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Gary Snyder:
WARUM STÄMME?
Wir verwenden die Bezeichnung Stamm, weil das Wort eine neue Lebensart,
eine neue Art der Gesellschaft und Kultur andeutet, die in den modernen
Industrielandern auftaucht und heute in der Entwicklung begriffen
ist. In Amerika ruft das Wort Stamm Assoziationen mit den IndianerInnen
hervor. Die IndianerInnen, die wir, die junge Generation, so sehr
lieben. Was wir mit unserer Kultur meinen, die eine Subkultur genannt
werden muß, steht in der Tat vielleicht dem am nächsten,
was in Europa von den ZigeunerInnen gelebt wird: Das Leben einer
Sippschaft ohne Land und Nation, das Leben einer Sippschaft, die
eigene Worte, eine eigene Sprache und eine eigene Religion besitzt,
ohne sich um den Staat zu kümmern, in dem sie sich zufällig
befindet.
Oder grundsätzlich gesprochen: Mit Stamm meinen wir eine vom
heutigen Alltag der meisten Leute verschiedene Art sozialer Ordnung,
gegründet auf Gemeinsamkeit, Freundschaft, echter persönlicher
Beziehung und Verantwortung, statt auf abstrakten zentralisierten
Regierungen, Steuern, Propaganda und Gesetzen.
In den USA und in Europa entfaltete sich das Stammesleben allmählich
während der letzten fünfzig Jahre seit Ende des Ersten
Weltkrieges als Reaktion auf die sich ausbreitende Erkrankung der
modernen Nation. Als die Zahl der abgefallenen Intellektuellen,
der kreativen Menschen und anderer dem Alltagsgeleier entglittener
Elemente wuchs, begannen diese sich gegenseitig an verschiedenen
kleinen Merkmalen wie Bartwuchs, rauhen einfachen Kleidern und dergleichen
zu erkennen. In den dreißiger und frühen vierziger Jahren
war die Bewegung stark dem Marxismus zugewandt; all die Anarchisten
und Nonkonformisten dieser Jahre waren innerlich eindeutig Stammes-Menschen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg blickte eine neue Generation mit einem
frischeren Auge auf den Marxismus, und entdeckte innerhalb der marxistisch-politischen
Systeme zu viele der gleichen Merkmale, die an den kapitalistischen
Systemen so verwerflich sind. Zuviel Zorn und Todschlag! Daher der
Gedanke: Vielleicht ist es die ganze westliche Tradition, von der
der Marxismus ja auch nur ein Teil ist, die sich auf dem Holzweg
befindet. Das hat viele veranlaßt, andere Hauptzivilisationen
wie Indien und China zu studieren, um zu sehen, was sie von diesen
lernen konnten.
Von der Dialektik von Marx und Hegel ist es nur ein kleiner Schritt
zum Interesse an der Dialektik der altchinesischen Ying-Yang-Theorien
und des frühen Taoismus, Lao-tse und Chuang-tse. Und vom Taoismus
wiederum ist es nur ein kleiner Schritt zu den Philosophien und
Mythologien Indiens - die Philosophien Indiens, die als allgemeine
Geisteshaltung die tiefsten Bereiche der menschlichen Psyche erfassen,
die eine Anschauung der letzten Wirklichkeit, eine Anschauung über
die Beschaffenheit des Alls vermitteln, welche nahezu identisch
ist mit den gescheitesten und fortschrittlichsten Gedanken moderner
Physik - zu jener Wahrheit also, die man - was auch immer sein möge
- das Dharma nennt.
Was als nächstes folgt, ist die Vertiefung des Verständnisses
durch praktische Erfahrung: Abstraktes philosophisches Verständnis
ist einfach nicht genug. An diesem Punkte finden viele, der Schreibende
inbegriffen, im Buddhismus eine praktische Methode, um sich seinen
Geist von den Plattheiten, Vorurteilen und falschen Werten zu saubere,
die wir uns durch Gewohnheit arttrainiert hatten. Und was noch wichtiger
ist: einen Zugang zu finden zum grundsätzlichsten Problem,
nämlich in das tiefste selbstlose Selbst einzudringen. Heute
haben wir schon viele unter uns die tief in die Wege des Zen, Vajrayana,
Yoga, des Schamamsmus und der ,Psychedelics eingedrungen sind. Buddhismus
ist ein langer, sanfter menschlicher Dialog (2500 Jahre ruhigste
Konversation) über die Natur menschlicher Natur und über
die Natur des menschlichen Dharma.
Im Verlauf solcher Studien wird offensichtlich, daß die Wahrheit,
die wir durch den Buddhismus und Hinduismus finden, nicht in irgendeiner
Weise abhängig ist von der indischen oder chinesischen Kultur.
Und daß Indien und China als Kulturen mindestens so schwer
auf den Menschen lasten wie alle anderen, wenn nicht gar schlimmer.
Es wird sogar offensichtlich, daß der Hinduismus und der Buddhismus
als soziale Institutionen lange in Komplizenschaft mit dem Staat
standen, um so die Leute viel mehr zu peinigen und zurückzubinden
als ihnen zu dienen und sie zu befreien. Wir fanden aber auch bedeutende
Ähnlichkeiten in gewissen kleinen aber einflußreichen
unorthodox-ketzerisch-halbketzerisch-esoterischen Außenseiter-Bewegungen.
Diese Außenseiter-Schulen des Denkens und der praktischen
Ausübung wurden gewöhnlich, in welcher Gesellschaft auch
immer unterdrückt, oder sie wurden stark verwässert und
unwirksam gemacht, sei es als Hexerei in Europa, als
,Tantrismus in Bengalen, als Quäker
in England als Tachikawa-ryu in Japan oder Zen in China.
All diese Bewegungen sind sehr wahrscheinlich Abkömmlinge
der großen Subkulturen, die die ganze Geschichte hindurch
im Untergrund zu leben scheinen; oft in Verbindung mit großen
Religionen, aber in Wirklichkeit noch viel älter als diese
und insofern verschieden von ihnen, als daß diese Menschen
Generation für Generation in Gemeinschaft lebten und leben,
daß sie keine Einwände gegen das Sexuelle haben und daß
sie sich den etablierten Ordnungen und Gepflogenheiten der Zivilisation
eindeutig entgegenstellen. Das sind die Lehren, die besagen, daß
dem natürlichen menschlichen Sein vertraut und gefolgt werden
soll; daß wir auf der Suche nach dem tieferen Selbst nicht
an ein von außen auferlegtes Gesetz oder Modell uns halten
müssen; und daß man, indem man seiner natürlichen
Eingebung folge wahrhaft moralisch sei. Und noch weiter:
Um sein natürliches Sein zu leben, ist es nötig, voll
und ganz in die negativen und dämonischen Potenzen im Unbewußten
zu schauen. Und indem man sie erkennt (sie sogar symbolisch herausarbeitet),
befreit man sich von diesen Kräften. Durch diese Art von Geisterbeschwörung
und rituellem Drama zerstört die große Subkultur und
ihre Schulen die Alleingültigkeit von Kirche und Staat (oder
mindestens ihren Anspruch, allein selig zu machen). Aber all das
wirkt sich auf die Zivilisation selbst zerstörerisch aus, denn
Zivilisation ist auf Hierarchie und Spezialisierung aufgebaut. Eine
herrschende Klasse muß, um als solche zu überleben, Gesetze
erlassen; ein Gesetz, das befolgt werden soll, muß in der
sozialen Psyche verankert sein, und der wirksamste Weg, dies zu
tun, besteht darin, die Leute an ihren natürlichsten Eigenheiten
und Instinkten zweifeln zu machen, besonders an so fundamentalen
wie den sexuellen. Die menschliche Natur mit Verdacht zu belegen
heißt gleichfalls die Natur - die Wildnis - zum Gegner zu
machen. Daher die öcologische Krise von heute.
Wir begannen (wie viele westliche Denker vor uns) zu vermuten daß
Zivilisation als solche überschätzt und überbewertet
worden ist. Falls nun einer kommt und sagt, es sei völlig lächerlich,
jeder vernünftige Mensch wisse wie unerläßlich Zivilisation
heute sei, dann empfehlen wir ihm, einmal in kultureller Anthropologie
zu lesen, mal einen Blick auf das Leben südafrikanischer Buschmenschen,
mikronesischer Seeleute, auf die kalifornischen IndianInnener und
die Gedanken von Claude Levi-Strauss zu werfen. Wir sind der Meinung,
daß alles, was über das Wohlergehen der Menschheit gedacht
worden ist, neu überdacht werden muß Der Stamm, so scheint
uns, ist die neueste Entwicklung in den Subkulturen. Fast ungewollt
haben wir uns mit einer Überlieferung von Werten getroffen
mit einer potentiellen sozialen Ordnung und Techniken der Vertiefung
und Einsicht verbunden die von prähistorischen Zeiten her noch
am Leben sind.
Viele der fortgeschrittensten Entwicklungen moderner Wissenschaft
und Technologie sind zu Ansichten gelangt, die die unsrigen unterstützen
helfen. Es ist folglich der moderne .Stammes-Mesnsch
mit seiner Kritik an der heutigen Zivilisation nicht der rückständige,
sondern wahrscheinlich der relevanteste Typ der gegenwärtigen
Zeit. Nationalismus, Vernichtungskriege, heute noch aktuelle Schwerindustrie
und Konsumententum sind bereits überholte und zwecklose Erscheinungen.
Der nächste große Schritt der Menschheit ist der Schritt
in die Entfaltung ihres Geistes, die grundlegende Frage: Was ist
der Mensch? Und wir müssen die wissenschaftlichen Erkenntnisse
auf schöpferische und geistige Art anwenden um dieser Frage
nachzugehen! Ein Mensch mit internationaler Erfahrung ein Mensch,
der lernt und Muße kennt - Muße, dies höchst entwickelte
Produkt der Geschichte - hat allen Grund, ein einfaches Leben zu
begehren. Ein Leben mit wenig Werkzeug, in handgefertigten Kleidern
nahe der Natur.
Denn die Revolution hat es hinter sich, eine rein ideologische
Angelegenheit zu sein. Stattdessen sind heute einige Menschen derart
beschäftigt, Revolution zu realisieren: Kommunismus in kleinen
Gemeinschaften neue soziale Organisationen. Eine Million Menschen
in Amerika, eine weitere Million in Europa Ein riesiger Underground
in Rußland, der in den nächsten drei vier Jahren ans
Licht kommen wird, liegt jetzt noch im Stillen, seine Zeit abwartend.
Wie erkennen diese Menschen einander? Nicht immer an den Bärten,
langen Haaren, nackten Füßen oder an den Ketten um den
Hals. Das wahre Zeichen ist ein gewisser leuchtender und sanfter
Blick, eine gewisse Ruhe und Herzlichkeit Frische und Gelöstheit
im Benehmen. Männer, Frauen und Kinder - die alle miteinander
hoffen, den zeitlosen Pfad der Liebe und Weisheit zu beschreiten,
um in herzlicher Gemeinschaft mit Stürmen, Wind und Wolken,
Baumen, Wasser, Tieren und Gräsern zu leben - das ist der Stamm.
- 1967-
Thanks to Gary Snyder.
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