Kamla:
LASST ALLE FRAUEN HEXEN SEIN
Fortschritt ist ein viel gebrauchter und mißbrauchter Begriff,
denn er wird zumeist auf seine wirtschaftlichen und materiellen
Seiten reduziert: höhere Produktionsraten, höhere Gewinnspannen,
höheres Einkommen. Der alleinige Maßstab dieses Fortschritts
ist der Profit. In diesem Sinne steht Fortschritt für Ausbeutung,
Ungerechtigkeit und Ungleichheit.
Dieser Fortschritt führt jedoch nicht nur zu einemKonkurrenzkampf
unter den Menschen. Er hat auch dazu geführt, daß auch
die Natur wird als Ware angesehen wird, die hemmungslos ausgebeutet
werden kann. Wenn beispielsweise ein Landgebiet nicht auf irgendeine
Weise profitabel genutzt werden kann, wird es als wertlos bezeichnet.
Gleichzeitig werden ganze Waldgebiete abgeholzt, wodurch das Öko-System
schwerwiegend geschädigt wird.
Der sogenannte Fortschritt hat die Produktion von Autos, die unsere
Luft verseuchen, vervielfacht. Er hat dazu geführt, daß
unsere Seen, Flüsse und Meere durch Chemikalien vergiftet werden.
Er hat unsere Nahrung mit Düngemitteln und Pestiziden vergiftet.
Der Fortschrittswahn ist besessen von Gigantismus, der immer größere
Fabriken, höhere Staudämme und fettere Profite fordert.
Dieser Fortschritt hat auch zu einer starken Ausbreitung von elenden
Slums geführt. 20 bis 25% aller Familien in Städten
wie Bangkok, Manila, Kalkutta und Jakarta leben in Slums. Die Mächtigen
haben häufig wiederholt, daß das größte globale
Problem die wachsende Bevölkerung in den armen Ländern
sei. Dies ist zweifellos ein Problem, aber Überbevölkerung
ist nicht der Grund für die Armut. Die Armen sind für
die Fehlentwicklung nicht verantwortlich. Die Wahrheit ist, daß
die größte Bedrohung für die Menschen überall
der übermäßige Konsum der reichen Welt ist. Eine
Person in den USA verbraucht durchschnittlich hundert bis zweihundert
mal mehr Ressourcen als eine Person in Indien. Es gab eine Zeit,
in der für den Verbrauch produziert wurde. Jetzt aber müssen
die Menschen in den westlichen Staaten widersinniger Weise immer
mehr verbrauchen, um die Produktion in Gang zu halten.
Zudem vernichtet dieser Fortschritt die Vielfalt, zerstört
lokale Kulturen und tötet die selbstständige Kreativität.
Hollywood und seine nationalen Entsprechungen entscheiden was Kultur
ist und wer unsere Helden sind. McDonalds, Coca-Cola, Sony, Superman
- sie alle sind universell geworden, sie zerstören die regionale
Ernährung, die regionale Ausdrucksformen, die regionalen Werte.
Die Zeitungen und Fernsehanstalten haben angefangen für uns
zu denken. Die Menschen sind immer weniger selbstbestimmt, immer
weniger menschlich. Ebenso können kleine Gemeinden, kleine
Nationen immer weniger über sich selbst bestimmen. Sie sind
eingezwängt und stranguliert von Weltmarkt und Weltbank, von
den Machtspielen der reichen Nationen. Die Möglichkeiten Entscheidungen
zu fällen, konzentrieren sich auf immer weniger Menschen. Wirtschaftliche
Entscheidungen werden in riesigen Konzernen, politische Entscheidungen
von kleine Gruppen in den Machtzentren getroffen.
Dieser Fortschritt wurde von Männern erzwungen und verwaltet,
er ist durch und durch patriarchal aufgebaut. Die Atombomben symbolisieren
die männliche Macht genauso wie der Autowahn oder das Recht
des Stärkeren. Es gibt keinen Platz für Gefühl und
Stille. Es gibt keine Balance zwischen der industriellen Produktion
und der Natur. Wir haben verlernt die Schönheit der natürlichen
Umwelt zu erfahren.
Dieser Fortschritt unterdrückt uns Frauen in einer besonderen
Weise. Noch immer entscheiden in vielen Ländern die Regierungen,
welche Ausbildung unsere Kinder erhalten, wieviele Kinder wir haben
dürfen, ob wir abtreiben können oder nicht. Beispielhaft
für die Unterdrückung der Frau in vielen gesellschaftlichen
Bereichen ist die Verleugnung ihrer Rolle in der Landwirtschaft.
Frauen waren diejenigen, die vor tausenden Jahren als erste das
Land bebauten. Noch heute produzieren in den meisten Ländern
die Frauen über die Hälfte der Lebensmittel und bearbeiten
das Land. Dennoch ist in fast allen Sprachen die allgemeine Bezeichnung
für Bauern und Bäuerinnen männlich.
Der Fortschritt des patriarchalen System hat eine Gesellschaft
geschaffen, in der alles zu einer Ware reduziert wird. Unsere Beziehungen
sind von wirtschaftlichen Werten bestimmt. Die Einschätzung
eines Menschen orientiert sich meist nicht an seinem Charakter,
sondern an seiner ökonomischen Rolle, daß heißt
an seinem Arbeitsplatz und seinen finanziellen Möglichkeiten.
Durch die perverse Verbindung der weiblichen Sexualität mit
Konsumwaren werden die Profitraten gesteigert, während gleichzeitig
den Frauen eingeredet wird, sie müßten alle möglichen
Produkte kaufen, um attraktiv zu sein. Die leichtbekleidete Frau,
die in einem Werbespot auf der Motorhaube eines Autos sitzt, wird
zum Objekt. Ihr wird ihre Identität geraubt.
Können wir so etwas Fortschritt nennen? Wir sagen: Nein! So
eine Entwicklung ist nicht tragbar. Er führt in vielerlei Hinsicht
zu nichts anderem als Zerstörung. Deshalb müssen wir uns
widersetzen und nach einer neuen Vision suchen, nach neuen Wegen
des Fortschritts, neuen Formen des Zusammenlebens damit wir unser
Wissen für die Gesellschaft und die Natur einsetzen können.
Der Feminismus hilft uns hierbei ein Stück weiter. Er versucht
die Schranken niederzureißen, welche eigentlich miteinander
verbundene Bereiche künstlich voneinander trennen, den persönlichen
vom politischen, den emotionalen vom rationalen, den geistigen vom
körperlichen. Die feministische Bewegung beschäftigt sich
nicht nur mit den Angelegenheiten einiger weniger Frauen, auch wendet
sich der Feminismus nicht generell gegen Männer, sondern vielmehr
gegen jegliche unterdrückende Struktur. Er bringt den Prozeß
des Infragestellens in jede Wohnung und in jede Beziehung. Er wendet
sich gegen Hierarchien, sei es innerhalb oder außerhalb der
Familie. Er wendet sich gegen das Patriarchat, gegen den Kapitalismus,
gegen sozialistische Diktaturen, fundamentalistische Religionen
- und gegen die Tyrannei der Ehemänner.
Der Feminismus wendet sich auch gegen Frauen, die unterdrücken,
und er wendet sich gegen die Unterdrückung in uns selbst. Auch
ein Mann kann ein Feminist sein, genauso wie eine Frau eine Patriarchin
sein kann. Für uns sind die Überzeugungen und das Verhalten
der Menschen das wesentliche und nicht ihre Biologie.
Wir Frauen entdecken endlich unsere eigenen Stimmen, unsere Bedürfnisse,
unsere Stellung. Wir widersetzen uns den männlichen Machtprinzipien,
der männlichen Wissenschaft und dem männlichen Fortschritt.
Wir gewinnen langsam das Selbstvertrauen, darauf zu bestehen, daß
wir eine veränderte Rolle einnehmen. Wir haben keine Angst
mehr vor Verfolgungen und den Flüchen, die auf die Feministinnen
niedergehen. Wenn Stärke und Selbstbestimmung bedeutet eine
Hexe zu sein, dann laßt alle Frauen Hexen sein.
Es ist nicht möglich in dieser Gesellschaft unabhängig
und selbstbestimmt zu leben, ohne sich ständig in einem Zustand
des Konfliktes und des Kampfes zu befinden. Wenn dieser Kampf jedoch
nicht von einem sich entwickelnden Bewußtsein der Wurzeln
dieser Probleme begleitet wird, dann wird unser Einsatz vergeblich
sein.
Wir merken, daß der Feminismus uns die Möglichkeiten
zeigt, unsere Wurzeln zu erkennen, neue Arten von Freiräumen
zu finden, nach neuen Rhythmen zu suchen und neue Träume zu
träumen. Er versucht ein radikal verändertes Konzept von
Fortschritt und Entwicklung in alle Aspekte unseres Lebens zu integrieren.
Wir wollen einen Fortschritt, in der nicht nur die Fragen, sondern
auch die Antworten von den betroffenen Menschen kommen, basierend
auf den Erfahrungen des Alltags. Einen Fortschritt, der an den grundlegenden
Bedürfnissen und an der Erhaltung des Lebens orientiert ist.
In Erinnerung an Sarial Haliliva (1908-1928).
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