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Herrmann Cropp:
FÜR EINE POSTMODERNE LINKE
Am Pfingstmontag, den 20.5.2002, habe ich in Mainz beim Open Ohr
Festival bei einer Podiumsdiskussion folgenden Entwurf Für
eine postmoderne Linke als Beitrag zur Organisationsdebatte
vorgetragen. Das Wetter war super, der Ort oben auf der Zitadelle
auch, und außer etwa hunderfünfzig Menschen, deren Namen
ich nicht kenne, waren am Debattiertisch Andrés Unger Salazar,
Journalist, als Moderator, Otfried Nassauer vom Friedensforschungsinstitut
in Berlin, Harald Klimenta, Physiker und Publizist, für Attac
aus Regensburg und ich. Da ich nach Otfried und Harald dran war,
hatte ich die Gelegenheit schon vorweg zu betonen, daß ich
sowohl Otfried, der Europa vor der Alternative sieht ein Gegenmodell
zu dem amerikanischen zu entwickeln oder sich unterzuordnen, widersprechen,
wie auch mich gegen die Organisationsform von Attac wenden würde,
die Harald vorgestellt hat, auf daß wir danach schön
was zu diskutieren hätten.
Für eine postmoderne Linke
Mich hat es schon immer gestört und oft auch verletzt, mit
welchem Absolutheitsanspruch und zugleich Diffamierung alles anderen
die meisten politischen Ideen und Weltanschauungen auftreten. Da
ich mich trotz meines künstlerischen Individualismus, oder
gerade deshalb einem sozialen Denken und einem authentischen menschlichen
Umgang verpflichtet fühle, bin ich auch häufig genug mit
den Vertretern der starren, rechthaberischen, dogmatischen Linken
aneinander geraten. Und daraus Konsequenzen zu ziehen für den
künftigen politischen Widerstand, ist was ich hier vorhabe.
Die unfaire und jeden Menschen nur irgendeiner Partei zurechnende,
aber nicht ihn persönlich beachtende Sichtweise ist mir zuwider,
und gleichzeitig enttäuscht mich das immer von neuem. Vermutlich
kann das wenigstens die Hälfte der hier Anwesenden nachvollziehen,
da wir hier ja auf einem Festival sind, und die Herzen also in einem
musikalischerem Rhythmus schlagen.
Ich habe in letzter Zeit seit dem 11. September einige meiner politischen
Freundschaften überprüfen und - wie soll ich sagen? -
beenden müssen. Das wollte ich eigentlich nicht, vielmehr sah
ich mich selbst ausgeschlossen und diffamiert. Vielleicht versteht
ihr das, wie man einem Gruppenzwang ausgesetzt wird, eine Partei
zu ergreifen, aber das will man nicht, und dann heißt es hämisch,
deine Freunde lassen dich im Stich, was bist du bloß für
ein Typ? ... usw!
Ich denke, solche Erlebnisse sind immerhin eine gute Voraussetzung, über das Persönliche und das Politische nachzudenken und
überhaupt, inwieweit der Umgang miteinander Vorausbedingung
für gemeinsames politisches Handeln ist. Bei dem was ich zu
kritisieren habe, offenbart sich eine Methode, die kennzeichnend
ist für den ganzen politischen Betrieb, eigentlich seit der
Aufklärung und dem Beginn der Moderne, und für deren Überwindung
durch eine postmoderne Linke ich mich einsetze - oder besser noch
ohne Linke, bloß ein postmoderner politischer Aktivismus.
Das Ende des Universalismus der Moderne
Was wir am 11. September letzten Jahres erlebt haben, war das augenscheinliche
Ende der Moderne. Spätestens am 11. September letzten Jahres
wurde klar, daß die Epoche ihr Ende gefunden hat, die mit
der Aufklärung begann und allerdings auch nicht aus sich selbst
hervorgegangen ist, sondern den Versuch des westeuropäischen
säkularen Protestantismus darstellt, die Welt mit einer einzigen
Idee von Recht, Wahrheit und dem Guten zu beherrschen. Dies nennt
man auch den Anspruch der Moderne auf universelle Gültigkeit,
den Universalismus der Moderne, das ist ihr entscheidendes Merkmal.
Und die Linke spielt dabei seit 200 Jahren als aufklärerischer
Motor der Moderne eine entscheidende Rolle. Ich halte sehr dafür,
diese Allgemeingültigkeit als eine weltliche Variante des Monotheismus
anzusehen, jener Gottesauffassung, die die drei großen Weltreligionen,
Judentum, Christentum und Islam eigentlich vereinen, und die ja
aus derselben Quelle stammen.
Offenbar ist der Anspruch auf Weltherrschaft nur als expansionistischer
Anspruch tauglich. Aber wenn es darum geht, mit der globalen Wirklichkeit
angemessen umzugehen, bedarf es wohl einer andern Kultur als des
die Menschen der ganzen Welt verschlingenden protestantischen Kapitalismus.
Damit ihr diese Behauptung vom alleinseligmachenden Erwerb irdischer
Güter ein bißchen nachvollziehen könnt, hier ein
kleines Zitat des US-Präsidenten Eisenhower: Wenn hohlköpfige
Kritiker das zu unserem privatkapitalistischen System gehörige
Motiv des Profits anprangern, so ignorieren sie die Tatsache, daß es die wirtschaftliche Grundlage all der Menschenrechte ist, die
wir besitzen.
Exotisch was? Nee, das ist säkularer Protestantismus, den
ihr hierzulande eigentlich bestens kennen müßtet.Und
gleich noch was anderes als Beispiel des sich so aufgeklärt
und menschenfreundlich gebenden westlichen Fundamentalismus: zB
geht es um die Entschleierung der Frau und um eine bestimmte Rechtsauffassung
der Geschlechter, die zweifellos daran mitgewirkt haben, den moralischen
Boden für den Antiterrorkrieg gegen Afghanistan zu bereiten,
sowie überhaupt die antiislamische Hetze zu steuern.
Von solchen Fundamentalisten bekam ich noch nach dem 11. September
Emails, die darauf abzielten eine entsprechende Pogromstimmung zu
verbreiten. Im übrigen hat sich der ganze Menschenrechts-Fundamentalismus
als wirksame Waffe gerade gegen Menschenrechte, gegen Selbstbestimmung
und als Bedrohung der Freiheit weltweit erwiesen.
Über Geheimpolitik
Anlaß und Rechtfertigung für den im letzten Jahr begonnenen
4. Weltkrieg war die Zerstörung des Welthandelszentrums in
New York (der 3. Weltkrieg war der weltweite Kalte Krieg gegen den
Kommunismus, der mit der Zerschlagung der Sowjetunion endete, der
4. Weltkrieg ist der neoliberale Weltordnungskrieg mit zur Zeit
ca 150 Kriegsherden).
Wie wir uns zu diesem neuen Weltkrieg und der gefährlichen
neuen Weltlage verhalten, wozu auch der Bürgerkrieg in Israel
gehört hängt davon ab, wie wir die Situation einschätzen.
(Solange es nicht einen palästinensischen Staat gibt, und es
sieht nicht danach aus, daß es je dazu kommt, halte ich es
für plausibel von Bürgerkrieg zu sprechen.)
Ich möchte unbedingt davor warnen, sich mit einer jener Einschätzungen
zufrieden zu geben, die auf die Wiederherstellung überwundener
Ideen hinauslaufen, zB die ökonomistischen Enthüllungen,
daß alles nur um Erdöl und Bodenschätze ginge, woraus
logischerweise ein antikapitalistischer Welterrettungsplan folgt
- Staatssozialismus oder sowas - das entspringt derselben protestantisch-materialistischen
Sichtweise.
Ähnlich ist es mit den machtpolitischen Deutungen, wonach
alles ein Kalkül militärischer und Herrschaftsinteressen
um Einflußzonen und Blöcke sei, und um der lieben Stabilität
willen sollte es dann am besten wieder so werden wie früher.
Bekannt geworden ist auch die auf protestantischen Fundamentalismus
zurückgehende Auffassung des Kulturkampfes nach Huntington.
Und dann die ganzen philosophischen Spekulationen, die vermutlich
ins Off der Tatenlosigkeit führen,
- zB Baudrillard mit Nietzsches Jenseits von Gut und Böse,
- oder André Glucksmann gräbt den Nihilismus aus und
findet George W. Bush wegen seiner Achse des Bösen
zu Unrecht kritisiert; Glucksmann scheint mit seinem Dostojewski
à Manhattan im 19. JH. zu leben,
- die strukturalistische Schule mit der Unterordnung der Einzelerscheinungen
unter universale Strukturen,
- der Konstruktivismus mit dem Vorrang der Theorie vor dem was wirklich
läuft,
- und dann Deutschlands Staatsphilosoph Habermas mit seiner Vernunftreligion,
wie ich mir mal erlauben möchte, seine Kritische Theorie einwenig
einzuschrumpfen. Den Jugoslawienkrieg hatte er noch als kosmopolitisches
Recht einer Weltbürgergesellschaft gerechtfertigt. Inzwischen
rückt er von seinem Vernunftparadigma etwas zurück und
kündigt die postsäkulare Gesellschaft und
den globalisierten Sicherheitsstaat an. Das wollen wir
aber nicht hoffen, oder?
Schließlich brauchen wir auch keine Verschwörungstheorien
etwa wegen der CIA-Connection zu Bin Laden, der demnach in deren
Auftrag gehandelt hätte, den 4 Weltkrieg vom Zaum zu brechen.
Die Meldung, daß der CIA noch im Juli 2001 mit Bin Laden bei
dessen Aufenthalt im amerikanischen Krankenhaus in Dubai Kontakt
hatte, läßt Übles ahnen, daß viele von dem
bevorstehenden Anschlag gewußt und zB gegen die Luftfahrtgesellschaften
spekuliert hätten.
Aber ähnliche Befürchtungen gab und gibt es auch bzgl
des japanischen Angriffs auf Pearl Harbour, wieviel Churchill oder
sogar der amerikanische Präsident Roosevelt gewußt hätten,
und die absehbaren Verluste an Menschenleben in Kauf nahmen, um
mit der zu erwartenden Empörung des amerikanischen Volkes die
Möglichkeit zum Kriegseintritt zu haben.
In einem sind sich solche Erklärungen alle einig: daß
es eine einzige Ursache, einen religiösen Urknall, ein theoretische
Einbahnstraße geben müsse, die zu einem singulären
Ereignis wie einem monotheistischen Gott führen müsse.
Ich bin mit solchen Erklärungen nicht einverstanden, und ich
glaube die heutigen Aktivisten aller Couleurs sind es auch nicht.
Und ich hoffe, das gilt auch für die hier Anwesenden.
Globalisierung des amerikanischen Modells -
die Cowboy-Demokratie
Um die heute stattfindende Globalisierung besser zu verstehen,
sollten wir uns unbedingt mit dem Wesen der amerikanischen Cowboydemokratie,
die die Triebkraft dieser Globalisierung ist, beschäftigen.
Das amerikanische Modell strebt danach, sich selbst über die
ganze Welt zu stülpen, oder etwas blumiger ausgedrückt,
uns allen die American Pye in die Fresse zu schmeißen.
Aber! - das amerikanische Modell ist nicht nur Deregulierung und
Privatisierung.
Dazu will ich nicht ausführlich, aber wenigstens ein paar
Stichworte geben, womit sich jede künftige Kritik an und Bewegung
gegen die neoliberale Globalisierung befassen müssen wird. 1. Die Entpolitisierung des Gesellschaft und Verdrängung des
Staates aus der Gesellschaft mit der Folge, daß die höhere
Politik den Politikern überlassen
bleibt, geringe Wahlbeteiligung, Fernsehdemokratie,
2-5. die Mobilität, Selbsthilfe, Risikobereitschaft, Durchsetzungswille,
6. Privatisierung öffentlicher Güter
7+8. geringer gewerkschaftlicher Organisationsgrad und hohe Durchschnittsarbeitszeit
9. Multikulturalismus,
10. Wegwerfkonsum,
11. die Ghettoisierung nicht integrierbarer Multikultur
12. Oberflächlichkeit des making friends und smalltalks ua. typisch amerikanische soziale Verarmung,
13. der das Politische durchsetzende Moralismus, für den solche
Wendungen vom Reich des Bösen und Achse des
Bösen ganz und gar nicht lächerlich sind
14. die Nichteinmischung des Staates in religiöse Angelegenheiten
15+16. vor allem aber das die Interessen des Einzelnen gegenüber
der Gemeinschaft bevorzugende Rechtssystem und die starke Zurückhaltung
bei der Wahrung des staatlichen Gewaltmonopols, das Neil Young in
der Ballade crime in the city treffend charakterisiert
mit I take the law on my own hand.
Weitere Themen wären protestantische Ethik des Kapitalismus,
das US-amerikanische Sektenwesen, Pioniergeist, aber ich habe hier
weder die Absicht, eine vollständige Liste noch eine in Reihenfolge
ihrer Wichtigkeit, sondern bloß eine Anregung zu geben.
Die Kritik des amerikanischen Modells wird nicht einfach sein.
So erscheint mir manche Klage über die soziale Kälte in
den USA tendenziös, weil es auf eine Ablehnung der offenen
Gesellschaft, von Multikultur und kultureller Vermischung hinausläuft,
auf Angst vor dem Fremden, und daß es einen natürlichen
sozialen Mechanismus der Abstoßung von Fremdem gäbe.
Dem widerspreche ich unbedingt, denn ich weiß zumindest von
Künstlern, daß ein kulturelles Crossover möglich
und sogar erstrebenswert ist - und sogar ein multikulturelles Crossover.
Individualismus, Pluralismus, Toleranz und Selbstorganisation
als Merkmale der Nachmoderne
Überdies ist es wichtig, die heutige Zeit nicht nur als einen
Plural der Kulturen, sondern aller gesellschaftlichen Bereiche zu
begreifen, oder wie Luhmann es ausdrückt: der Funktionssysteme
wie Politik, Wirtschaft, Recht, Kunst, Religion, Sex, Wissenschaft
usw.
Seit der Kulturrevolution der 60er Jahre gab es im Westen einen
tiefgreifenden sozialen Wandel. Soziale Strukturen, die euch heute
nur noch wie Ammenmärchen vorkommen, haben sich aufgelöst,
und die offene Gesellschaft mit dem frei herumvagabundierenden Individualismus
ist nun erst wirklich eine Realität geworden. Insbesondere
ist heute im Jahr 2002 eine Generation herangewachsen, die gar nichts
anderes mehr kennt, die in die offene individualistische Gesellschaft
hineingeboren wurde - zu der ihr hier wahrscheinlich in der Mehrzahl
gehört.
Diese Veränderung seit den 60er Jahren hat auch die außerparlamentarische
Opposition beeinflußt, zu der Zeit erst sind die vielen Bürgerinitiativen
entstanden, die Autonomen, die damals ausdrücklich von den
linken Kleinstparteien unabhängig sein wollten, und die irgendwie
noch anders schattierte Neue Linke. Aber es gab auch die herumschweifenden
Haschrebellen oder die Hippies, die ihre eigenen Festivals organisierten,
wie ja wohl auch dies hier.
Seit den Linken in Deutschland und weltweit 1989 das Reich ihrer
allerdings schon vorher geplatzten Träume mit dem Zusammenbruch
der Sowjetunion abhanden gekommen ist, hat sich nicht nur das Verhältnis
der sogenannten Weltmächte verschoben, sondern auch die sozialen
Oppositionen haben ihren Zusammenhalt und Zusammenhang verloren,
was allerdings - und darauf kommt es an - viele ehemals Linke nicht
wahrhaben wollen, und je kleiner ihr Klub wird, desto eifriger halten
sie ihr Fähnlein der Aufrechten hoch. Diese aufrechten Fossile
der Vergangenheit demonstrieren seit den 90er Jahren in ihrem Bestreben
sich ständig zu zerkleinern und zu verhackstücken eine
ausgesprochen postmoderne Tendenz des politischen Individualismus,
den sie jedoch anders, als ich es hier tun will, mit dem historisch
überholten Anspruch der Moderne auf Allgemeingültigkeit,
also wieder dieses Universalismus, begründen. (mehr dazu: 1.
Anlage)
Wir brauchen einen anderen Umgang
Viele meiner Freunde sind genauso unzufrieden damit wie ich, sich
als Linke zu bezeichnen, allerdings glaub ich gar nicht wegen der
Zerstrittenheit, die man ja durchaus als innovativ bezeichnen könnte,
sondern weil wir das Gefühl nicht loswerden, daß diese
ganzen linken Strömungen und Bewegungen irgendwie nichts mehr
mit uns zu tun haben, daß jetzt eine andre Zeit ist, weil
uns insbesondere der große Bereich des Individuellen und Subjektiven,
der Kultur und der Kunst nicht nur nicht abgedeckt sondern dem sogar
zu widersprechen scheint.
Darüber kann uns auch eine Legion linker Künstler, Avantgardisten,
Gorkis, Brechts und Sartres nicht hinwegtrösten, der erstere
mit seinen zu klassenkämpferischen Plots und kommunistischen
Predigten, die eine bloß umgepolte russische Gläubigkeit
verraten, und letzterer mit seinem immer irgendwas beweisen wollen
- die Kunst im Dienst einer, allerdings schon weniger als bei Gorki
und Brecht, optimistischen Weltanschauung.
Wenn die politisch Aktiven von heute sich der Linken irgendwie
verwandt fühlen, zB weil unsere Wurzeln von da herkommen, so
bevorzugen sie es doch, sich anders zu bezeichnen, als Widerstand,
als Antiglobalistas, als Direkt-Actionist, als Kulturaktivisten,
als Attacs, was Angreifer heißt und im Vergleich zu Widerstand
etwas mutiger klingt, als Tierrechtler, was übrigens eine Kritik
der durch die Moderne ideologisierten Menschenrechte impliziert,
usw - aber was bedeutet das anderes, als daß die alte Kathegorie
Links nicht mehr taugt?
Das eine ist für die Zusammenarbeit der politisch Aktiven
von größter Wichtigkeit, daß ihr Umgang frei ist
von allem Kollektiven, daß jedem zu jeder Zeit das Recht gegeben
wird, für sich selbst zu entscheiden, daß kein Gruppenzwang
ausgeübt wird, weder bei Aktionen noch bei inhaltlichen Fragen.
Bei dem neuen Umgang mit dem Politischen, den ich mir wünsche,
geht es um die persönliche Authenzität. Das Individuelle
ist immer politisch, denn daran mißt sich die Freiheit. Auch
unter Freunden - grade da! Das Persönliche ist politisch und
umgekehrt. Darum habe ich einen hohen Anspruch an die Ehrlichkeit,
daß keine Formelsprache benutzt wird, kein Bla-Bla-Jargon,
kein politischer Krampf, keine Sprachlosigkeit. Die Zeit dazu scheint
mir heute endlich gekommen, vor hundert Jahren hat ein Anton Tschechow
davon noch geträumt: Ich glaube nicht an unsere (linke)
Intelligenz und meinte damit das linke Parteienwesen und die
Bündelei, ich sehe die Rettung in Einzelpersönlichkeiten.
Heute geht es darum, da die Menschheit auf dem Globus so nah zusammenrückt,
daß die Unterschiede nicht länger ignoriert und mit einem
universalistischen linken oder sonstwie intellektuellen Dogmatismus
zugedeckt werden, daß jede ideologische Verbindlichkeit aufgegeben
und endlich angefangen wird, diesen postmodernen Flickenteppich
der Kulturen und ihrer individuellen Träger zu tolerieren,
Toleranz und Pluralismus zum Überlebensprinzip zu machen, die
Vielfarbigkeit, symbolisiert durch die bunten Haare der Punks und
Cybertribes, zu lieben, und sich dennoch hochgradig engagiert gegen
jede Ungerechtigkeit weltweit zu verhalten.
Herrmann Cropp
http://www.packpapier-verlag.de
1. Anlage:
Extreme Widersprüche im linken Lager gibt es zwar nicht erst
seit Che Guevaras Befreiungsnationalismus oder Pol Pots mörderischem
Steinzeitkommunismus in Kambodscha, sondern schon Strindberg notierte
vor über 100 Jahren für die europäische Linke: Der
Sozialismus, der eigentlich Christentum war, wurde von Atheisten
verehrt, die Christen waren kapitalistische Egoisten, die Bauern
waren Royalisten, die Royalisten spielten Liberale, der Monarch
war Freidenker, die Anarchisten waren Aristokraten - es war eine
babylonische Verwirrung!
Wer sich heute noch links nennen will, muß erstmal sagen,
was er alles nicht ist, kein Staatskommunist, kein Linker der Neuen
Mitte, kein Linksmilitarist, kein Terrorist, kein Maoist, kein Stalinist,
Leninist natürlich auch nicht , Bakunist ginge noch, weil dessen
Vorbild noch nicht in geschichtliche Ungnade gefallen ist, aber
auch kein Steinzeitkommunist, und in Deutschland müßte
er hinzufügen, kein Restlinker, kein Altlinker, kein Wendelinker,
kein Neuer Linker, weil die auch schon ziemlich alt sind - es macht
keinen Spaß mehr links zu sein, wenn man mit sovielen in einen
Topf geworfen wird, die man nicht ausstehen kann.
Nicht unberücksichtigt bleiben soll auch die Szene der sich
als Antis Bezeichnenden, die früher einmal das nihilistische
Recht der Jungend sich nur negativ zu bestimmen, beanspruchen durften,
aber seit das Antideutschtum von den Herrschaften zweifellos fortgeschrittenen
Alters in der Zeitschrift Konkret propagiert wurde, seit der Anti-Antisemitismus
und der Antifaschismus sogar eine Angelegenheit von Großvätern
und Urgroßvätern ist, bedienen sich nur noch Autoritäre
und Dogmatiker dieses Nihilismus. Ich glaub, es fehlt der politische
Esprit.
Für die eigene Selbstdefinition ist es nicht gerade förderlich,
einen so unpräzisen Begriff zu haben, es ist eine Identität
auf sehr unsicherem Fundament, und eigentlich, welchen Grund außer
unserer Bequemlichkeit gibt es, uns mit einer historisch überholten
Identität zu belegen?
2. Anlage: einiges aus der Diskussion:
2a) Zu Anfang gab es die Befürchtung, daß das Publikum
wohl eher eine Show erwartete als was zum Nachdenken und vielleicht
nur aus Bequemlichkeit auf der Wiese sitzen geblieben wäre.
Ich weiß jedenfalls eins sicher, daß man die, die nichts
sagen, meistens unterschätzt, und die Fragen aus dem Publikum
erschienen mir substanziell (zumal sie mir gut ins Konzept paßten).
Eine Podiumsdiskussion mit Politikern, für die ich ursprünglich
eingeladen war, wär eher in der Richtung Polititheater gewesen,
und ich zweifle sehr, wie nachhaltig davon etwas in den Köpfen
der Leute haften geblieben wäre, außer daß wir
auf dem Podium versuchen uns gegenseitig abzuschlachten - geistige
Prozesse laufen so nicht ab, es bleibt alles im motorischen Gehirnteil
stecken, wie Flippern oder Videogames. Hingegen mit Leuten von politischen
Basisinitiativen zu diskutieren vermeidet nicht nur das überflüssige
Ritual des Schlagabtauschs, sondern - wenn wir uns fetzen - dann
aber wirklich einer Sachfrage wegen. Hätt ich auch gerne so
gehabt, denn Otfrieds Position war mir zu globalpolitisch fixiert
auf die politischen Möglichkeiten von Regierungen und Nationen
(2b), während Harald Gefahr läuft, die Bewegungen an der
Basis wieder für Lobby und Vertreterpolitik zu mißbrauchen
(2c).
Ich wurde auch gefragt, warum ich nicht frei vortrüge statt
zu lesen - vielleicht täusche ich mich, aber ich glaube, es
ist nicht gut möglich soviele verschiedene Gedanken knapp und
präzise formuliert, wie ich es geschrieben habe, aus dem Kopf
herzusagen, zumal meine Redezeit begrenzt ist. Also muß ich
auf die Aufmerksamkeit der Zuhörer hoffen, bzw. daß sie
trotz der Mühe, die das geschriebene Wort macht, den Text auf
meiner Webseite lesen. Außerdem wird viel zu wenig gelesen,
dem ich schon gar nicht nachgeben oder entgegenkommen will, etwa
durch Vermeidung von Fremdwörtern oder grammatischen Vereinfachungen.
2b) Otfried Nassauer: Europa steht vor der Frage, entwickelt es
ein Gegenmodell oder ordnet es sich unter? Der Moderator Andrés
bezweifelt, daß es soetwas wie eine europäische Weltanschauung
gebe, nachdem hier soviele Ideologien, Staatssozialismus, Staatskapitalismus,
Sozial-Chistidemokratischer Kapitalismus, Polizeistaat usw hervorgebracht
wurden, die auch alle noch nicht gestorben seien (Haider, LePen,
Fortuyn). Das wurde ebenfalls vom Publikum hinterfragt, wie es auch
mir nochmal die Gelegenheit gab Stellung zu nehmen. Es geht doch
darum mögliche Entwicklungen von Gegenmodellen jenseits des
Staatlichen aufzuzeigen, es geht darum, daß die Menschen eine
der heutigen Zeit angemessene Organsiationsform, oder sagen wir
schlicht Umgang entwickeln. Deshalb lehne ich die geopolitische
Betrachtungsweise ab, weil darin nur Regierungen und Nationen als
Akteure vorkommen, und setze auf die Veränderbarkeit der Politik
durch die Bürger, und insbesondere auf die Veränderung
des amerikanischen Modells durch die Menschen in den USA.
2c) Leider stimmte Harald, der Vertreter von Attac meinen Organisations-
und Vorstellungen des politischen Umgangs fast komplett zu, sodaß
die von mir erhoffte Kontroverse ausblieb. Deshalb hab ich das nochmal
nachgelegt, aber wieder nur mit Haralds Zustimmung, was ich für
ein Mißverständnis seiner eigenen Organisation halte.
Einpunktbewegungen - Das Problem bei allen politischen Organisationen,
also auch bei Attac, ist die Notwendigkeit ihre Mitglieder zu vereinen,
dh über einen Kamm zu scheren. Mit der Folge, daß die
Mitglieder nicht für sich selbst, sondern für ihren politischen
Verein einstehen. Besonders schlimm ist das bei Parteien oder Religionen,
die dank ihres Parteiprogramms oder ihres Katechismus auf alle Fragen
eine Antwort haben. Ob Harald es wahrhaben will oder nicht, seine
Politik läuft darauf hinaus, die Bewegungen an der Basis doch
wieder für Lobby und Vertreterpolitik zu mißbrauchen.
Solche Entfremdung wird in Organisationen wie Attac zwar zu vermeiden
versucht, indem sie nur auf einem Minimalkonsens besteht, aber das
wäre der typische Fall für eine Einpunktbewegung. Dann
droht die andere Gefahr, daß jene einzige Idee als Rettungsanker
für alle Probleme der Menschheit hochstilisiert wird. So ist
es zB bei dem Zinsdogmatismus der Freiwirtschaftler seit Silvio
Gesell bis Helmut Creutz - bei Attac die Tobinsteuer.
Kurz und gut, es sollte überhaupt keine formale Organisation
geben, nur eine informelle:
- wir kennen uns
- wir machen was zusammen
- wir sind bestens informiert, weil diese Art Organisation von ihrem
Informationsgrad abhängt
- jeder entscheidet nur für sich - autonom (um das Reizwort
zu gebrauchen
- alles muß von unten kommen, selbstorganisiert und selbstbestimmt
- das ergibt eine schlagkräftige Organisation, wie wir es zum
ersten Mal in Seattle am 30.11.1999 gesehen haben
2d) Harald beklagte sich über das Tagespolitische in der Politik,
und zwar auch in der Bewegungspolitik, so kritisierte er insbesondere
Indymedia, die derselben Oberflächlichkeit des Tagespolitischen
ohne Beachtung langfristiger Tendenzen wie die kommerzielle Presse
erliegen - Applaus.
Heißt dieser Applaus nicht, klar, finden wir alle!? Da das
Thema Indymedia nicht wieder aufgegriffen und vielmehr die kontroversen
Fragen erneuert wurden, vermute ich, daß man so ein Publikum
wirklich nicht unterschätzen darf, und sehe mich darin bestätigt,
mit meinem Einleitungsvortrag viel von dem Publikum zu verlangen.
2e) Bezüglich der Organisationsmüdigkeit kam es mehrmals
zu Wortmeldungen, und dann ging es um die Kontroverse, wie politisch
oder apolitisch der Individualismus sei, die beliebte Inseltheorie
kam zur Sprache und wurde sogleich zurückgewiesen - daß
sich ein paar Träumer oder Utopisten auf eine Insel der Seligen
verkröchen usw.
Na gut, ich hatte zufällig tags zuvor Gelegenheit gehabt,
mir von Maria Mies, der Vertreterin der Subsistenztheorie, versichern
zu lassen, daß diese weder einen träumerischen Urzustand
wiederherstellen wolle, noch sich anmaße, das alleinige Errettungsmodell
anstelle des Neoliberalismus zu sein, vielmehr ein Nebeneinander
aller Versuche der Selbstbestimmung. Wobei ich übrigens das
Problem der theoretischen Verwässerung sehe, wenn Subsistenz
am Ende nichts anderes heißt als Selbstorganisation zB der
Gemeinde von Porto Alegre. Im übrigen traf ich Maria Mies an
einem für solche Erwägungen recht passenden Ort, nämlich
beim deutschen Kommunetreffen in der Kommune Niederkaufungen. Zweifellos
findet auf dieser Insel der Seligen bei Kassel eine über die
Tellerränder ihrer Lagune hinausgehende Politik statt, und
die Entwicklung konkreter Utopien ist nicht nur Praxis, sondern
der Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung wird auch theoretisiert.
2f) Die Frage, was der Unterschied zwischen Links und Rechts sei,
offenbarte grundlegende Zweifel an einem Politikverständnis
der Anspruchslosigkeit. Daß diese Unterscheidung lediglich
historisch definiert und bis in seine extremsten Positionen (zB
Befreiungsnationalismus) oft identisch ist, wurde nocheinmal wiederholt
(siehe oben).
2g) Eine der scharfen Kontroverse werte Frage: worauf beruht euer
Wertesystem,
wenn ihr auch die Menschenrechte in Frage stellt?
Otfried fand darauf eine knappe Antwort: die Frage ist welche Menschenrechte
und wessen Menschenrechte!
Da hätte ich mir vom Publikum doch mehr Hartnäckigkeit
gewünscht, aber andrerseits, es glaubt wahrscheinlich keiner
an die Menschenrechte der Amis.
2h) Zur Bekräftigung des theoretischen Anspruchs in der politischen
Diskussion stellte Otfried fest: Zukunftsforschung ist sehr wichtig!
Leider kam ich nicht mehr dazu, da ich ein Fan von Stanislaw Lem
bin, und mir auch Robert Jung sehr sympathisch ist, die Zunft der
Futurulogen von Herman Kahn bis Franzis Fukuyama mit ihren ruhmreichen,
aber erfolglosen Prognosen zu entthronen, Robert Jung war mit seinem
kritischen Optimismus immer viel näher dran an der Entwicklung,
und Lem mit seinem phantastischen Skeptizismus (zB. Biotechnologie,
Wissenschaftstheorie, Religion) ist meines Erachtens der einzige
Futuruloge, der diese Bezeichnung verdient, zugleich aber ein großartiger
Schriftsteller. Lem (Lesetip: Der futurologische Kongreß,
Sternentagebuch) in Lokaltermin: Ein Idiot, zumal wenn er
ein Vollidiot ist, wird, wenn sie es ihm anbieten, auf der Stelle
bereit sein, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Ein
Mann von Bedacht wird erst einmal nachdenken, ein Weiser sich lieber
aus dem Fenster stürzen.
Herrmann Cropp / Packpapier-Verlag
Dank an Herrmann Cropp.
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