Sterneck.Net



STERNECK.NET

Cybertribe-Archiv

Utopia  |  Politik  |  Ökologie  |  Gender  |  Sex  |  Cyber
Ritual  |  Drogen  |  Musik  |  Literatur  |  Vision  |  Projekte  |  English

Claus Sterneck / Claus in Iceland
Claus in Iceland  |  Pictures+Sounds  |  Ausstellungen  |  Musik  |  Facebook  |  News  |  English

Wolfgang Sterneck
Artikel+Texte  |  Foto-Reportagen  |  Bücher  |  Workshops  |  Musik  |  Facebook  |  News  |  English

Archiv Sterneck.net
www.sterneck.net contact@sterneck.net

Rainer Funk:

DER HUMANISMUS ERICH FROMMS

1. Einleitung

An dem Tag, an dem Erich Fromm 95 Jahre alt geworden wäre, hier in der Karls-Universität zu Prag über seinen Humanismus zu sprechen, weckt ein Reihe von Gedanken, denen ich einleitend erst Ausdruck verleihen muß: In kaum einer Stadt dieser Erde ist das Bekenntnis zum Humanismus, zu einer am Menschen orientierten Kultur und Politik und zu einem dritten Weg so lebendig gewesen und zugleich mit so viel Opfern verteidigt worden wie in Prag. Dem Völkermord und der Barbarei des Nationalsozialismus folgte die Hoffnung auf eine neue, humanere Gesellschaft. Doch Stalinismus und sozialistischer Bürokratismus drohten die Hoffnung immer mehr zu ersticken, freilich ohne sie zerstören zu können. Gerade hier in Prag drängte der Humanismus wieder an die Oberfläche, vergleichbar einer Blume, die im Frühling den frostigen Boden durchbrechen muß, weil dies das Gesetz des Lebens verlangt. Es wundert deshalb nicht, daß Fromms Humanismus, den er selbst hier vor 30 Jahren vertrat, auf wache Menschen und offene Ohren stieß.

Das Wissen um eine humanistische Alternative, personifiziert in den Trägern des sog. "Prager Frühlings", wurde jedoch von einem autoritären System niedergewalzt. In meiner Erinnerung tauchen die Fernsehberichte wieder auf, als die russischen Panzer den Wenzelsplatz okkupierten. Diese Erinnerungsbilder mischen sich mit jenen, 20 Jahre später, als ostdeutsche Menschen in die deutsche Botschaft in Prag drängten und als der Wenzelsplatz erneut besetzt wurde, doch dieses Mal von freiheitshungrigen Menschen.

Inzwischen sind einige Jahre vergangen und die Frage drängt sich erneut auf: Wo ist die Hoffnung, wo sind der Frühling und das Leben geblieben? Wo ist der Glaube an eine humanistische Alternative geblieben? Hat der Humanismus wirklich eine Chance bekommen? Oder hat eine andere Besetzung stattgefunden: eine Besetzung mit Reklametafeln und westlichen Investoren? Eine Besetzung, die nicht mit äußerem Druck arbeitet, sondern zu einer inneren Besessenheit führt - einer Besessenheit von Geldgier, Habenmüssen, Geschäftemachenmüssen, Sich-Verkaufenmüssen?

Die Bevormundung durch offene Autoritäten, durch Staat, Partei, bürokratisierten Sozialismus hat aufgehört. Die Bedrohung des Humanum hat damit aber nicht aufgehört. In Wirklichkeit ist sie noch größer geworden: Je mehr die Marktwirtschaft die Seelen der Menschen erfaßt, desto mehr drohen die Menschen ihr Menschsein, ihr Eigensein und ihre Individualität zu verlieren. Sie werden sich selbst fremd, weil sie sich nicht mehr von ihrem Sein, sondern vom Haben und Konsumieren, vom Sich-Verkaufen und Gut-Ankommen-Müssen, von ihrer Verpackung und ihrem Marktwert her definieren müssen. Nicht der äußere Druck, die Staatsmacht, bedroht die humanistische Alternative, sondern der mit der Marktwirtschaft einhergehende Ausverkauf des Menschsein.

Bevor ich näher auf die Frage des Humanismus angesichts der Marktwirtschaft zu sprechen komme, möchte ich zuerst genauer skizzieren, was Erich Fromm unter Humanismus versteht.


2. Das Verständnis von Humanismus bei Erich Fromm

Humanismus wird traditionell als Glaube an den Menschen begriffen, bei dem sowohl die Würde des Menschen und seine Individualität wie auch die potentielle Gutheit des Menschen und seine Vervollkommnungsfähigkeit auf ein optimales Menschsein hin betont werden. Sofern der Humanismus als Reaktion auf machtgebietende Religionen und Kirchen Bedeutung erlangte, hat er zugleich eine religionskritische Funktion und unterstreicht er die Verantwortung und die eigene Anstrengung des Menschen; wo er gegen das Irrationale von Staat, Militär und Gesellschaft antritt, betont er Vernunft, Frieden und Toleranz. Fromms Verständnis von Humanismus steht in dieser aufklärerischen Tradition, doch sind für ihn vor allem zwei Aspekte des Humanismus von besonderem Interesse: (1) die Betonung der Einheit der Menschen auf Grund von Gemeinsamkeiten und (2) die Betonung einer humanen Einstellung und Haltung auf Grund der Verwirklichung der menschlichen Eigenkräfte Vernunft und Liebe.

(1) Was eint die Menschen? In einer Zeit, in der der Egoismus und der Nationalismus zur privaten und öffentlichen Religion werden und das Ideal der Solidarität mit dem real existierenden Sozialismus ausgelöscht wird, wird die Frage, was überhaupt Menschen einen kann, zur Überlebensfrage. In seinem humanistischen "Credo" am Ende des Buches Jenseits der Illusionen (1962a, GA IX, S. 154) bekennt Fromm: "Ich glaube, daß jeder Mensch die Menschheit repräsentiert. Wir unterscheiden uns in bezug auf unsere Intelligenz, unsere Gesundheit und unserer Begabung. Und trotzdem sind wir alle gleich: Wir alle sind Heilige und Sünder, Erwachsene und Kinder, und keiner steht über dem anderen oder ist sein Richter." Diese Beobachtung bedeutet nichts anderes, als daß die "menschliche Situiertheit" (conditio humana) "für alle Menschen die gleiche ist, und dies trotz der unvermeidlichen Unterschiede bezüglich Intelligenz, Begabung, Größe und Hautfarbe" (E. Fromm 1964a, GA II, S. 222).

Mit der Feststellung, daß das Gemeinsame der Menschen in ihrer Situiertheit zu suchen ist, ist eine wichtige Weichenstellung getroffen. Das, was die Menschen verbindet und was deshalb ihr Wesen ausmacht, sind nicht bestimmte Fähigkeiten, mit denen die Menschen sich untereinander oder von ihren tierischen Vorfahren abgrenzen. Das Wesen des Menschen läßt sich aber auch nicht mit Hilfe jener Attribute fassen, mit denen traditionell der Mensch definiert wird; nicht die Tatsache, daß der Mensch ein animal rationale, animal sociale, ein homo ludens, ein homo faber oder ein zoon politikon ist, begründet den Humanismus. Es sind auch nicht die Antworten, die der Mensch im Laufe seiner Kulturentwicklung auf die Herausforderungen des Lebens gegeben hat, die seine "menschliche Natur" ausmachen und deshalb die Menschen verbindet. "Die Fragen, nicht die Antworten machen das Wesen des Menschen aus," sagt Fromm (E. Fromm, 1968g, GA IX, S. 379).

Was sind "die Fragen des Menschen"? Die Fragen gründen in der Situiertheit des Menschen und diese zeichnet sich durch Widersprüche - Dichotomien - aus. Der Mensch "ist Teil der Natur, er ist ihren physikalischen Gesetzen unterworfen, die er nicht verändern kann, und dennoch transzendiert er die übrigen Natur" auf Grund des Bewußtseins seiner selbst, seiner Vernunftbegabung und seines Vorstellungsvermögens. "Er ist heimatlos und trotzdem an die Heimat gefesselt, die er mit allen Kreaturen gemeinsam hat... Da er sich seiner selbst bewußt ist, erkennt er seine Machtlosigkeit und die Grenzen seiner Existenz. Er sieht sein eigenes Ende - den Tod - voraus." (E. Fromm, 1955a, GA IV, S. 21; vgl. ders., 1947a, GA II, S. 30.) Aus dem Bewußtsein unseres Sterbenmüssens resultiert eine weitere wichtige Frage, die uns Menschen eint: Was ist der Sinn unseres begrenzten Lebens? Wir ahnen den nächsten Widerspruch, in den wir hineingestellt sind, den Widerspruch zwischen dem, was wir in unserem Leben gerne verwirklichen möchten, und dem, was wir hiervor verwirklichen können. Ein anderer Widerspruch ergibt sich aufgrund unseres mannigfachen Angewiesenseins einerseits und unserem Alleinsein andererseits. Alle diese Widersprüche sind allen Menschen zueigen; sie sind es, die uns mit den anderen Menschen verbinden.

Fromm hat einige dieser existentiellen Widersprüche benannt und sie auf ihre psychische Relevanz hin zu fassen versucht. So kommt er zu einer ganzen Reihe von existentiellen Bedürfnissen, etwa dem psychischen Bedürfnis nach Bezogenheit, das jeder Mensch hat und das auch jeder Mensch auf die eine oder andere Weise befriedigen muß. Die Tatsache aber, daß jeder Mensch auf Grund seiner Situiertheit dieses Bedürfnis hat und befriedigen muß, ohne daß dadurch das Bedürfnis aus der Welt geschaffen werden könnte, dies verbindet ihn mit allen anderen Menschen und macht seine Natur aus. Nicht das historisch bedingte Wie der Befriedigung verbindet, sondern die Endlichkeit, das Alleinsein, die Bedürftigkeit, das Angewiesensein ist allen Menschen gemeinsam. Denn "die Fragen, nicht die Antworten machen das Wesen des Menschen aus" (E. Fromm 1968g, GA IX, S. 379).

Fromms verbindet die Frage, was die Menschen eint, mit der von Freud entwickelten Sicht des Unbewußten des Menschen. Freud "nahm an, daß alle Menschen dieselben unbewußten Strebungen haben und daß sie daher einander verstehen können, wenn sie es nur wagen, in die Unterwelt des Unbewußten hinabzutauchen." (E. Fromm, 1962a, GA IX, S. 48.) Das Unbewußte des Menschen ist für Fromm deshalb nicht nur das, was die Kultur und Gesellschaft verdrängt. Vielmehr enthält es das ganze Spektrum möglicher Antworten, die der Mensch auf seine existentiellen Bedürfnisse zu geben vermag. Grundsätzlich hat "der Mensch in einer jeden Kultur alle Möglichkeiten: Er ist der archaische Mensch, das Raubtier, der Kannibale, der Götzendiener, und er ist zugleich das Wesen mit der Fähigkeit zu Vernunft, Liebe und Gerechtigkeit." (E. Fromm, 1963f, GA IX, S. 10.)

Der Mensch hat in seinem Unbewußten alle Möglichkeiten und die Frage ist nur, welche Möglichkeiten gefördert und welche nicht gefördert werden. Da es den Menschen nicht anders denn als gesellschaftliches Wesen gibt, entscheidet die besondere Art von Gesellschaft, in der ein Mensch lebt, welche Möglichkeiten bevorzugt werden. Jede Gesellschaft formt die Energien der Menschen derart, daß sie das tun wollen, was sie zum Funktionieren der Gesellschaft tun müssen. "So werden die Bedürfnisse der Gesellschaft in persönliche Bedürfnisse verwandelt, sie werden zum "Gesellschafts-Charakter"." (A. a. O., S. 9.) Der Mensch einer kriegerischen Gesellschaft muß den Wunsch haben, anzugreifen und zu rauben; der Mensch in der modernen Industriegesellschaft muß arbeiten, Disziplin haben, ehrgeizig und aggressiv sein wollen - er muß sein Geld ausgeben, und er muß konsumieren wollen - nicht weil es seine Natur wäre, sondern weil dies eine bestimmte Gesellschaft zu ihrem Funktionieren so braucht.

Jede Gesellschaft fördert aber nicht nur bestimmte Möglichkeiten, die im Unbewußten des Menschen zur Verfügung stehen, indem sie diese bewußt macht und sich der Einzelne mit ihnen identifiziert, es werden auch Möglichkeiten und Neigungen unterdrückt und verdrängt, die den gesellschaftlichen Verhaltensmustern - dem Gesellschafts-Charakter - widersprechen. So kommt es, daß "unser Bewußtsein hauptsächlich unsere eigene Gesellschaft und Kultur (repräsentiert), während unser Unbewußtes den universalen Menschen in einem jeden von uns repräsentiert" (E. Fromm, 1964a, GA II, S. 223).

Nicht das, was die Menschen voneinander trennt, nicht die verschiedenen historisch bedingten möglichen Antworten und gesellschaftlich vorgegebenen Verhaltensmuster machen das Wesen des Menschen aus und verbinden die Menschen, sondern die allen Menschen gemeinsamen Fragen, das heißt ihre existentiellen Widersprüche und Bedürfnisse, und die Tatsache, daß das Unbewußte den ganzen und universalen Menschen mit all seinen Möglichkeiten repräsentiert. In seinem Unbewußten erlebt der Mensch die ganze Menschheit und sich "als Sünder und Heiligen, als Kind und als Erwachsenen, als geistig Gesunden und als Geistesgestörten, als Mensch der Vergangenheit und als Mensch der Zukunft" (E. Fromm, 1964a, GA II, S. 223.)

Mit der Erkenntnis, daß das Unbewußte unabhängig vom gesellschaftlich Bewußten und Verdrängten den ganzen Menschen mit all seinen Möglichkeiten repräsentiert, begründet Fromm also nicht nur theoretisch die humanistische Grundüberzeugung von der Einheit der Menschen; sobald ein Mensch sich auf sein Unbewußtes einläßt, sich seines Unbewußten bewußt wird und also seine anderen Möglichkeiten in Erfahrung bringt, entfaltet er sich, wächst er und macht er die paradoxe und produktive - oder wie Fromm gerne auch sagt: die humanistische Erfahrung, daß er vernünftig und liebend auf sich und zur Welt und zum Menschen bezogen sein kann, weil ihm nichts Fremdes mehr wirklich fremd ist. Nur im Sich-Einlassen auf das Unbewußte, auf den ganzen Menschen in einem selbst, in der Verwirklichung der eigenen Individualität, kommt der Mensch zum Erleben des universalen Menschen, denn "nur das ganz entwickelte individuelle Selbst kann das Ego aufgeben" (E. Fromm, 1962a, GA IX, S. 154).

(2) Damit komme ich zum zweiten wesentlichen Merkmal des Frommschen Humanismus. Nach Fromm gibt es eine humanistische Alternative nur für den, der wenigstens ansatzweise die humanistische Erfahrung spüren kann, liebend und vernünftig auf sich und die Welt bezogen zu sein. Fromm geht es um die Entfaltung der liebenden und vernünftigen Eigenkräfte des Menschen, die eine humanistische Orientierung und Haltung ermöglichen. Er hat diese Grundhaltung innerhalb seiner Charakterologie mit dem Begriff der Produktivität und der produktiven Orientierung, der Biophilie und Orientierung am Sein verdeutlicht. Diese Produktivität zeigt sich darin, daß der Mensch sich in seinen Eigenkräften erfährt.

Je mehr der Mensch sich selbst als Autor, Akteur, Subjekt seines Lebens erfährt und also er selbst es ist mit seinen eigenen Kräften, der denkt, fühlt und handelt, entwickelt er auch seine Kräfte der Vernunft und der Liebe, mit denen er ganz bei der Welt und beim anderen Menschen sein kann, ohne sich selbst zu verlieren. Das Bewußtwerden des ganzen Menschen macht die seelischen Kräfte zu solchen, die ihren Ursprung im Menschen selber haben. Entwickelt der Mensch mit ihrer Hilfe ein authentisches Selbst, dann wird er zu optimaler Nächstenliebe bei optimaler Selbstliebe fähig, dann findet der Einzelne sich selbst im Nächsten wieder, ohne seine eigene Integrität oder die Integrität des anderen zu verletzen (dies bedeutet produktive Liebe bei Fromm) und dann vermag er die Wirklichkeit in ihrer ganzen Objektivität zu erkennen aufgrund seiner ganzen Subjektivität (dies bedeutet produktive Vernunft bei Fromm).

Vernunft ist deshalb nicht das "know how" und auch nicht eine verstandesmäßige Erfassung der Wirklichkeit; Vernunft hat nichts mit "manipulativer Intelligenz" oder "instrumenteller Vernunft" zu tun. Vernunft ist vielmehr die Fähigkeit zur Einheitserfahrung mit der äußeren und inneren Wirklichkeit. Weil die Vernunft ihren Ursprung im ganzen Menschen, also auch im Unbewußten hat, ist sie nicht nur kausal-logisch, sondern auch paradox-logisch. Sie ist die Fähigkeit, sich mit einer Katze, einer Rose, einem Gegenstand so sehr eins zu erleben, daß die mit der Vernunft wahrgenommene Wirklichkeit nichts Fremdes und Anderes mehr ist, sondern etwas zutiefst Eigenes und mit mir Eines.

Ähnliches gilt für die humanistische Eigenkraft der Liebe. Sie ist die Fähigkeit, sich mit all seinen geistigen, emotionalen und körperlichen Kräften eins zu wissen und sich in diesem positiven Bezug zu sich selbst - in dieser "Selbstliebe" - zugleich eins zu wissen mit den Menschen und der Natur, ohne hierbei sich selbst aufzugeben oder den anderen zur Aufgabe seines Andersseins zu bewegen. Liebe ist die Fähigkeit, das Fremde und Andere als das Eigene und das Eigene im Fremden und Anderen zu erleben und sich im Erleben des Fremden als Eigenen mit dem Anderen eins zu fühlen.

Hat einer solcher Humanismus heute eine Chance? Führt die neue äußere Freiheit - die freie Marktwirtschaft und Demokratie - auch zum Wachstum unserer Eigenkräfte, zu mehr vernünftiger und liebender Bezogenheit? Welche psychischen Auswirkungen hat die Marktwirtschaft? - Um die Bedeutung des Frommschen Humanismus für die gegenwärtige Situation verdeutlichen zu können, möchte ich im folgenden Abschnitt zunächst zeigen, was im Innern der Menschen vor sich geht, wenn die autoritären Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen sich auflösen und an ihre Stelle marktwirtschaftliche Organisationsformen treten, um dann in einem letzten Abschnitt psychologische Aspekte der humanistischen Alternative, die Fromm vertritt, zu benennen.


3. Die psychischen Folgen der Marktwirtschaft

Das Erscheinungsbild des durch die Marktwirtschaft geprägten Menschen hat Fromm seit den vierziger Jahren erforscht und mit dem Begriff Marketing-Orientierung belegt. Mit dieser Gesellschafts-Charakterorientierung ist eine Grundleidenschaftlichkeit, ein Grund"trieb" des sogenannten "modernen" Menschen gemeint, der sein gesamtes Verhalten bestimmt. Den Marketing-Orientierten motiviert nicht das, was er aus sich heraus tun will, was er fühlt, denkt, zu realisieren sucht; nicht das, was er in sich spürt, was er sich wünscht, wonach er sich sehnt, womit er sein Eigensein und seine Eigenkräfte in Erfahrung bringen kann, motiviert sein Verhalten, sondern das, was "man" tut, wie "man" sich verhält, was "man" von ihm erwartet, was sich verkaufen läßt, womit er bei anderen gut ankommt, was sich rechnet, was ihm etwas bringt, womit er erfolgreich ist - kurzum das, was auf dem Markt geht.

Der Markt ist das Subjekt des Geschehens, nicht der Mensch und sein Bedürfnis, sich zu verwirklichen und seine Eigenkräfte zu realisieren. Der Mensch wird sich seiner selbst fremd. Um seiner besseren Verkäuflichkeit auf dem Markt willen abstrahiert er von seinem Eigensein und Anderssein, geht zu sich auf Distanz und schlüpft in eine ihm mehr oder weniger fremde Rolle. Der Prozeß der Selbstentfremdung kulminiert in der Marktwirtschaft in der Projektion aller lebendigen Selbstanteile auf die vom Menschen selbst geschaffenen Produkte.

Die Selbstwahrnehmung des Marketing-Orientierten ist durch Leere, Inhaltslosigkeit und durch eine Art "Charakterlosigkeit" gekennzeichnet. "Alles ist Betrieb geworden," sagt Fromm 1977 in einem Interview (E. Fromm, 1993b, S. 28), "alles muß funktionieren und sich verwerten lassen. Es gibt kein Identitätsgefühl, vielmehr nur seelische Leere. Man hat weder Überzeugungen noch echte Ziele." Kann der Marketing-Charakter wie zum Beispiel an Feiertagen, im Urlaub, nach Dienstschluß nicht funktionieren und sich vermarkten, dann quälen ihn Langeweile, Phantasielosigkeit und ein Hunger nach etwas, was er konsumieren kann (Chips, Zigaretten, Erdnußkerne, Fernsehen) oder womit er sich stimulieren kann (Sport, action, Sex, Gewaltdarstellung). Sein tatsächliches Grundgefühl ist: Ich bin nichts; ich bin wie ein Chamäleon; ich bin meine Rolle; ich bin nur Hülle, die sich je anders füllen läßt; ich bin das, was die anderen aus mir machen; ich bin nur ein Spiegel; erst das Echo und der Erfolg beleben mich; ich lebe nicht, sondern werde belebt; ich bin wie eine Zwiebel: nur Schalen, kein Kern.

Selbstentfremdung gibt es nicht nur in der Marktwirtschaft. Bereits in den dreißiger Jahren entwickelte Fromm im Zusammenhang mit der Entdeckung des autoritären Charakters sein Verständnis von Entfremdung als symbiotische Abhängigkeit in autoritären wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen. Entfremdung bedeutet hier, daß Eigenschaften und Eigenkräfte, die potentiell oder faktisch zum Menschen gehören, auf eine Autorität - den Kapitaleigner, den Staat, die Kirche, die Partei - projiziert werden. Nicht der einzelne ist Träger von Weisheit, Macht, Recht, Fürsorglichkeit usw., sondern die Autorität, die sozialistische Gesellschaft, die Kirche, die Funktionäre usw. Indem man sich in autoritären Systemen seiner Eigenkräfte entfremdet und sie auf die Autorität projiziert, sind sie aber nicht einfach verloren. Man kann mit ihnen wieder in Kontakt kommen, indem man sich der Autorität unterwirft und sich als treuer und ergebener Diener der Autorität versteht. Kennzeichnend für eine solche, durch Unterwerfung unter eine Autorität bewirkte Entfremdung ist eine tiefe Bindung und Abhängigkeit von der Autorität.

Mit der Veränderung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen in diesem Jahrhundert kam es zum Zusammenbruch der autoritären Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft und damit auch zu einer wesentlichen Veränderung im Prozeß der Entfremdung. Da es kein machtvolles Gegenüber mehr gibt, das Bestand hat, sondern nur der anonyme Markt, der heute so und morgen so aussieht und also keine feste Größe ist, fällt die Möglichkeit aus, seine Eigenkräfte zu verdrängen, indem sie auf die Autorität projiziert werden, um sich gleichzeitig unterwürfig an die Autorität zu binden.

Die Notwendigkeit zur Entfremdung des Menschen von seinen Eigenkräften ist auch in der Marktwirtschaft geblieben. Auch der Markt verlangt, daß man sich in seinen Dienst stellt. Unternehmer, Aufsichtsräte, Manager, Arbeiter, Angestellte tun alles, um am Markt zu bleiben, aber der Markt kann keine feste Bindung brauchen. Der Projektionsmechanismus, mit dem sich der Mensch jetzt seiner lebendigen Eigenkräfte entledigen soll, damit der Markt lebt, muß gewährleisten, daß es zu keinem Erleben von Bindung kommt. So hat sich eine Form der Projektion entwickelt, die nicht symbiotisch auf Bindung aus ist, sondern schizoid auf Abspaltung und Verleugnung und die unter psychologischen Gesichtspunkten um vieles pathologischer ist als die Projektion nur verdrängter Eigenkräfte und Persönlichkeitsanteile des autoritären Charakters. Indem der Marketing-Orientierte seine Eigenkräfte - seine Aktivität, sein eigenes Denken, Fühlen und Handeln, seine Fähigkeit zu Freude, Liebe, Vertrauen, Zärtlichkeit usw. verleugnet und von sich abgespaltet, hat er keine Verbindung mehr zu ihnen, sondern sind sie da draußen, streng von ihm getrennt, in den von ihm geschaffenen Produkten. In dieser Distanzierung von ihm müssen sie aber auch bleiben.

Das distanzierende Moment bei der Entfremdung in der Marktwirtschaft hat psychisch folgende Wirkungen:

(1) Es kommt zu einer generellen "Außenorientierung" (D. Riesman, 1950) oder "Haben-Orientierung", bei der gilt, daß alles, was außerhalb des Menschen ist, wertvoller ist, und daß alles, was zum Menschen als Menschen gehört, zu verleugnen und abzuspalten ist. Um mit den Worten Fromms zu sprechen: "Heute ist der Mensch nur wirklich, insofern er irgendwo draußen steht. Er wird erst durch die Dinge, durch das Eigentum, durch seine soziale Rolle, durch seine "Persona" konstituiert; als lebendiger Mensch aber ist er nicht wirklich." (E. Fromm, 1992b, S. 30.)

"In letzter Konsequenz drückt die Aussage: "Ich (Subjekt) habe O (Objekt)", eine Definition meines Ichs durch meinen Besitz des Objekts aus. Das Subjekt bin nicht ich selbst, sondern ich bin, was ich habe. Mein Eigentum begründet mich und meine Identität... In der Existenzweise des Habens gibt es keine lebendige Beziehung zwischen mir und dem, was ich habe. Es und ich sind Dinge geworden, und ich habe es, weil ich die Möglichkeit habe, es mir anzueignen. Aber es besteht auch die umgekehrte Beziehung: Es hat mich, da mein Identitätsgefühl bzw. meine psychische Gesundheit davon abhängt, es und so viele Dinge wie möglich zu haben. Die Existenzweise des Habens wird nicht durch einen lebendigen, produktiven Prozeß zwischen Subjekt und Objekt hergestellt. Sie macht Subjekt und Objekt zu Dingen. Die Beziehung ist tot, nicht lebendig." (E. Fromm, 1976a, GA II, S. 325f.)

Die Marketing-Orientierung führt zu einer Verdinglichung des Menschen. Sie macht den Menschen zum Ding, während den Dingen Attribute des Menschseins und des Lebendigen zugesprochen werden. Die Menschen sind wie Dinge; sie "...haben Nasen und riechen nicht, sie haben Ohren und hören nicht, und sie haben einen Mund und sprechen nicht" (E. Fromm, 1992b, S. 27), weil sie ihre sinnlichen und lebendigen Eigenkräfte abgespalten und auf die von ihnen geschaffenen Dinge projiziert haben.

(2) Mit der Haben-Orientierung kommt es zu einer suchthaft-kontrollierenden Abhängigkeit von den Objekten des Habens, jenen belebten Gegenständen, die im Prozeß der Selbstentfremdung durch den Verkauf des Menschseins die Träger der lebendigen Eigenkräfte des Menschen sind. Solche Gegenstände des Habens sind nicht nur materielle Größen, sondern auch mein Wissen, meine Beziehungen, mein Durchsetzungsvermögen, meine Überzeugung, meine Kinder, meine Spezialisierung, meine Anpassungsfähigkeit. Auf diese Gegenstände des Habens bin ich angewiesen, ohne einen unmittelbaren lebendigen und menschlichen Bezug zu ihnen zu haben. Ich kann ohne sie nicht leben, denn sie begründen mich und mein Sein. Ich bin, was ich habe. Die sich heute immer noch verstärkende Suchttendenz ist ein direkter Ausdruck dieser Abhängigkeit vom Haben. Jede Art von Belebung und Sein wird von außerhalb erwartet, sind doch die von Menschen geschaffenen Produkte in der Wahrnehmung des Marketing-Orientierten die eigentlichen Träger des Menschlichen und Lebendigen.

Im Alltag zeigt sich diese Abhängigkeit von Gegenständen des Habens, die als Träger meiner Eigenkräfte halluziniert werden, darüber hinaus in einer tödlichen Langeweile, wenn der Marketing-Orientierte nicht stimuliert wird. Wann immer der Mensch sich selbst erleben will, bedarf es permanenter vor allem sinnlicher Stimuli, die ihm beweisen, daß es ihn gibt. Solches Angewiesensein auf Stimulation zeigt sich zum Beispiel im Wunsch, überlaute Musik zu hören oder mit schnell folgenden Bildschnitten das Erlebnis von "action" zu haben oder im Rausch der Geschwindigkeit, der den raschen Wechsel der Reize garantiert.

(3) Eine dritte psychische Folgeerscheinung der Marketing-Orientierung ist der Verlust eines Selbstwerterlebens, das im eigenen Vermögen, im eigenen Empfinden, Fühlen, Denken, Handeln begründet läge. Wo der Mensch sich minderwertig und unwert erlebt oder wo er sich selbst überhaupt nicht mehr spüren und erleben kann, da kommt es zu massiven und panischen Selbstverlustängsten. Wie ein Blick in die Praxen der Ärzte und Therapeuten zeigt, leiden immer mehr Menschen an solchen eigentlich völlig "unbegründeten" Verlustängsten und können nicht anders, als sie mit der Einnahme von Psychopharmaka zu überdecken oder abzuschwächen. Andere haben eigene psychische Abwehrkräfte, um diese äußerst bedrohlichen Selbstverlustängste nicht wahrnehmen zu müssen. Sie idealisieren sich narzißtisch selbst und erleben als Bedrohliche, Beängstigende als von außen kommend. Auf diese Weise können sie zwar ihre Selbstverlustängste kompensieren, doch werden sie immer einsamer und verletzlicher. Zudem führt die für den Narzißmus typische Spaltung in grandiosem eigenem Selbst einerseits und bedrohlicher Umwelt andererseits über kurz oder lang zu einem Rückzug vom Marktgeschehen.

Die hier nur skizzenhaft dargestellten negativen psychischen Folgeerscheinungen der Marketing-Orientierung sollten deutlich machen, wie gefährdet die humanistische Vision heute ist, und zwar gerade durch jene wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung, die als Segnung des Westens gepriesen wird. Dies im Blick möchte ich abschließend vom Frommschen Humanismus aus nach den Möglichkeiten der Wiederbelebung des Menschen als Menschen fragen und deutlich machen, daß gerade das Frommsche Verständnis von Humanismus einen Weg aus dem Dilemma zwischen der Skylla autoritärer Strukturen und der Charybdis marktwirtschaftlicher Selbstentfremdung sein kann.


4. Humanismus und die Wiederbelebung des Menschen als Menschen

Läßt sich der durch die Marktwirtschaft seiner selbst entfremdete und leblos gewordene Mensch wiederbeleben? Unter welchen psychologischen Voraussetzungen hat der Humanismus Fromms ein Chance und kann es zu einer Wiederbelebung des Menschen als Menschen kommen? Die Referate im Universitätshaus Krystal morgen und übermorgen werden sich mit den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Voraussetzungen und Ansätzen der humanistischen Alternative befassen. Ich möchte abschließend vier psychologische Voraussetzungen des Frommschen Humanismus zur Sprache bringen.

(1) Eine Wiederbelebung des Menschen als Menschen kann es (erstens) nur geben, wenn der Mensch wieder lernt, sich auf seine produktiven Eigenkräfte zu besinnen - wenn er also das, was in ihm ist, als wertvoller ansehen kann, als das, was er sich aneignen kann. Dazu bedarf es einer bewußten Umorientierung: Nicht das, womit ich mich am besten verkaufen kann, ist wertvoll und erstrebenswert, sondern das, was der Mensch ist, was in ihm als Eigenheiten, Gefühlen, Neigungen, Fähigkeiten steckt. Zu sein, statt zu haben und sich zu verkaufen, wirklich mit sich in Kontakt zu sein, bedeutet nicht nur, zu allen Dimensionen der eigenen Persönlichkeit eine positive Beziehung zu haben: zum eigenen Körper, zur eigenen Seele und zu den eigenen geistigen Kräften. Vor allem im Bereich des Psychischen geht es um eine umfassende Kontaktnahme mit allen Kräften und Ausdrucksweisen des Psychischen, auch und vor allem mit den verdrängten und unbewußten: mit den liebenden und den aggressiven Impulsen, der eigenen Hochherzigkeit und dem Sadismus, der Eifersucht und dem Einfühlungsvermögen, mit den Begierden und Wünschen, auch wenn sie vor einem selbst oder vor dem Partner nur schwer bestehen können. Wer sich selbst spüren kann als Mensch, der kann auch auf andere bezogen sein und einen emotionalen Kontakt mit anderen zulassen.

(2) Die Marktwirtschaft macht uns auf Schritt und Tritt glauben, daß den Menschen belebt, was er sich aneignen kann, was also in ihn hineingeht, was er konsumiert, wodurch er belebt wird. In Wirklichkeit ist es aber gerade umgekehrt. Alles, was wir über die Eigengesetzlichkeit des Psychischen wissen, spricht dafür, daß der Mensch belebt wird und psychisch wächst, wenn er seine seelischen Eigenkräfte aktiviert und praktiziert und also das aus sich hervorbringt, was in ihm als Möglichkeit steckt.

Die seelischen Eigen- oder Wachstumskräfte haben mit den körperlichen und geistigen Eigenkräften gemeinsam, daß sie nur in dem Maße entstehen und wachsen, als sie praktiziert werden. Die körperliche Muskelkraft etwa steht nur zur Verfügung und trägt zur Entfaltung von Körperkraft bei, wenn sie praktiziert wird. Sie bildet sich zurück, wenn sie nicht geübt wird. Auch im geistigen Bereich gibt es Eigenkräfte, deren Eigenart es ist, nur in dem Maße zur Verfügung zu stehen und zu wachsen, als sie praktiziert werden. Wer seine Fähigkeit zu phantasieren nicht praktiziert, entwickelt diese geistige Fähigkeit nicht und bleibt phantasielos. Was für körperliche und geistige Eigenkräfte gilt, läßt sich auch von den nur dem Menschen eigenen psychischen Eigenkräften der Liebe, der Vernunft und des produktiven Tätigseins sagen, mit denen wir in produktiver Weise auf uns und die Wirklichkeit bezogen sein können.

Dem Ausverkauf des Menschlichen kann also (zweitens) nur gegengesteuert werden, wenn es noch Menschen gibt, die sich trauen, sie selbst zu sein und die menschlichen Eigenkräfte zu praktizieren. Nur der aber ist er selbst und bleibt es auch, selbst wenn ihm mächtig zugesetzt wird, der auf eigenen Füßen steht, statt sich von der Gunst anderer tragen zu lassen; nur wer seine eigenen Sinne wahrnimmt, statt sich vom Kitzel der Sensation stimulieren zu lassen, wächst menschlich. Nur wer seine eigenen Gefühle spürt, statt sie zu verdrängen oder durch Pseudogefühle zu ersetzen, ist wirklich auf sich und andere bezogen. Und nur wer sich eine eigene Überzeugung bildet, statt der öffentlichen Meinung zu huldigen, praktiziert seine Eigenkräfte und wächst menschlich.

(3) Das oft mißverstandene und viel geschmähte Bekenntnis der Humanisten, daß der Mensch das Maß der Dinge ist, bekommt angesichts der Verdinglichung des Menschen und der Vermenschlichung der Dinge in der Marktwirtschaft eine neue Aktualität: Es geht in der Tat (drittens) darum, daß der Mensch mit seinen Eigenkräften und als lebendiges Wesen, und nicht die reibungslos laufende Maschine und das Ding zum Maßstab werden, an dem der Mensch gemessen wird. Der lebendige Mensch mit seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten soll wieder zum Maßstab werden: zum Maßstab für die Produktion, zum Maßstab für die Arbeitsorganisation, zum Maßstab bei Fragen des politischen und gesellschaftlichen Zusammenleben, zum Maßstab bei politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen.

(4) Eine (vierte) Voraussetzung für die humanistische Alternative ist die Fähigkeit zu Bezogenheit und Bindung. Weder die symbiotische Abhängigkeit der autoritären Strukturen noch die schizoide Unbezogenheit und Bindungsunfähigkeit der Marketing-Orientierung ermöglichen eine Bezogenheit und Bindung, bei der Vernunft und Liebe im eingangs beschriebenen Sinn gelebt werden. Wo Menschen aber nicht mehr bindungsfähig sind und auf sich und auf andere in vernünftiger und liebender Weise bezogen sein können, fehlt ihnen die Erfahrung, daß das Bezogensein die wichtigste Quelle psychischer Energie ist.

Viele Menschen fühlen sich heute innerlich leer, ausgebrannt, ohne Energie. Sie haben sich verausgabt, ihre Energie verbraucht. Weil das Marketing den Verkauf ihres Menschseins, ihres emotionalen Bezogensein, ihres Eigenseins und ihrer Eigenkräfte verlangt, ist ihre psychische Energie erschöpft. Unsere psychische Energie schöpfen wir aus zwei verschiedenen Quellen, sagt Fromm. Die eine ist "physischer Natur; sie wurzelt in der Chemie unseres Körpers. Von dieser Energiequelle wissen wir, daß sie etwa ab dem 25. Lebensjahr langsam wieder abnimmt... (Die) andere...entspringt unserem Bezogensein auf die Welt, unserem Interessiertsein." (E. Fromm, 1991b, S. 75.) Diese Quelle aber versiegt beim Marketing-Orientierten.

Gelingt es uns, unsere Eigenkräfte wieder zu praktizieren, dann fließt uns aus der Praxis unseres Bezogenseins auf uns selbst wieder Energie zu. Die meisten haben wenigstens ansatzweise diese Erfahrung gemacht, etwa wenn sie verliebt sind oder ganz engagiert ein spannendes Buch lesen: nicht nur, daß wir in solchen Situationen ganz konzentriert sein können, uns ganz interessiert und aufmerksam erleben, nicht merken, wie die Zeit vergeht, weil wir ganz unmittelbar auf einen anderen Menschen oder eine spannende Geschichte bezogen sind, und nicht nur, daß wir ganz viel Nähe und Einssein zulassen können und das Bedürfnis haben, zu teilen und uns mitzuteilen - wir fühlen uns auch frisch, aktiv, belebt, wach, aufmerksam, weil diese Art produktiver Bezogenheit selbst eine Quelle psychischer Energie ist.

Ein geteilter und mitgeteilter Lebensvollzug bedeutet nie Kräfteverschleiß und Energieverschwendung, sondern immer ein Zuwachs an Energie. Es ist gerade umgekehrt, wie uns alle heute glauben machen wollen, die sich und ihr Produkt erfolgreich verkaufen wollen. Um mit einem Wort Fromms zu schließen: "Freude, Energie, Glück - sie alle hängen vom Grad unserer Bezogenheit und Interessiertheit ab, das heißt sie hängen in erster Linie davon ab, inwieweit wir mit der Realität unserer Gefühle und mit der Realität anderer Menschen in Berührung sind und diese nicht als Abstraktionen wie Waren auf dem Markt wahrnehmen." (E. Fromm, 1991b, S. 75f.)



- Öffentlicher Vortrag am 23. März 1995 aus Anlaß des 95. Geburtstags von Erich Fromm an der Karls-Universität in Prag im Rahmen der Tagung der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft Der gesellschaftliche Umbruch in Mitteleuropa - eine Chance für Erich Fromms Humanismus? vom 23. bis 25. März 1995 in Prag. Eine Übersetzung ins Tschechische erschien unter dem Titel "Humanismus Ericha Fromma," in: TVAR, Praha No. 15 (8. 10. 1995), S. 4-10. -

Literaturnachweise:
Die Zitate von Erich Fromm sind entnommen der 10bändigen Erich Fromm Gesamtausgabe (GA), Stuttgart 1980/81 (Deutsche Verlags-Anstalt); München 1989 (Deutscher Taschenbuch Verlag), sowie den acht Bänden Schriften aus dem Nachlaß, Weinheim und Basel 1989-1992 (Beltz Verlag).

- 1947a: Psychoanalyse und Ethik. Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie (Man for Himself), GA II, S. 1-157.
- 1955a: Wege aus einer kranken Gesellschaft (The Sane Society), GA IV, S. 1-254.
- 1962a: Jenseits der Illusionen. Die Bedeutung von Marx und Freud (Beyond the Chains of Illusion. My Encounter with Marx and Freud), GA IX, S. 37-155.
- 1963f: Humanismus und Psychoanalyse (Humanismo y Psicoanàlisis), GA IX, S. 3-11.
- 1964a: Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen (The Heart of Man. Its Genius for Good and Evil), GA II, S. 159-268.
- 1968g: Einleitung, in: E. Fromm und R. Xirau (Ed.): The Nature of Man. Readings selected, GA IX, S. 375-391-
- 1976a: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft (To Have Or to Be?), GA II.
- 1989a: Vom Haben zum Sein. Wege und Irrwege der Selbsterfahrung (Schriften aus dem Nachlaß, Band 1), Weinheim und Basel (Beltz Verlag) 1989.
- 1991b: Die Pathologie der Normalität. Zur Wissenschaft vom Menschen (Schriften aus dem Nachlaß, Band 6), Weinheim und Basel (Beltz Verlag) 1991.
- 1992b: Humanismus als reale Utopie. Der Glaube an den Menschen (Schriften aus dem Nachlaß, Band 8), Weinheim und Basel (Beltz Verlag) September 1992.
- 1993b: Leben zwischen Haben und Sein, herausgegeben von Rainer Funk, Freiburg (Herder Verlag, Herder Spektrum 4208) 1993.
- Riesman, D., 1950: The Lonely Crowd, New Haven (Yale University Press) 1950; deutsch: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, Neuwied (Luchterhand Verlag) 1956.

Copyright © 1998 by Dr. Rainer Funk c/o Internationale Erich-Fromm-Gesellschaft e.V.

Internationale Erich-Fromm-Gesellschaft e.V.

Dank an Rainer Funk.


Zurück zur Übersicht