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STADTINDIANER:
- Stadtindianer / Kriegserklärung
- Geromino: Die Autonomia-Bewegung
- Marek Szepan: Skalpierte Stadtindianer
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KRIEGSERKLÄRUNG DER STADTINDIANER VON ROM
Wir haben lange um das Totem unseres Wahnsinns getanzt. Wir haben
rund um das Feuer unserer Menschheit getanzt und damit gespielt
...
Wir haben getanzt und gekämpft - mit von Regen durchnäßten
Gesichtern und vom Wind zerzausten Haaren. Doch die Zeit des großen
Regens ist vorbei....
10, 100, 1.000 Hände haben sich überall geballt, um das
Kriegsbeil zu erheben! Die Zeit der Sonne und der tausend Farben
ist angebrochen ...
Es ist die Zeit, dass das Volk der Menschen in die grünen Täler
hinabsteigt, um sich die Welt zurückzuholen, die ihm gehört.
Die Truppen der Bleichgesichter mit ihren blauen Jacken haben all
das zerstört, was einst Leben war, sie haben mit Stahl und
Beton den Atem der Natur erstickt. Sie haben eine Wüste des
Todes geschaffen und haben sie "Fortschritt" genannt.
Aber das Volk der Menschen hat zurückgefunden zu sich selbst,
zu seiner Kraft, seiner Freude und zu seinem Willen zu siegen, und
lauter denn je schreit es mit Freude und Verzweiflung, mit Liebe
und Hass: Krieg!!!
1) Freiheit für Paolo und Daddo und alle gefangenen Genossen
2) Abschaffung der Jugendknäste (als ein Schritt zur Abschaffung
aller Knäste), Abschaffung der Ausweisungsbestimmungen
3) Bereitstellung aller leerstehenden Häuser zur Nutzung als
Kommunikationszenten für die Jugendlichen, um anders als in
Familien leben zu können
4) Öffentliche Finanzierung der alternativen Release-Zentren
(zur Entwöhnung von Heroin) und aller selbstverwalteten kulturellen
Initiativen
5) Allgemeine Herabsetzung der Preise für Kinos, Theater und
alle kulturellen Initiativen auf eine von der Jugendbewegung bestimmte
Summe
6) Völlige Freigabe von Marihuana und LSD, freier Gebrauch
und Missbrauch, Vertrieb und Kultivierung dieser Drogen mit einem
Monopol der Jugendbewegung darüber
7) Entlohnung des jugendlichen Faulseins
8) Ein Quadratmeter Grün für jeden Menschen und jedes
Tier
9) Herabsetzung des Volljährigkeitsalters auf alle Kinder,
die - wenn auch auf allen Vieren - von zuhause abhauen können
und wollen
10) Sofortige Freilassung aller in Häusern und Käfigen
gefangenen Tiere
11) Sofortige Schließung und Abriss des Zoos, freie Rückkehr
aller gefangenen Tiere in ihre Heimatländer
12) Abriss des Vaterlandsaltars (auf dem Piazza Venezia in Rom),
Ersetzung desselben mit Pflanzen und einem Teich als Platz für
alle Tiere die sich dieser Initiative anschliessen.
13) Alternativer Gebrauch der Herkules-Flugzeuge; kostenloser Flug
für Jugendliche zum Machu-Picchu in Peru, um dort das Fest
der Sonne zu feiern
14) Historisch-moralisch-philosophische Wiederaneignung des Archeopterix
(erster Reptil-Vogel, der in der frühen Morgendämmerung
der "Kultur" aufgetreten ist).
Die Versammlung des Volkes der Menschen schlägt vor, ab sofort
in allen Stadtteilen Anti-Famillien einzuführen, um die Jugendlichen
und besonders die jungen Mädchen der patriarchalen Tyrannei
zu entreißen.
Die Stadtindianer rufen die ganze kreative Jugend auf, ein Happening
der Jugendbewegung vorzubereiten, um den Beginn des Frühlings
zu feiern !
(1977)
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Geromino:
Entstehung und Zerfall der 77er Autonomia-Bewegung
Im Jahre 1977 entwickelte sich in Italien eine zweite massenhafte
Bewegung der Autonomia. Sie bezog sich jedoch in ihren Subjekten
nicht mehr auf die Fabrikarbeiter, sondern auf das marginale Proletariat
von Studenten, jugendlichen Arbeitslosen, prekär Beschäftigten
und alten politischen Kernen der Autonomia aus den 60er Jahren.
Im Unterschied zur »alten« autonomen Klassenbewegung,
die auf einen Bruch zwischen der Basis der traditionellen Arbeiterorganisationen
zu deren Führung abzielte, war diese Bewegung zugleich strikt
antiinstitutionell und antikommunistisch gegen die Politik der PCI
gerichtet. Die neue Bewegung drückte sich im Jahre 1977 in
einer ungeheuren Intensität von kreativen und militanten Formen
des Protests und Widerstands gegen den Staat aus. Zentren der Revolte
waren die Universitäten und die norditalienischen Großstädte.
Die Bewegung bestand im wesentlichen aus zwei Strömungen: Ein
Zweig war die »Autonomia creativa«, sozusagen die Spontis,
die gegen die herkömmlichen Formen der Machtkämpfe mit
dem Staat waren und konventionelle Organisationsstrukturen sowie
kontinuierliche politische Arbeit ablehnten und den Straßenkampf
mehr als Happening denn als politische Aktion begriffen. Daneben
existierten auch weiterhin die Gruppen der »Autonomia operaia«,
die versuchten, die verschiedenen Teile der Bewegung zu organisieren,
um die spontane Revolte zu einem kontinuierlichen Angriff auf das
kapitalistische System umzuwandeln.
Innerhalb der »Autonomia creativa« fanden sich vor allem
zwei wesentliche Ausdrucksformen: die »Circoli del proletario
giovanile« und die »Indiani Metropolitani«. Erstere
entwickelten sich seit 1975 als spontane und lockere Organisation
von Jugendlichen in den am meisten von der ökonomischen Marginalisierung
betroffenen Vororten der Großstädte. Sie propagierten
die Politik der unmittelbaren Wiederaneignung des eigenen Lebens
(Politica di riappropriazone), die im scharfen Widerspruch zu der
von der PCI damals unterstützten Austeritätspolitik, des
Programms der moralischen Strenge und des ökonomischen Verzichts,
stand. Dagegen setzten die »Circoli« ihre eigene Praxis,
die u.a. darin bestand, massenhaft in Supermärkten »proletarisch«
einzukaufen, d.h. zu plündern, Jugendzentren als kollektiven
Treffpunkt zu besetzen, die Zerstörung der eigenen sozialen
Strukturen durch Heroinkonsum zu bekämpfen, indem man Heroindealer
überfiel und verprügelte, sich den kostenlosen Eintritt
zu Musikkonzerten zu verschaffen, sowie umsonst die öffentlichen
Verkehrsmittel und Kinos zu benutzen. Über das Selbstverständnis
der »Circoli« nachfolgend ein Zitat aus dem »Communiqué
1« zur Stürmung des Umbria Jazz Festivals im Sommer 1975:
»Die Waffe der Musik kann die Musik der Waffen nicht ersetzen.
Umbria Jazz. Die Musik als Spektakel ist der Versuch, jedes Moment
der Kollektivierung auf Frei/Zeit zu reduzieren. Zwischen den Organisatoren
des Konzerts und den Massen der proletarischen Jugendlichen gibt
es einen objektiven Widerspruch; das ist nicht einfach eine Frage
der Leitung, es geht nicht nur darum, wer an der Musik verdient.
Das Problem ist nicht, selbstverwaltete Konzerte zu machen. Das
Problem ist, daß uns das Konzert die Musik als Spektakel vorsetzt,
wie uns die ritualisierten Demos und Kundgebungen die Politik als
Spektakel vorsetzen. Wir müssen uns in jedem Fall auf Zuschauer,
auf Publikum reduzieren. In diesen Momenten der Konzentration dagegen
können Spannungen explodieren, die die Bedürfnisse und
Potenzen des jugendlichen Proletariats repräsentieren«
(A/traverso, Juni 75).
Aus den Reihen dieser Autonomiaströmung wird im Dezember 1976
auch der Sturm von mehreren tausend proletarischen Jugendlichen
auf die Mailänder Scala organisiert, der mit einer Plünderung
von Luxusgeschäften in der Innenstadt endet. Die »Indiani
Metropolitani« wirkten hauptsächlich im Umkreis der Universitätsstädte
und drückten in ihren Gesten ihre Verbundenheit mit »Naturvölkern«
als radikale Negation der großstädtischen und kapitalistischen
Lebensweise aus.
In der Autonomiarevolte 77 waren sie vor allem die Träger
der alternativen Werte (Ökologie, alternative Ernährung,
sexuelle Befreiung), die jegliche instrumentelle Vernunft ablehnten
und u.a. das befreiende Potential des Haschischkonsums propagierten.
Aus dem »Manifest der Indiani Metropolitani«
von Rom: »10, 100, 1.000 Hände haben sich überall
geballt, um das Kriegsbeil zu erheben! Die Zeit der Sonne und der
tausend Farben ist angebrochen ... Es ist die Zeit, daß das
Volk der Menschen in die grünen Täler hinabsteigt, um
sich die Welt zurückzuholen, die ihm gehört. Die Truppen
der Bleichgesichter mit ihren blauen Jacken haben all das zerstört,
was einst Leben war, sie haben mit Stahl und Beton den Atem der
Natur erstickt. Sie haben eine Wüste des Todes geschaffen und
haben sie Fortschritt genannt. Aber das Volk der Menschen
hat zurückgefunden zu sich selbst, zu seiner Kraft, seiner
Freude und zu seinem Willen zu siegen, und lauter denn je schreit
es mit Freude und Verzweiflung, mit Liebe und Haß: Krieg!!!«
(»Lotta Continua«, 1.3.1977).
Die »Autonomia creativa« fand zu jener Zeit ihren reichhaltigen
Ausdruck in hunderten von alternativen Presseorganen und über
50 linksradikalen Radiostationen, von denen »Radio Alice«
in Bologna das bekannteste wurde. Es gab eine Vielfalt von Wandmalereien,
Straßentheatern und Massenfestivals. Zentraler politischer
Inhalt dieser Strömung ist die Politik der Freiräume,
in denen die alltäglichen Bedürfnisse politisiert und
in kollektiven und selbstbestimmten Formen ausgelebt werden. Insbesondere
die Figur des »Stadtindianers« wird 1977 in der bundesdeutschen
Spontiszene begeistert aufgenommen.
Demgegenüber versucht der andere Hauptstrang der 77er-Bewegung,
die »Autonomia operaia organizzata«, weniger die Flucht
aus dem System als vielmehr dessen bedingungslose Zerstörung
zu praktizieren. Sie setzte sich aus einer Vielzahl von locker koordinierten
Komitees, Zirkeln und Kollektiven zusammen, in denen auch die Reste
der verschiedenen 69er-Basiskomitees aus den italienischen Fabriken
mitarbeiteten, so z.B. auch viele Mitglieder von »Potere operaio«,
die sich im Jahre 1973 in die Bewegung außerhalb der Fabriken
aufgelöst hatten.
Im Frühjahr 1977 explodierte die neue Bewegung in einem ungeahnten
Ausmaß: Ausgelöst durch die Abschaffung einiger Feiertage
sowie durch ein geplantes Gesetz zur Universitätsreform, begannen
Studenten in Palermo, Catania und Neapel mit Universitätsbesetzungen.
Die Bewegung breitete sich schnell über ganz Italien aus. Nach
einem bewaffneten faschistischen Überfall auf eine Vollversammlung
der Universität in Rom am 1. Februar kam es am Tag danach zu
einer Demonstration von tausenden von Studenten, die von den Bullen
mit Pistolen und Maschinengewehren angegriffen wurde. Erstmals machten
dabei auch Demonstranten von der Schußwaffe Gebrauch. Bei
den folgenden militanten Autonomendemonstrationen kam es in Italien
immer häufiger zur Anwendung von Schußwaffen seitens
der Demonstranten; die »P 38« wurde zu einem Erkennungsmerkmal
der Bewegung. Nach der Demonstration in Rom wurde die Universität
von den Studenten besetzt. Dort kam es auch am 17. Februar zu einem
Ereignis, das symbolisch den Bruch zwischen der organisierten Arbeiterklasse
und der 77er-Bewegung der italienischen Autonomia demonstrierte:
Bei dem Versuch des Vorsitzenden der kommunistischen Gewerkschaft,
Lama, in der Universität eine Rede zu den Problemen der Studenten
zu halten, wird dieser von vier- bis fünftausend StudentInnen
und Jugendlichen empfangen, die sein Ebenbild als große Puppe
schwenken und ihn mit Spottversen überhäufen. Zwischen
dem herbeigekarrten gewerkschaftlich-kommunistischen Ordnungsdienst
und den StudentInnen kam es dabei während der Rede Lamas zu
Schlägereien, als dieser an die Adresse der Studenten die klassischen
Angriffe der »Wohlfahrtsideologie« und des »Parasitismus
auf Kosten der produktiven Arbeit« richtete, die angesichts
der realen sozialen Situation der Studenten von diesen als glatter
Hohn empfunden wurden. Den autonomen Studenten gelang es im Laufe
einer Massenprügelei, den »superbonzo« Lama vom
Universitätsgelände zu vertreiben, was von ihnen als »la
Piazza Statuto delloperaio sociale« gefeiert wurde.
In der Folgezeit überstürzten sich die Ereignisse. Nachdem
es in Bologna, in der Musterstadt einer kommunistischen Kommunalverwaltung,
schon den ganzen Winter zu Hausbesetzungen, Plünderungen von
Restaurants, Besetzungen von Kinos usw. gekommen war, eskalierte
die Situation am 11. März. Während eines Bulleneinsatzes
auf dem Unicampus wurde ein Autonomer erschossen. Daraufhin kam
es zu tagelangen schweren Straßenschlachten, in deren Verlauf
eine Waffenhandlung geplündert wurde. Es gelang den StudentInnen
in der verwinkelten Altstadt Bolognas mit Barrikaden drei Tage lang
ein bullenfreies Gebiet zu halten, bevor das Gelände mit Militäreinheiten
geräumt werden konnte.
Am 12. März kam es in Rom zu einer Demonstration von über
50.000 Menschen gegen die Verurteilung eines Anarchisten. Diese
Demonstration eskalierte in eine der größten Straßenschlachten,
die die italienische Hauptstadt jemals erlebt hatte. Dabei praktizierten
Gruppen aus dem Strang der »Autonomia operaia organizzata«
das von ihnen zuvor propagierte »neue Niveau der Auseinandersetzung«,
die bewaffnete Aktion. Während der Demonstration wurden zwei
Waffengeschäfte geplündert, unzählige Geschäfte,
Cafés und Hotels verwüstet, hunderte von Autos und viele
Busse umgestürzt und verbrannt. Büros und Zeitungen der
regierenden Christdemokratischen Partei (DC) wurden mit Benzinbomben
angegriffen. Der Ablauf dieser Demonstration markierte jedoch einen
Wendepunkt in der weiteren Entwicklung der italienischen Autonomia.
Viele DemonstrationsteilnehmerInnen fühlten sich durch die
Dimension der Militanz überrumpelt und funktionalisiert, dies
umso mehr, als der Großteil von ihnen dem militärischen
Auftreten der Polizei und deren Racheaktionen nach Ende der Demonstration
relativ unvorbereitet und hilflos gegenüberstand.
Die Entwicklung spitzte sich schließlich am 14. Mai bei einer
Demonstration in Mailand zu. Gruppen von mit Knarren bewaffneten
Jugendlichen griffen die Bullen an und töteten einen. Die Ereignisse
führen zu einer verschärften Isolation der organisierten
»Autonomia operaia« innerhalb der italienischen Linken.
Mit einer zunehmenden Entsolidarisierung und einer massiven staatlichen
Repression ging zugleich ein Zerfall des kreativen Strangs der Autonomia
einher, der sich, durch staatliche Zugeständnisse begünstigt,
in die Drogensubkultur der Großstädte, auf das Land oder
in die Radikale Partei (in etwa vergleichbar mit den Grünen)
zurückzog. Unter maßgeblicher Mithilfe der PCI, die in
ihren Zeitungen die Namen von »Rädelsführern«
der Autonomia abdruckte, wurden bis zum Sommer 1977 über 300
Autonome vom italienischen Staat in den Knast gesteckt, »Radio
Alice« in Bologna wurde verboten und dessen Sendeeinrichtungen
beschlagnahmt. Die staatliche Repression richtete sich gezielt gegen
die Strukturen der Bewegung, wie z.B. Buchläden, Verlage, Zeitungsredaktionen
usw. Vorwand aller Maßnahmen war die Konstruktion einer »subversiven
Vereinigung«, die ein Komplott gegen den italienischen Staat
vorbereitet haben sollte.
Weite Teile der Aktivisten aus dem Umfeld der »Autonomia operaia«
versuchten, den Zerfall der Bewegung durch eine Steigerung der klandestinen
Massengewalt (»Guerilla diffusa«) aufzuhalten und sahen
nur noch in der militärischen Konfrontation mit dem Staatsapparat
die Möglichkeit zur Entfaltung eines revolutionären Prozesses.
»Ganze Vollversammlungen gehen in den Untergrund.« Diese
Linie konnte jedoch die schwindende soziale Verankerung der politischen
Bewegungen nicht mehr ersetzen. Am 7. April 1979 kam es schließlich
zu hunderten von Verhaftungen (darunter auch Negri) gegen die »Autonomia
operaia«. Von den 4.000 politischen Gefangenen des Jahres
1981 in Italien gehörten weit über 1.000 dieser Gruppierung
an. Die Ereignisse vom 7. April 1979 wurden so zu einer strategischen
Niederlage der italienischen »Autonomia operaia«, von
der sie sich in den 80er Jahren nicht wieder erholt hat.
Dessen ungeachtet spielte und spielt die Rezeption des operaistischen
Theorieansatzes für die bundesdeutsche autonome Linke in ihrem
eigenen Selbstverständnis eine große Rolle. Bis zum Ende
der 70er Jahre wurden so gut wie alle wichtigen Schriften aus dieser
marxistischen Strömung ins Deutsche übersetzt. Die Schwierigkeiten
der Vermittlung dieses Ansatzes in eine politische Praxis von linksradikalen
Gruppierungen in der BRD werden in den nachfolgenden Kapiteln immer
wieder von neuem gestreift.
Aus: Geronimo / Feuer und Flamme - Zur Geschichte und Gegenwart
der Autonomen. (ID-Verlag,
1990/95.)
Online-Version.
www.nadir.org/nadir/archiv/ Diverses/pdfs/geronimo_flamme.pdf
http://www.idverlag.com
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Marek Szepan:
Skalpierte Stadtindianer
Italien 1977: Die autonome Bewegung erreicht ihren Höhepunkt
- und zerfällt
"1977 war nicht wie 1968. 1968 war Protest. 1977 war radikal
anders. Aus diesem Grund definiert die offizielle Version 1968 als
gut und 1977 als schlecht; in der Tat, 1968 wurde reintegriert,
während 1977 vernichtet wurde. Aus diesem Grund wird 1977,
im Gegensatz zu 1968, niemals ein Jahr einfacher Zelebrierung sein
können." (Moroni/Balestrini: Die goldene Horde)
Italien 1977: Besetzte Schulen und Universitäten, Häuser
und Fabriken. Massenmilitanz und Straßenkampf bei Demonstrationen,
Kundgebungen, Feten. Plünderungen, Gratisfahrten in öffentlichen
Verkehrsmitteln, Kino und Konzerte ohne Eintrittskarte. Kollektive,
Komitees, autonome Versammlungen. Spontis, Stadtindianer und eine
starke autonome Frauenbewegung neben Relikten konventioneller Organisationsstrukturen
der "alten" autonomen Massenbewegung.
Dieses Sammelsurium an Personen, Gruppen und Positionen steht für
die zweite Phase der italienischen autonomen Bewegung, die 1977
ihren Höhepunkt und Niedergang gleichermaßen erlebte.
Hervorgegangen aus Resten der "alten" autonomen Bewegung
und ergänzt durch Schüler und Studenten, prekär Beschäftigte
und jugendliche Arbeitslose wirkten seit Mitte 1975 diese neuen
sozialen und politischen Akteure dem Verfall alter autonomer Strukturen
(Potere Operaio, Lotta Continua) entgegen. Hatten sich die Operaisten
seit Mitte der sechziger Jahre noch hauptsächlich auf den un-
oder minderqualifizierten Massenarbeiter (operaio massa) bezogen,
wurden nun die noch stärker marginalisierten Schichten der
Bevölkerung zu selbstbewußten Subjekten der Revolte.
Auszüge aus dem 77er Programm der Circoli del proletariato
giovanile (Zirkel des jugendlichen Proletariats) verdeutlichen dies:
"Wir feiern Feste, weil wir uns vergnügen, zusammen sein
wollen, wir wollen das Recht auf Leben, Glück und ein anderes
Zusammensein durchsetzen. Wir besetzen Gebäude, weil wir Treffpunkte
haben wollen. (...) Wir machen Rundgänge, um die Lehrlinge
vor der Überausbeutung zu schützen, um das Dealen mit
Heroin zu verhindern, um die Faschisten zu vertreiben. (...) Wir
kämpfen und streiken in den Fabriken, weil wir weniger und
besser arbeiten wollen, das heißt mit Macht in den Händen.
Dies sind die konkreten Dinge, die unsere Bewegung ausdrückt,
das ist unser Wunsch nach Kommunismus, das heißt Brot und
Rosen."
Diese Politik der unmittelbaren Wiederaneignung des eigenen Lebens
(politica di riappropriazone) stellt vor allem durch die Forderung
nach weniger Lohnarbeit, bzw. ihrer Abschaffung, einen Bruch zur
alten autonomen Bewegung und deren Fixierung auf Arbeits- und Fabrikkämpfe
dar. Erst recht erfuhr die kommunistische Partei Italiens (PCI),
integraler Bestandteil des italienischen Staates und programmatisch
auf den Arbeitsfetisch sowie vor allem auf die Belange der Facharbeiter
festgelegt, einen Wandel vom punktuellen Bündnispartner der
Bewegung zum politischen Gegner. Mit Folgen: PCI-regierte Städte
und Stadtteile setzten den administrativen und polizeilichen Repressionsapparat
gezielt gegen die als "Provokateure", "Faschisten"
und "Chaoten" bezeichnete linksradikale Jugendbewegung
ein. Demonstranten wurden von mit Maschinenpistolen ausgerüsteten
Carabinieri erschossen, andere Demonstranten schossen scharf zurück.
Rom, Mailand, Bologna und andere Städte wurden zeitweilig militärisch
besetzt. Der von der Regierung verhängte Ausnahmezustand erhielt
die Zustimmung der PCI und führte zur Kriminalisierung linker
und linksradikaler Strukturen und zur Inhaftierung von über
300 Autonomen allein zwischen Frühjahr und Sommer 1977.
Die zunehmende Militarisierung der Auseinandersetzung, von einigen
linksradikalen Gruppen durch die Steigerung klandestiner Militanz
mitgetragen, beschleunigte den ohnehin stattfindenden Zerfallsprozeß
der autonomen Bewegung:Zunehmende Isolation der einzelnen Gruppen,
das Fehlen legaler Treffpunkte und Kommunikationsmittel, die Nichtbeachtung
feministischer Kritik am traditionellen Rollenverhalten mancher
autonomer Kämpfer und die Flucht vieler Jugendlicher in Drogensubkulturen
der Großstädte oder esoterische Landkommunen waren schon
länger zu bemerken und wurden durch die Militarisierung des
Politischen nicht gerade gebremst. Anstatt dem als Antikapitalismus
getarnten Antiamerikanismus von großen Teilen der Bewegung
mit einer verstärkten Rezeption alter und neuer operaistischer
Theorie zu begegnen, propagierten einige linksradikale Organisationen
eine Kritik der Erscheinungsebene des Kapitalismus, verbunden mit
allerlei Naturmystik: "Wir wollen Grün und daß außer
dem 1. Mai auch der erste Frühlingstag ein nationaler Feiertag
ist, weil uns die Natur gefällt, die Tiere, die Berge ..."
(Circoli, 1977). Oder Esoterik-Kitsch der folgenden Art: "Es
ist Zeit, daß das Volk der Menschen in die grünen Täler
hinabsteigt, um sich die Welt zurückzuholen, die ihm gehört"
(Indiani Metropolitani, 1977).
Als es im April 1979 erneut zu Hunderten von Verhaftungen wegen
"Zugehörigkeit zu einer bewaffneten Bande" kam (darunter
auch Antonio Negri), hatte die autonome Bewegung Italiens dem nichts
mehr entgegenzusetzen.
Marek Szepan
Aus: Jungle World 34/1997.
www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/34/18a.htm
/www.jungle-world.com
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