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Hans A. Pestalozzi:
AUFRUF ZUR REBELLION
Sie behaupten, sie wollten den Frieden - und bereiten den Krieg
vor.
Sie behaupten, sie müßten den Krieg vorbereiten, um
den Frieden zu schützen, und verschweigen, daß diese
Formel noch immer zu Krieg geführt hat.
Sie behaupten, sie wollten unsere Souveränität schützen,
und machen uns vom Ausland abhängig.
Sie behaupten, sie wollten das Volk schützen, und provozieren
seine Vernichtung.
Sie behaupten, vor dem Regime in Moskau auf der Hut sein zu müssen,
und liefern uns dem Regime in Washington aus.
Sie behaupten heute, gegen die kommunistische Weltrevolution kämpfen
zu müssen, und behaupten morgen, das Sowjetsystem sei am Ende.
Sie behaupten, mit dem Bundesgrenzschutz die Grenzen der Republik
verteidigen zu müssen, und setzen ihn gegen die eigenen Bürger
ein.
Sie behaupten, uns vor totalitären Staaten schützen zu
müssen, und arbeiten mit faschistischen Regimes zusammen.
Sie werfen uns »Zerstörung des politischen Friedens« vor, und meinen Polizeieinsatz gegen Andersdenkende.
Sie predigen Dialog, und drohen mit dem Rücktritt.
Sie geben sich demokratisch, und verbieten die Teilnahme an Demonstrationen.
Sie loben den Schutz der Minderheiten, und berufen sich auf eine
angebliche schweigende Mehrheit. Sie pochen auf die Ganzheit der
Demokratie, und schließen die Randgruppen aus.
Sie werfen uns vor, kritiklos irgendwelchen Drahtziehern zu folgen,
und knieten zwölf Jahre vor dem »Führer«.
Sie nennen uns Chaoten, Kriminelle, Asoziale, und machen aus der
Polizei brutale Schlägerbanden.
Sie geben vor, den Rechtsstaat schützen zu müssen, und
verhaften unsere Nachkommen gleich massenhaft.
Sie berufen sich auf internationale Abmachungen, und knallen uns
mit chemischen Waffen nieder, die im Kriegsfall verboten sind.
Sie warnen uns vor der Militarisierung der Jugend im Osten, und
führen bei uns den Wehrkundeunterricht ein.»Der Mensch
ist böse.« So lautete die richtige Antwort auf die Frage
im Religionsunterricht, ob der Mensch gut oder böse sei. Sie
war Anlaß zu meiner ersten tiefgreifenden Rebellion. Ich befand
mich mitten in einer unerhört positiven Aufbruchstimmung, trotz
oder vielleicht gerade wegen der Pubertätsprobleme, die alles
Bisherige in Frage stellten. Ich glaubte an meine Zukunft, das Kriegsende
öffnete die Welt; Kameradschaften und Freundschaften schufen
Beziehungen, die endlich die Elternbindung zu lösen erlaubten;
die fordernde Sexualität versprach bisher Unvorstellbares.
Und nun die Ohrfeige von »höchster Instanz«, denn
der Religionslehrer, der Pfarrer verkörperte doch- so war uns
beigebracht worden - die höchste Autorität, das A und
O unseres Lebens: »Du bist böse, deine Freundinnen und
Freunde sind böse, deine Mitmenschen sind böse!«
Ich begann mich zum erstenmal grundsätzlich zu verweigern.
Vom Verstand her konnte ich es wohl noch kaum erfassen. Das Gefühl
sagte mir: Auf dieser Basis wirst du nie ein eigenes Leben gestalten
können. Wenn diese Voraussetzung stimmt, ist es unmöglich,
gemeinsam mit deinen Mitmenschen eine Zukunft aufzubauen. Du wirst
immer von der Autorität abhängig sein, die darüber
befindet, wie du dich zu verhalten hast, um »gut« zu
werden. Ein Leben in Angst, böse zu bleiben? Ein Leben unter
dem Zwang, den Anforderungen der »Autorität« gerecht
werden zu müssen? Ein Leben in Schuldgefühlen, zu wenig
zu leisten, nicht zu genügen, immer wieder zu versagen? Angst
und Schuld als Basis meines Lebens?
Was ich intuitiv nicht erfassen konnte: Schuldgefühle und
Angst sind in dieser unserer Gesellschaft nötig; ihre Prinzipien,
Strukturen und Abhängigkeiten wären sonst nicht möglich.
Angst ist nötig, um »freiwillig« zu gehorchen.
Angst ist Voraussetzung der »freiwilligen« Unterordnung.
Schuldgefühle bringen mir bei, daß Eltern und Lehrer
mich erziehen müssen. Schuldgefühle lassen mich Strafe
akzeptieren. Schuldgefühle machen mich abhängig von der
»Autorität«.
»Du willst nicht mehr böse sein? Komm, wir sagen dir,
wie du dich zu verhalten hast!«
Es ist so. Es gibt Leute, die daran interessiert sind, daß
ich Angst habe. Es gibt Leute, die ohne meine Schuldgefühle
nicht sein könnten. Es sind die Leute, die an der Macht sind.
Es dauerte lange, sehr lange, bis ich merkte, daß dieses
Prinzip, wogegen ich mich im Bereich der Religion erfolgreich zur
Wehr gesetzt hatte, unser ganzes Leben beherrscht.
»Du bist krank! Du bist unzufrieden! Du vernachlässigst
deine Kinder! Du bist unfähig, deine Freizeit zu gestalten!
Glaube nicht, du könntest einfach so gesund und zufrieden sein.
Wir, die Wirtschaft, sagen dir, was du zu schlucken, zu schlürfen,
anzuschaffen, den Kindern zu kaufen hast.«
Eine Gesellschaft, die ihren »Erfolg« einzig und allein
daran mißt, wieviel Ware in einem Jahr hergestellt und wieviele
Dienstleistungen erbracht wurden, ohne nach dem Sinn zu fragen,
muß von einem negativen Lebensprinzip ausgehen. Zufrieden
sein, glücklich sein, gesund sein sind in einer solchen Gesellschaft
wertlos: Positive Zustände erhöhen das Bruttosozialprodukt
nicht. Unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft können in
ihrer heutigen Konzeption nur überleben, wenn wir unglücklich,
unzufrieden, krank, unfähig sind. Wenn Wirtschaft darin besteht,
negative Zustände zu beseitigen, und wenn die gleiche Wirtschaft
behauptet, ständig weiter wachsen zu müssen, dann kann
sie nur ein Interesse haben: die negativen Zustände zu verstärken.
Und dies tut sie mit Erfolg. Gleichzeitig gibt sie uns aber vor,
die Menschen glücklich zu machen. »Es geht euch ja so
gut wie noch nie!« Damit hat sie uns bei der Angst: »Paßt
auf! Wenn ihr euch nicht so verhaltet. wie wir es sagen, verliert
ihr euren Wohlstand - das, was euer Glück ausmacht!«
Auf die Politik übertragen: Jede Politik, die in den letzten
zehn bis zwanzig Jahren betrieben wurde, hat das Gegenteil dessen
erreicht, was sie anstrebte.
Die Verkehrspolitik hat dazu geführt, daß der Stau auf
unseren Straßen noch nie so groß und das Defizit der
Bundesbahn noch nie so hoch war.
Die Landwirtschaftspolitik hat dazu geführt, daß Hunderttausende
von Bauern liquidiert wurden, wir in unserer Nahrungsmittelversorgung
völlig vom Ausland abhängig geworden sind und unsere Böden
zerstört werden.
Entwicklungspolitik hat dazu geführt, daß die armen Länder
immer ärmer wurden und die reichen Länder immer reicher.
Die Mittelstandspolitik hat das Geschäft der Großen
gemacht. Die Großen wurden immer größer, die Kleinen
wurden liquidiert.
Friedenspolitik hat dazu geführt, daß wir dem Krieg
so nahe sind wie nie mehr seit dem Zweiten Weltkrieg.
Anders ausgedrückt: Kein einziges Problem, welches vor zehn
oder zwanzig Jahren bestanden hat, ist einer Lösung auch nur
einen Schritt näher gebracht worden. Im Gegenteil: Die Probleme
haben sich verschärft. Aber alle Politiker und alle Regierungen
haben nur das eine Ziel: genauso weiterzumachen wie bisher oder
die bisherigen Trends sogar nach Möglichkeit noch zu verstärken.
Und auch dafür brauchen sie unsere Angst. Angst vor dem Neuen,
das nötig wäre - keine Experimente! Also Angst vor der
Zukunft.
Wie soll in einer solchen Gesellschaft Frieden etwas anderes sein
können als Abwesenheit von Krieg? Ist da nicht eine derartig
perverse Einstellung selbstverständlich, die behauptet, je
mehr man rüste, desto mehr sichere man den Frieden? Wenn für
die Herren dieser Gesellschaft positive Zustände nicht nur
nicht denkbar, sondern die negativen Zustände für die
Aufrechterhaltung der eigenen Macht notwendig sind, wie sollten
sie da zugeben können, daß Frieden eben nicht Abwehr
des Krieges durch Militär ist, sondern Kriegsbereitschaft und
Militär den Frieden gefährden und verhindern?
»Wir brauchen wieder einen Krieg, damit unsere Wirtschaft
wieder einen Auftrag hat; sie muß von vorne beginnen können«,
sagte mir kürzlich ein Exponent des deutschen Managements.
Es ist so: In einer friedlichen Gesellschaft kann diese Wirtschaft
nicht so weitermachen.
Wir brauchen die Drohung mit dem Krieg. Eine friedliche Gesellschaft
macht keine Geschäfte mit Waffen.
Wir brauchen die Angst vor dem Krieg. Eine friedliche Gesellschaft
braucht keine »Autoritäten«.
Wir brauchen die Angst vor dem Feind. Eine friedliche Gesellschaft
kann auf Machtstrukturen verzichten.
Wir brauchen die Angst, unseren Lebensstandard verlieren zu können.
Eine friedliche Gesellschaft braucht keine Ausbeutung der Natur,
der Dritten Welt, der kommenden Generationen.
»Wir brauchen deine Angst. Denn nur so können wir dir
einreden, es müsse so sein, wie es heute ist!«Die Antwort
jenes Pfarrers bleibt mir unvergeßlich, dem die Frage gestellt
wurde, was er vom Motto »lieber rot als tot« halte.
Er stellte die Gegenfrage: »Was wäre Ihnen lieber: Wenn
Ihre Tochter zerfetzt in einem Bombentrichter bei Bonn liegen oder
friedlich in ihrer Wohnstube in Leipzig sitzen würde?«
Was ist denn das eigentlich, das mehr wert sein soll als unser
Leben? Mehr wert als das Leben unserer Kinder? Mehr wert als Leben
auf diesem Planeten überhaupt? Oder nach Haig: Mehr wert als
der Frieden? Was ist denn das eigentlich, das wir verteidigen wollen
oder sollen? Was ist dieser Wert, der mehr wert sein soll als alles
übrige?
Sie sagen: Die Freiheit.
Freiheit auf der Basis von Angst und Schuldgefühlen? Wessen
Freiheit? Welche Freiheit?
Ist es die Freiheit, für die unsere Väter, deren wir
in Ehrfurcht zu gedenken haben, gefallen sind - wie es ein Spitzenpolitiker
kürzlich formulierte?
Oder ist es die Freiheit, nach der Pfeife Washingtons tanzen zu
müssen?
Die Freiheit, aufrüsten zu müssen, Waffen herstellen
zu müssen, Waffen expor tieren zu müssen?
Oder ist es die Freiheit des Konsumenten,
zwischen dem Einkaufszentrum Ost und dem Einkaufszentrum West wählen
zu dürfen;zwischen Waschmitteln mit und ohne blaue Kügelchen
wählen zu dürfen;
zwischen Fertigmahlzeiten von Maggi und solchen von Knorr wählen
zu dürfen?
Oder die Freiheit
des Arbeiters, zwischen einem Fließband bei Opel und einem
solchen bei VW wählen zu können;
der Kassiererin, zwischen einer Supermarktkasse bei Coop und einer
solchen bei Edeka wählen zu können?
des Computerfachmanns, zwischen IBM und Siemens wählen zu können?
Oder die Freiheit des Lehrers, sich kritiklos unterzuordnen oder
entlassen zu werden?
Die Freiheit des Journalisten, auf die Inserenten Rücksicht
zu nehmen oder entlassen zu werden?
Die Freiheit des Pfarrers, dem Bischof zu gehorchen oder entlassen
zu werden?
Die Freiheit des Staatsangestellten, die eigene politische Überzeugung
zu verheimlichen oder entlassen zu werden? Die Freiheit des Politikers,
sich dem Fraktionszwang zu fugen oder ausgeschlossen zu werden?
Die Freiheit, am Wochenende mit dem Wagen möglichst weit wegfahren
zu können, weil man es an seinem Wohnort nicht mehr aushält?
Die Freiheit, im Urlaub vom Hochhaus im Vorort von Frankfurt in
ein Hochhaus an der Costa Brava übersiedeln zu können?
Die Freiheit, eine Zweitwohnung haben zu können, weil die Verhältnisse
in der Erstwohnung unerträglich sind?
Die Freiheit, ohne Geschwindigkeitsbegrenzung über die Autobahn
rasen zu können,
keine Sicherheitsgurte tragen zu müssen?
tausend Kinder im Jahr umzubringen, um mobil zu sein?
Ist es diese Freiheit, für die wir unser Leben hergeben sollen?
Eine Freiheit, die gar keime echten Alternativen offenläßt?
»Du kannst ja gehen, wenn es dir nicht paßt«,
als Inhalt unserer Freiheit?
Oder eine Freiheit, die in Rücksichtslosigkeit, Schrankenlosigkeit,
Bindungslosgkeit besteht - also eine rein negative Freiheit?
Wäre echte, positive Freiheit, die nicht nach dem »frei
wovon«, sondern »frei wofür« fragt, nicht
etwas ganz anderes? Eine Freiheit, die die Möglichkeit gibt,
gestalten zu können? Und ist es nicht genau diese positive
Freiheit, die uns in unserer Gesellschaft verwehrt wird? Weil die
alles dominierende Freiheit die negative Freiheit der Wirtschaft
ist; die negative Freiheit des Kapitals, sich dorthin begeben zu
können, wo es am meisten rentiert? Ohne Rücksicht auf
den Menschen? Ohne Rücksicht auf die Möglichkeit, Zukunft
gestalten zu können?
Wenn es unseren Politikern und Militärs ernst wäre mit
der Behauptung, es gehe in der weltweiten Auseinandersetzung um
die Wahrung unserer Freiheit, weshalb tun dann gerade sie ihr möglichstes,
um die echte positive Freiheit immer weiter abzubauen: Überwachung,
Computerkontrolle, Radikalenerlasse, Berufsverbote, Verstärkung
der Polizei, Schließung von Freiräumen, die Diffamierung
all jener, die Neues zu schaffen versuchen?
Würde nicht die wichtigste Verteidigungsmaßnahme darin
bestehen, endlich jene Freiheit zu schaffen, die mich erst fähig
macht, mich einem äußeren Feind zu widersetzen, d. h.,
innerlich autonom zu werden?
Sie sagen: Die Demokratie!
Welche Demokratie? Wo haben wir denn überhaupt Demokratie?
Demokratie in der Schule, in der Kirche, in der Wissenschaft, an
der Universität, in der Familie, im Sport, in der Wirtschaft,
in der Bundeswehr? Wo in all diesen Bereichen haben wir wenigstens
das demokratische Bekenntnis? Beschränkt sich denn unsere Demokratie
nicht einzig und allein auf einen Teilbereich der staatlichen Entscheidungsfindung?
Und besteht die Möglichkeit des einzelnen Bürgers nicht
nur darin, alle vier Jahre zwischen einigen Damen und Herren wählen
zu können? Und wenn ich da - weil es keine echten Alternativen
gibt - nur noch zwischen Pest und Cholera wählen kann, will
ich dann nicht lieber gesund bleiben?
Wäre Demokratie nicht etwas völlig anderes als das Ablaufen
von bestimmten staatlichen Institutionen? Eine Demokratie, die auch
durch einen »Feind«, eine »Besetzung« nicht
zu zerstören ist? Weil sie in meiner inneren Einstellung und
meinem Verhalten den Mitmenschen gegenüber bestehen würde?
Aber weshalb werden nun ausgerechnet jene, die es ernst meinen mit
dieser echten Demokratie und die versuchen, demokratische Prinzipien
auf andere Lebensbereiche wie Schule, Wirtschaft, Kirche zu übertragen,
als Feinde unserer Demokratie bezeichnet? Geht es also gar nicht
um Demokratie, sondern um die autoritären Machtstrukturen,
die sich so leicht unter dem Mäntelchen Demokratie verbergen
lassen? Sind es nicht eben diese Strukturen, die uns für einen
totalitären Feind anfällig machen? Er muß ja lediglich
die »führenden Persönlichkeiten« auswechseln.
Wäre dann nicht die wichtigste Verteidigungsmaßnahme
die Veränderung der heutigen Strukturen, die Verwirklichung
echter Demokratie? Dies ist aber nicht möglich, solange das
Prinzip Militär unsere Gesellschaft beherrscht.
Sie sagen: Unseren Wohlstand.
Das Leben hergeben für zwei statt einem Kotelett pro Woche;
für einen Wagen' der 250 statt nur 120 Sachen fährt; für
den Urlaub an der Costa Brava, statt in den Bayerischen Alpen; für
frisches Gemüse aus der Sahel-Zone im Winter, statt der eigenen
Kartoffeln; für das geheizte Chlor-Schwimmbad im Keller, statt
des sauberen Freibades im Sommer?
Das Leben hergeben für einen Wohlstand, der die Natur ausbeutet,
die Dritte Welt ausbeutet, die kommenden Generationen ausbeutet?
Und welches ist das größere Versagen, das größere
Verbrechen einer Gesellschaft: Von Zeit zu Zeit nicht all jene Waren
zu haben, die wir angeblich in sinnloser Überfülle haben
müssen, oder jedes Jahr Tausende von Tonnen Nahrungsmittel
zu vernichten, während Millionen Menschen verhungern?
Sie sagen: Die soziale Marktwirtschaft.
Das Leben hergeben für ein wirtschaftliches Instrument? Um
die Marktwirtschaft auszuschalten; braucht es die Russen nicht.
Die Unternehmer mit ihren Kartellen, Fusionen, Verflechtungen, Bankabhängigkeiten
sorgen selbst dafür.
Sie sagen: Unsere Kultur.
Micky Maus, Frankfurter Skyline, Hamburger, Autobahnen, Konservendosen,
Konservenmusik, zwanzig Fernsehprogramme, Bild-Zeitung, Ketch-up,
Musicals, Cowboy-Filme, Peep-Shows, Blue-Jeans, Miss World, Mr.
Universum. Mein Leben wert?
Sie sagen: Das Staatsgebiet.
Die Konsequenz ist die Neutronenbombe. Alles intakt; das Volk versaftet.
Sie sagen: Das Volk, uns selbst.
Wieviel Prozent: 90%, 50%, 25% Überlebende? Oder reichen die
5%, die uns in Aussicht gestellt werden?
Wäre es für uns - wenn Demokratie, Freiheit, Kultur usw.
uns ausmachen - nicht viel wichtiger, an deren Verwirklichung zu
arbeiten und diese Begriffe mit echtem Inhalt, mit Leben zu erfüllen,
statt, wie das Kaninchen, gebannt auf die imaginäre Schlange
zu starren, die all diese unsere angeblichen Errungenschaften verschlingen
will?
Ist es nicht ein alter Trick der Mächtigen, einen äußeren
Feind aufzubauen, um die eigenen Konflikte unterdrücken und
die eigene Unfähigkeit verbergen zu können?
Sollten die Fragen nicht ganz anders lauten:
Was ist das, was ich erhalten will?
Was macht mich aus?
Was würde machen, daß ich ich sein kann, wir wir sein
können?
Was wollen wir mit unserer Gesellschaft?
Was wäre Gemeinschaft, in der ich mich wohl fühle?
Was ist meine, unsere Eigenart, die ich schützen will?
Wodurch ist all dies 'bedroht'?
Ist es vielleicht die Gefahr eines ökologischen Kollapses?
Weshalb kämpfen wir dann nicht in erster Linie gegen all jene
Manager, Gewerkschaftsführer und Politiker, für die das
Bruttosozialprodukt noch immer wichtiger ist als unsere Umwelt?
Ist es vielleicht die Verschärfung des Nord-Süd-Konflikts?
Warum kämpfen wir dann nicht in erster Linie gegen jene, die
behaupten, wir müßten weiter wachsen - womöglich,
um der Dritten Welt helfen zu können -, während dieses
Wachstum zu Lasten der Dritten Welt geht?
Ist es vielleicht die Groß-Technologie, die uns immer abhängiger
vom Ausland macht? Die immer weniger Leuten immer mehr Macht über
immer mehr Menschen verleiht? Die unsere Gesellschaft für Störungen
immer noch anfälliger macht? Warum kämpfen wir dann nicht
in erster Linie gegen AKWs, Autobahnen, Großindustrien?
Ist es vielleicht der Anspruch der multinationalen Unternehmen,
die Nationalstaaten zu überwinden und die menschliche Gesellschaft
der Zukunft zu gestalten? Weshalb kämpfen wir dann nicht in
erster Linie gegen jene, für die der Profit der alleinige Steuerungsfaktor
für unsere Zukunft sein soll?
Ist es vielleicht die Entwicklung unserer Wirtschaft, die mit ihrer
Konzentration, ihrer Zentralisation, ihren Großstrukturen,
ihren Verflechtungen, ihren Abhängigkeiten Demokratie unmöglich
macht? Weshalb kämpfen wir nicht in erster Linie gegen jene,
die uns - nach ihren eigenen Aussagen - immer mehr von sogenannten
Sach-- und Systemzwängen abhängig machen?
Ist es vielleicht die Vermassung durch Standardisierung, Normierung,
Massenproduktion, Massenkommunikation? Weshalb kämpfen wir
dann nicht in erster Linie gegen jene, die behaupten, Sozialismus
sei die Unterdrückung des Individuums, während sie selber
einerseits den genormten Menschen verlangen, andererseits durch
das Konkurrenz-Prinzip Egoisten, Egozentriker, Narzißten züchten?
Oder ist all das, was unsere Eigenart ausmacht, das wir schützen
wollen, einzig und allein, oder doch vordringlich, durch die russischen
Atomraketen und Panzerarmeen bedroht?
Wer setzt denn diese kuriosen Prioritäten?
Was wäre ein Problemen gelöst, wenn die Sowjetunion kapitalistisch
würde?
Was will eigentlich die Friedensbewegung?
Selbstverständlich geht es in erster Linie einmal um den Kampf
gegen die Mittelstrecken-Raketen. Dieser Kampf allein ist schon
ein wichtiger Teil der Bewegung. Wenn er erfolgreich sein sollte:
Ist Abbau von Angst nicht allein schon wichtig? Ist die Verhinderung
einer weiteren Eskalation nicht bereits etwas Entscheidendes? Ist
die Geste des Verzichts nicht ein wichtiger Schritt?
Und doch die Vorbehalte:
Wenn der Erfolg der Friedensbewegung einzig und allein in diesem
Schritt bestehen würde, könnte sie sogar das Gegenteil
dessen bewirken, was sie anstrebt. Entspannungsgefühle müssen
noch keine Entspannung sein. Eine Entspannung, die darin besteht,
daß wir nur - wie bisher - x-mal umgebracht werden können,
statt - wie geplant - y- mal, ist kein Schritt in die Zukunft. Eine
solche Entspannung kann uns einlullen, indem sie uns einen Frieden
im Sinne der Militärs und Politiker vorgaukelt: Es besteht
keine unmittelbare Kriegsgefahr. Sind wir dadurch einem echten Frieden
näher gekommen? Einem Frieden, der nicht in der Kriegsabwehr
besteht?
Ist der nächste Schritt schon wesentlich mehr: Der Verzicht
auf Atomwaffen in Europa? Oder gar der Aufbau einer rein defensiven
Territorial-Truppe in der Bundesrepublik, z. B. ohne Panzer?
Ist nicht erst der Verzicht auf Militär ganz allgemein das
Entscheidende? Wäre nicht erst der Verzicht auf Militär
die einzige realistische Lösung, während alle anderen,
d.h. die militärischen Lösungen reine Spekulation bleiben?
Hat sich nicht - wenn wir endlich aus der Geschichte lernen wollten
- militärische Spekulation noch immer als falsch erwiesen?
Führt diese Spekulation nicht immer entweder zur Niederlage
oder zu noch mehr Kriegen oder zur Übernahme der Mentalität
des Besiegten durch den Sieger und damit schließlich zum Sieg
des Besiegten? Also Entmilitarisierung, Blockfreiheit, Neutralität
als das Entscheidende der Friedensbewegung? Haben wir dann Frieden?
Können wir friedlich sein in einer Gesellschaft, die auf dem
Konkurrenz-Prinzip beruht?
Konkurrenz heißt Kampf. Konkurrenz hat zwar immer einen Gewinner,
den man groß vorzeigt. Sie hat aber immer auch einen Verlierer,
einen Besiegten, einen Versager;
die Karriere schon dem jungen Menschen als Lebensziel vorgibt?
Karriere heißt ebenfalls Kampf. Kampf gegen den Mitmenschen.
Ich muß ihn übertrumpfen, unterdrücken wollen;
die Hierarchie als selbstverständliches Ordnungsprinzip befürwortet?
Hierarchie heißt, daß es Mächtige gibt und Ohnmächtige,
daß es Leute gibt, die befehlen dürfen, und solche, die
gehorchen müssen.
Friedensbewegung muß viel mehr sein und ist viel, viel mehr
als Bekämpfen der Mittelstrecken- Raketen, Blockfreiheit und
Neutralität, als Entmilitarisierung. Die Friedensbewegung kann
zur entscheidenden Bewegung dieses Jahrhunderts werden. Sie kann
Anfang einer Revolution - einer Umwälzung - sein, die an die
Französische Revolution anschließt. In der Friedensbewegung
haben sich all jene Kreise zusammengefunden, die mit dem Bekenntnis
unserer Gesellschaft zu Demokratie, Christentum, Humanität,
Gerechtigkeit endlich ernst machen wollen. Es sind unzählige
Kreise, Vereinigungen, Gruppen, Grüppchen, die sich in Bonn
versammelt hatten. Sie lassen sich inhaltlich nicht erfassen. Vor
allem lassen sie sich nicht organisieren, nicht strukturieren. Es
wäre ein Widerspruch in sich, denn das Neue besteht u. a. in
der Nicht- Organisation, der Nicht-Strukturierung. Das Wesentliche
ist, daß all diesen Gruppen, die wir insgesamt als Alternativ-Bewegung
bezeichnen können, eine gemeinsame Grundhaltung zu eigen ist:
Rücksichtnahme statt Eigennutz Liebe statt Ablehnung Solidarität
statt Konkurrenz Eingeordnetsein statt Überwindung Hoffnung
statt Angst Sein statt Haben.
Die Friedensbewegung versucht, all jenes zu verwirklichen, das
erst Frieden echt machen würde. Wir probieren Gemeinschaften
aus,
die nicht denjenigen prämieren, der den anderen unterdrückt,
sondern wo jeder den anderen als Partner akzeptiert;
in denen nicht derjenige Gewinner ist, der den anderen fertigmacht,
sondern wo jeder mit jedem für jeden leben will;
die nicht von Starken beherrscht werden, sondern in denen Menschen
leben, die sich nach dem Schwachen richten;
die nicht rational sein wollen, sondern in denen man Gefühle
haben und zeigen darf.Friedensbewegung ist
der Aufstand der Bürger gegen die Experten;
der Aufstand von Menschen mit Zukunft gegen die alten kranken Männer,
die uns regieren; der Aufstand der Optimisten gegen die Pessimisten;
der Aufstand der autonomen Menschen gegen die Autoritäten;
der Aufstand der realistischen Träumer gegen die defaitistischen
Spekulanten.
»Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.«
Friedensbewegung
macht bewußt; löst Betroffenheit aus; macht fähig,
sich zu verweigern; macht fähig, an eine Zukunft zu glauben.Frieden
ist
nicht passiv sein;
nicht nachgeben;
nicht Ruhe;
nicht Anpassung.
Frieden ist Konfrontation:
Wie soll ich sonst den anderen erkennen können? Frieden ist
Konflikte suchen:
Frieden ist Konflikte suchen:
Wie soll ich sonst wissen, wo die Probleme liegen?
Frieden ist Polarisation. Oder gibt es nur den einen Pol, den Pol
der Mächtigen?
Frieden ist Auseinandersetzung. Oder will ich den anderen überwältigen?
Frieden ist Einvernehmen. Oder will ich der Minderheit diktieren?
Anpasser, Angepaßte, aufgepaßt:
Ihr wollt überleben?
Mit Rüstung? Mit Atomwaffen? Mit der Neutronenbombe? Mit Militär?
Ihr wollt überleben?
Indem sie euch zu Tode rüsten? Indem sie aus unserem Europa
ihr Schlachtfeld
machen?
Überleben werdet ihr nur ohne Waffen.
Überleben wird aber nur, wer Widerstand leisten kann.
Widerstand leisten können nur jene, die schon vorher Widerstand
geleistet
haben.
Widerstandsfähig war nie die schweigende Mehrheit.
Widerstandsfähig sind nur die Rebellen.
Die schweigende Mehrheit - die Angepaßten - passen sich unverzüglich
auch
einem neuen Herrscher an.
Rebellen bleiben Rebellen.
Wollt ihr überleben?
Dann rebelliert!
Hier und jetzt!
(1982).
Dank an Hans A. Pestalozzi für die Erlaubnis der Veröffentlichung. (2001).
Hans A. Pestalozzi: * 1929 in Zürich; † 14. Juli 2004 in Steintal bei Wattwil, Toggenburg, Schweiz.
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