somit die ewige Verbundenheit
mit der Natur ausdrückend. Wir selbst sind Teil der Natur,
der Urkraft. - Archaische Musik: Aktivierung des ursprünglichen,
unbedarften, auch intentionalen Hörempfindens.
- Schaffung eines eigenen Kosmos, einer ureigenen Sprache der Musik.(12)
Mit Drone Records gründete Baraka(H) 1993 ein Schallplattenlabel,
welches sich in seiner Ausrichtung völlig gegen die vorherrschenden
Entwicklungen im Musikgeschäft stellt. Drone versteht sich
ausdrücklich als unkommerziell und veröffentlicht Singles
mit Aufnahmen von Projekten wie Aube, Bee Queen, Big City Orchestra
und Para-Noise-Terminal, die zumeist nur innerhalb der Kassetten-Szene
oder der Sound Culture einem interessierten Publikum bekannt sind.
Bezeichnend sind die Plattencover, die von den MusikerInnen in Handarbeit
selbst gestaltet werden und so jede Schallplatte zu einem Unikat
machen. In der Tradition von Projekten wie Zoviet France oder der
kalifornischen Band Caroliner sind die Cover bemalt, bestehen aus
völlig unüblichen Materialien oder sind mit Gegenständen
beklebt.
Wie die Stücke von Maeror Tri sollen auch die Veröffentlichungen
auf Drone betontermaßen keinen unterhaltenden Charakter haben.
Vielmehr sollen sie zu einer Auseinandersetzung mit neuartigen experimentellen
Ausdrucksformen führen, die unterschwellig eine Bewusstseinsveränderung
einleiten können. Manchmal scheint es mir, dass die elektronische
Revolution im Endeffekt dazu führt, dass die Leute wieder hören
lernen. Man kann sich mit nie gehörten Klangwelten umgeben
und lernt so auch wieder den ursprünglichen, den echten
Naturgeräuschen das Gehör zu öffnen. So kann gerade
durch die experimentelle Musik eine Sensibilisierung der Sinne erfolgen,
die nachhaltig wirkt.(13)
Anmerkungen:
(1) Kapotte Muziek / Kapotte Muziek is all about recycling and nothing
else. In: Vital US 3. Lowell, 1993.
(2) Aus dem Begleittext von Frans de Waard zur Kassette: The 4 Elements.
(Korm Plastics). 1988.
(3) Aus einem Interview mit Zoviet France. In: Network News - Deep
Sea Issue. Newcastle (England), 1990.
(4) Siehe 3).
(5) Aus einem Interview mit Zoviet France. In: EST No. 2. London,
1991.
(6) Aus einem Interview mit Masami Akita. In: RRReport. Lowell (USA),
1990.
(7) Aus einem Gespräch des Autors mit Masami Akita und Reiko
A am 6.11.1992 in Frankfurt am Main.
(8) Aus dem Covertext zur EP: P.D. / Alltag. (Eigenproduktion).
1990.
(9) Aus dem Begleitheft zur DLP: S.B.O.T.H.I. & P16.D4 / Nichts
Niemand Nirgends Nie. (Selektion). 1985.
(10) Siehe 9).
(11) Aus dem Begleittext Power for the right side of the brain zur CD: Maeror Tri / Language of flames and sound. (Old Europe Cafe).
1996.
(12) Aus einem Brief von Baraka(H) an den Autor. Dezember 1996.
(13) Aus einen Interview mit Baraka(H). In: Glasnost Nr. 43. Freiburg,
1994.
Vom Autor überarbeiteter Abschnitt aus dem Buch:
Wolfgang Sterneck:
Der Kampf um die Träume - Musik und Gesellschaft. (1998).
contact@sterneck.net
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