|
 |
Erklärung des regionalen
Plenums Hessen / Rhein-Main - November 1995:
DAS LEBEN WAGEN - LEBEN IM WAGEN
Gerichtet an all diejenigen, die sich durch Volkes Willen
legitimiert wähnen, die zur Zeit bestehenden gesellschaftlichen
Verhältnisse politisch zu verantworten, oder sich
berufen fühlen, dieselben zu verbessern!!
Nicht erst seit Mitte der achtziger Jahre wurde in der
damaligen Bundesrepublik das kollektive Wohnen in besetzten
Häusern (Häuser, die für Wohnungszwecke
wieder nutzbar gemacht wurden) durch eine zunehmend aggressive
Räumungspolitik von Seiten des Staates bekämpft.
Als Ausweichen und/oder Neubestimmung verstanden, fanden
daraufhin erste Geländebesetzungen statt, die in
mobilen Wagen eine Wiederbelebung des kollektiven Wohnens
und Lebens ermöglichten.
Die Repressionen gegen die Menschen, die ihr Bedürfnis
nach kollektivem Wohnen und Leben verwirklichen, müssen
unter dem Gesichtspunkt einer allgemeinen globalen Angleichungs-
und Umstrukturierungspolitik mitbetrachtet werden, die
im Besonderen auch die Wohn-, Kultur- und Lebenswelt
der Menschen im Blick hat (z.B. hohe Mieten, Eigentumswohnen,
bestimmte Einkaufswohnstruktur, Sozial-"Hygiene",
Entstehung von Stadtvierteln für Reiche usw.). Diese
Politik dient den Profitinteressen innerhalb der herrschenden
kapitalistischen Marktwirt-schaft.
Das aktuelle Gesicht dieser Marktwirtschaft ist im Zusammenhang
mit dem Zerfall des "Ostblocks" Anfang der
90er Jahre zu sehen, der eine Verstärkung der Konkurrenzbedingungen
in der verbliebenen "Marktwirtschafts-Welt" bis
heute nach sich zieht. Das gilt sowohl direkt für
die Beziehungen der Menschen untereinander, als auch
indirekt für alle Organisationsebenen und institutionellen
Einrichtungen - von der Gemeinde über das regionale
Wirtschaftsgebiet, über den Nationalstaat bis hin
zu den globalen Wirtschaftszentren (Nordamerika, EU-Europa,
Ost- und Südost Asien).
Dieser scheinbar willkürliche Wettbewerb findet
global gesehen unter der Spielregel des sogenannten Neo-Liberalismus
statt, dem neuen/alten Wirtschaftsfreiheitsanspruch ohne
Grenzen, unter dem soziale und teilweise auch ökologische
Errungenschaften, Werte, Ansprüche vorbereitend
als unmodern bezeichnet werden, um sie dann zu liquidieren.
In EU-Europa findet in dieser Konkurrenz-Situation innerhalb
der Städte und Gemeinden eine "Reformpolitik" statt,
die eine postmoderne Arbeits-, Wohn- und Freizeitwelt
hervorbringt.
Die Preise und Kosten steigen für alle Menschen,
während die Löhne real sinken bzw. nur für
einen kleinen Teil angehoben werden, dafür allerdings
beträchtlich und völlig unverhältnismäßig
(z.B. 200.000 DM Managermonatsgehalt). Der Zwang, seinen
individuellen Lebensentwurf dieser "Modernisierungsspirale" anzupassen,
steigt. Wer nicht mitmachen kann oder will, wird sozial,
kulturell und politisch ins Abseits gedrängt. Bei-spiele
der Folgen sind nicht mehr zu bezahlende Wohnungen, Vereinzelung,
Verringerung der geistigen und künstlerischen Betätigungsfelder,
sowie die zunehmende Kriminalisierung politisch Andersdenkender.
Für uns steht dagegen der Mensch mit seinen unmittelbaren
Bedürfnissen im Vordergrund, die im Einklang mit
der übrigen Lebenswelt stehen sollten. Wir wollen
eine Welt, in der sich der Mensch als Teil des Ganzen
versteht, also die vorhandenen Reichtümer nicht
als Eigentum betrachtet, sondern als Allgemeingut, und
verantwortlich damit umgeht. Dazu zählt wie Mensch
lebt, also wie unter anderem das Wohnen, das Ernähren,
das Arbeiten, das Austauschen sich gestaltet. Wir wollen
ein lustvolles Leben für alle, das auf einem solidarischen
Miteinander von Mensch und Lebenswelt beruht.
Die Wagenplätze sind unsere Antwort gegen die herrschende,
eindimensionale und zerstörerische Gesellschafts-
und Weltmarktordnung. Konkret geht es uns um eine offene
und trotzdem den individuellen und gemeinschaftlichen
Bedürfnissen jeder/s Einzelnen voll Rechnung tragende
Wohnform. Vielfältiger als in WGs, Häusern
und Einzelwohnungen bieten unsere mobilen Wagen die Möglichkeit
mit vielen verschiedenen Menschen zusammen zu leben und
sich zu treffen, gemeinsam etwas aufzubauen und dabei
noch ausreichend Rückzugsmöglichkeiten zu haben,
möglichst in einer natürlichen Umgebung. Unser
Zusammenleben ist so mit weniger Zwängen verbunden
und bewusster, als in den konstruierten, fremdbestimmten
Strukturen der ArchitektInnen und Städteplanerlnnen.
Dieses Zusammenleben heißt nicht Nebeneinanderherleben,
sondern das Leben gemeinsam, phantasievoll und solidarisch
zu gestalten, den Platz und eine solidarische Gemeinschaft
z.B. durch offene Einrichtungen auch für andere
erfahrbar zu machen. Eine besondere Voraussetzung hierfür
bietet am Wagenplatz die gemeinsame Organisation eines "neuen" Alltags,
der hier einen bewussten, schöpferischen Umgang
erfordert (z.B. schaffen von sanitären Anlagen,
Wasser, Strom, aber auch Landschaftsgestaltung, Anbau
von Gemüse usw.). Das erfordert mehr Kontakt und
Auseinandersetzung untereinander, als in vorgegebenen
räumlichen Strukturen, wo sich das Zusammenleben
oft auf die Organisation des Konsums beschränkt,
und wo häufig die Kommunikationsschwelle für
Außenstehende sehr viel höher liegt.
Gegenüber jedem Mauerwerk bieten unsere Wagen die
Möglichkeit, Veränderungen vorzunehmen: Auf-,
Aus- und Umbau der Wägen nach Bedarf; Mobilität
für nur ein paar Meter, aber auch für die weite
Ferne. Da die Änderungen der/des Einzelnen an einem
Platz für alle Mitbewohnerinnen erfahrbar sind,
fordert die individuelle Handlung sowohl die Reflexion
des/der Einzelnen, als auch die der Gemeinschaft. Gleichzeitig
führt diese als Anregung zu einem Prozess, der höchstens
durch die Auflösung des Kollektivs beendet wird.
Wir halten diese Art des Austauschs für wichtig,
denn der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen, gleichzeitig
aber auch ein Individuum, das Zeit und Raum für
sich selbst braucht: allein sein, aber nicht vereinzelt.
Im Wagen zu Leben ist ein Versuch, aus dem immer härter
werdenden Kreislauf "Entfremdet arbeiten, um zu überleben,
um für die entfremdete Arbeit zu leben" auszubrechen.
Durch die Verringerung des Anteils entfremdeter Arbeit
vergrößern sich die Möglichkeiten des
sozialen und kulturellen Lebens.
Was die Arbeit im Kapitalismus angeht, so halten wir
es für ein Unding, einen Großteil unseres
Lebens mit dem Produzieren von "Produkten" zu
verbringen, auf das die eigentlichen Herstellerlnnen
selbst keinen Einfluss haben, womit oft Umweltzerstörungen
verbunden sind und das Ganze hauptsachlich dem Profit
und Nutzen Einzelner, und nicht Aller dient. Entsprechend
sieht die Höhe des erworbenen Lohnes für die
Arbeitenden aus, mit dem dann unter anderem die Mieten
für Wohnungen, Häuser und Grund und Boden zu
bezahlen sind.
Dies ist zu sehen vor dem Hintergrund der Geschichte,
die zeigt, das die Eigentumsverhältnisse, wie sie
sich heute darstellen, zumeist gewaltsam und kriminell
- in jüngster Zeit auch spekulativ (was auch nicht
besser ist) - zu Stande gekommen sind. Von unserem Standpunkt
ausgehend sind Eigentums- und Besitzansprüche an
Wohnungen und Häusern innerhalb der Gesellschaft
solidarisch zu regeln, und das Land (die Erde) selbst
gehört schon gar nicht dem Mensch allein.
Mit dem Leben im Wagen wollen wir keinen billigen Ausweg
aus der fatalen WohnungsNOTpolitik anbieten. Die fortschreitende
Entstehung einer gedrittelten Gesellschaft erweist sich
eben nicht nur als soziale, sondern auch als kulturelle
gesellschaftliche Polarisierung, in der unsere Phantasien,
Träume und Wünsche gegen gleichgeschaltete,
funktionale und zerstörerische Perspektiven stehen.
Für uns ist das Leben im Wagen nicht das Ende unserer
Vorstellungen, aber ein Schritt, der zu einem Gegenentwurf
gehört, und mit zur Demaskierung des sogenannten "normalen
Lebens" beiträgt. Die Wagenplätze bieten
uns zumindest teilweise den Raum zum praktischen Ausleben
unserer Werte und Ideale und auch die Möglichkeit
diese für andere erfahrbar zu machen. Entsprechend
sind die Plätze zu Begegnungsstätten für
viele Menschen geworden, deren Perspektiven anders aussehen,
als die der totalen Konsum-Welt, bestehend aus Plastik,
Computer und Genmanipulation.
In einer Gesellschaft, in der alles von Geld und Profitorientierung
durchdrungen ist, ist dieser Versuch, so zu Wohnen und
zu Leben mit vielen Widersprüchen verbunden. Dennoch
- als Alternative bietet unser Weg mit all seinen Schwierigkeiten
mehr Perspektiven, als tatenlos im ausbeuterischen unterdrückerischen
und zerstörerischen Spiel gegen Mensch und Umwelt
für Macht und Geld mitzutaumeln.
Die Wagenplätze sind als alternative Wohn- und Lebensform
allgemein, sozial, kulturell und politisch anzuerkennen.
Rüsselsheim, im November 1995.
FORDERUNGSKATALOG AN DIE HESSISCHE LANDESREGIERUNG
Zur konkreten dauerhaften Umsetzung von Wohnen und Leben
im Wagen / an Wagenplätzen ist es notwendig, dass
die Kriminalisierung und soziale Achtung von Seiten des
Staates und seiner behördlichen Einrichtungen auf-hört.
Um dies zu erreichen ist es für uns notwendig, entsprechende
gesetzliche Absicherungen durchzusetzen und die politischen
Instanzen mit allen Mitteln aufzufordern, diese endlich
umzusetzen.
Dem folgenden Forderungskatalog kann vorausgesetzt werden,
dass das Wohnen und Leben im Wagen / an Wagenplätzen
ein solidarisches Miteinander in einer Art Allianzverhältnis
zwischen den Menschen, sowie zwischen Mensch und seiner
Umwelt einbezieht.
1. Jedwede Kriminalisierung und soziale Ächtung
gegen das Wohnen und Leben im Wagen / an Wagenplätzen
ist sofort zu beenden. Dazu ist zuallererst notwendig,
dass
a) die Möglichkeit, mit einem Wagen ein Gelände
zu beleben - gleich, ob Grundstücke sich in Privat-,
Gemeinde-, Landes- oder Bundesbesitz befinden - für
jeden Menschen garantiert ist;
b) die Gesetze des Baurechts für den Außenbereich
usw. hierfür außer Kraft gesetzt werden, da
unter anderem keine Flächenversiegelung vorgenommen
wird.
(hier auch volle Autonomie der Bewohnerlnnen in Bezug
auf Bauen am Wagen, Statik, Architektur, Terrassen als
feste Bauten,...).
2. Die gesetzlichen Standards für die notwendige
Infrastruktur (Strom, Wasser, Abwasser, sanitäre
Anlagen, Müllabfuhr, Post- und Meldeadresse,...)
sind gemäß den Forderungen und Bedürfnissen
der Bewoh-nerlnnen
- besonders zu fördern (wie z.B. im sozialen Wohnungsbau
auch) oder
- entsprechend außer Kraft zu setzen (also Ausnahmeregelungen
zu treffen, wie sie z.B. für Aussiedlerhöfe
gelten) oder
- alternative Lösungen zu akzeptieren und zu unterstützen.
3. Die Nutzung eines Geländes (in Bezug auf Anzahl,
Beruf, Status, Zuzug,... der Bewohnerlnnen; Anzahl, Ausbau,
Standort,... der Wägen; Gestaltung des Platzes;
Veranstaltungen;...) bleibt der Selbstverwaltung der
Bewohnerlnnen überlassen.
4. Der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse
von verschiedenen (bereits bestehenden oder noch zu gründenden)
Wagenplätzen ist in den einzelnen Städten und
Gemeinden besondere Rechnung zu tragen, das heißt,
dass mehreren Projekten dieser Art in einer Stadt auf
den geforderten Geländen Raum zu verschaffen ist.
Der Forderungskatalog an die Hessische Landesregierung
sowie die Erklärung des regionalen Plenums Hessen
/ Rhein-Main „DAS LEBEN WAGEN - WIR LEBEN IM WAGEN“ ist
von folgenden Wagenplätzen unterzeichnet:
Babajaga
Jägertorstraße 179, 64289 Darmstadt.
Biegwald i.E.
Borsigallee 26a, 60388 Frankfurt am Main.
Diogenes
Hinter der Radrennbahn, 64285 Darmstadt.
Dorf Wagenstein
Leihgesternerweg 195, 35392 Gießen.
Kassel
Mombachstraße 3, 34127 Kassel.
Klabauta
Im tiefen See 65, 64293 Darmstadt.
Mainz
Hinterm Haus Mainusch, Staudingerweg 23a, 55128 Mainz.
Rad ab
Schlangenzahl 15, 35392 Gießen.
Rodenbach
c/o Matrax, Sternstraße 35, 63450 Hanau.
Sommerdamm
Am Sommerdamm, 65428 Rüsselsheim.
Tauringia
Forsthaus Triesch, 36214 Bauhaus.
Wagenmut
Neuhöfe, 35041 Marburg .
Wiesbaden
Freudenbergerstraße 212, 65201 Wiesbaden.
- * -
WAGEN-LEBEN - LINKS:
-
Wagendorf - Infos
-
Wagenplätze - Links (1)
- Wagenplätze - Links (2)
- Leben im Wagen
-
Wohnen ohne Fundament
- Wagenplätze - Bewegung
- Wagenburg
- Ausstellung
- Wagenburg
- Forum
-
Wikipedia über Wagenplätze
|