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Marie Louise Berneri:
REISE DURCH UTOPIA
Unser Zeitalter ist ein Zeitalter der Kompromisse, des Mittelmaßes,
der kleineren Übel. Visionäre werden verachtet und verspottet
und praktische Menschen regieren unser Leben. Wir suchen
nicht länger nach radikalen Losungen für die Übel
der Gesellschaft, sondern nach Reformen; wir versuchen nicht mehr,
den Krieg abzuschaffen, sondern vermeiden ihn für die Zeit
von ein paar Jahren; wir versuchen nicht mehr, das Verbrechen abzuschaffen,
sondern geben uns mit Strafrechtsreformen zufrieden; wir versuchen
nicht, den Hunger abzuschaffen, sondern rufen weltweite Wohltätigkeitsorganisationen
ins Leben. Zu einer Zeit, wenn Menschen so beschäftigt sind
mit dem, was praktikabel und auf der Stelle machbar ist, könnte
es eine heilsame Übung sein, sich Menschen zuzuwenden, die
von Utopien träumten, die alles zurtickwiesen, was ihrem Ideal
von Vollkommenheit nicht entsprach.
Oft befällt uns ein Gefühl der Demut, wenn wir von diesen
idealen Staaten und Städten lesen, denn wir werden uns der
Bescheidenheit unserer Ansprüche und der Armut unserer Vision
bewußt. Zeno trat für den Internationalismus ein, Plato
erkannte die Gleichheit von Männern und Frauen an, Thomas Morus
erkannte deutlich den Zusammenhang zwischen Armut und Verbrechen,
der heute noch von manchen bestritten wird. Zu Beginn des siebzehnten
Jahrhunderts befürwortete Campanella einen Arbeitstag von vier
Stunden, und der deutsche Gelehrte Andreae sprach von befriedigender
Arbeit und stellte ein Erziehungssystem auf, das noch heute als
Modell dienen konnte.
Wir stellen fest, daß das Privateigentum verdammt wird, Geld
und Löhne als unmoralisch oder unvernünftig betrachtet
werden, menschliche Solidarität als offensichtliche Tatsache
anerkannt ist Alle diese Ideen, die heute als gewagt gelten können,
wurden damals mit einem Vertrauen aufgestellt, das, obwohl sie nicht
allgemein anerkannt wurden, zeigt, wie bereitwillig man sie nichtsdestoweniger
aufgenommen haben muß. Ende des siebzehnten und im achtzehnten
Jahrhundert finden wir noch Aufsehen erregendere und kühnere
Ideen über Religion, sexuelle Beziehungen, das Wesen der Regierung
und des Gesetzes. Wir sind so gewohnt zu glauben, daß fortschrittliche
Bewegungen erst mit dem neunzehnten Jahrhundert angefangen haben,
daß wir erstaunt feststellen, daß damals der Niedergang
des utopischen Gedankens beginnt. Utopien werden in der Regel zurückhaltend;
Privateigentum und Geld werden oft als notwendig anerkannt; die
Menschen müssen sich glücklich schätzen, wenn sie
acht Stunden am Tag arbeiten dürfen, und es ist kaum eine Frage,
ob ihre Arbeit auch befriedigend ist. Frauen werden unter die Vormundschaft
ihrer Ehemänner, Kinder unter die des Vaters gestellt. Doch
bevor die Utopien vom realistischen Geist unserer Zeit
verseucht wurden, blühten sie in einer Vielfalt und einem Reichtum,
der uns zweifeln lässt an der Gültigkeit unseres Anspruches
ein gewisses Maß an sozialem Fortschritt erreicht zu haben.
Dies soll nicht heißen, daß alle Utopien revolutionär
und fortschrittlich gewesen sind: die meisten waren es, doch nur
wenige waren von Grund auf revolutionär. Utopische Schriftsteller
waren revolutionär, wenn sie für Gütergemeinschaft
eintraten zu einer Zeit, als das Privateigentum heilig erklärt
wurde, das Recht des Individuums auf Nahrung, als Bettler gehängt
wurden, die Gleichstellung der Frauen, als diese für kaum besser
als Sklaven galten, die Würde der Handarbeit, als diese für
eine entwürdigende Beschäftigung gehalten und dazu gemacht
wurde, das Recht jedes Kindes auf eine glückliche Kindheit
und gute Erziehung, als dies den Söhnen des Adels und der Reichen
vorbehalten war. All dies hat dazu beigetragen, daß das Wort
Utopie gleichbedeutend ist mit einer glücklichen,
wünschenswerten Gesellschaftsform. Utopie steht in dieser Hinsicht
für den Traum der Menschheit vom Glück, ihrer geheimen
Sehnsucht nach dem Goldenen Zeitalter oder, wie andere es ausdrückten,
nach ihrem verlorenen Paradies.
Doch jener Traum hatte oft seine Schattenseiten. Es gab Sklaven
in Platos Staat und Morus' Utopia; es gab Massenmord an Heloten
im Sparta des Lykurgus; und oft findet man neben den aufgeklärtesten
Einrichtungen Kriege, Hinrichtungen, strenge Disziplin und religiöse
Intoleranz. Diese Gesichtspunkte, die von den Verteidigern der Utopien
oft übersehen wurden, sind das Ergebnis der autoritären
Konzeption, auf der viele Utopien sich gründen, und sie fehlen
in denen, die das Erreichen vollkommener Freiheit zum Ziel haben.
Zwei Hauptrichtungen des utopischen Gedankens werden durch die
Jahrhunderte deutlich. Die eine sucht das Glück der Menschheit
im materiellen Wohlstand, dem Aufgehen der menschlichen Individualität
in die Gruppe und der Größe des Staates. Die andere fordert
zwar auch ein gewisses Maß materieller Bequemlichkeit, betrachtet
aber das Glück als ein Ergebnis der freien Entfaltung der menschlichen
Persönlichkeit, die nicht einem willkürlichen Moralkodex
oder den Interessen des Staates geopfert werden darf. Diese zwei
Richtungen gehen einher mit verschiedenen Auffassungen von Fortschritt.
Für die antiautoritären Utopisten mißt sich der
Fortschritt, wie Herbert Read sagt: am Grad der Differenzierung
innerhalb einer Gesellschaft. Wenn das Individuum Einheit einer
korporierten Masse ist, wird sein Leben nicht nur animalisch und
kurz, sondern leblos und mechanisch. Wenn das Individuum eine Einheit
in sich selbst bildet mit dem Raum und der Möglichkeit zu eigener
Handlung, dann mag es eher dem Zufall und der Gelegenheit unterworfen
sein, doch es kann sich zumindest entfalten und ausdrucken. Es kann
sich entwickeln - entwickeln in dem einzig wahren Sinne des Wortes
- entwickeln im Bewußtsein seiner Stärke, Vitalität
und Lebensfreude.
Doch Herbert Read weist ebenfalls daraufhin, daß dies nicht
immer die Definition von Fortschritt gewesen ist: Viele Leute
finden Sicherheit in der Masse, Glück in der Anonymität
und Würde in der Routine. Sie wollen nichts besseres sein als
ein Schaf unter einem Hirten, ein Soldat unter einem Hauptmann,
ein Sklave unter einem Tyrannen. Die wenigen, die sich entfalten
müssen, werden Hirten, Hauptmänner und Führer dieser
willigen Gefolgschaft.
Die autoritären Utopien hatten zum Ziel, dem Volk Hirten,
Führer und Tyrannen zu geben, hießen sie nun Wächter,
Phylarchen oder Samurai Diese Utopien waren insofern fortschrittlich,
als sie ökonomische Ungleichheiten abschaffen wollten, doch
sie ersetzten die alte ökonomische Sklaverei durch eine neue:
die Menschen waren nicht mehr Sklaven ihrer Herren und Meister,
dafür wurden sie Sklaven der Nation und des Staates. Die Macht
des Staates gründet sich manchmal auf moralischer und militärischer
Macht wie in Platos Staat, auf Religion wie in Andreaes Christianopolis
oder auf dem Eigentum an Produktions- und Distributionsmitteln wie
in den meisten Utopien des neunzehnten Jahrhunderts. Doch das Ergebnis
ist immer das gleiche: das Individuum wird gezwungen, einen Kodex
gesetzlichen und moralischen Verhaltens zu befolgen, der künstlich
für ihn geschaffen wurde.
Die den meisten Utopien innewohnenden Widerspruche sind auf die
autoritäre Herangehensweise zurtückzuführen. Die
Schöpfer der Utopien erhoben den Anspruch, den Leuten die Freiheit
zu geben, doch eine Freiheit, die gegeben werden muß, ist
keine Freiheit mehr. Diderot war einer der wenigen utopischen Schriftsteller,
der sich sogar das Recht verweigerte zu verordnen, daß jeder
tun sollte, wie es ihm beliebt; doch die meisten Schöpfer
von Utopien sind entschlossen, selbst die Herren ihrer imaginären
Gemeinwesen zu bleiben. Während sie den Anspruch erhoben, die
Freiheit zu bringen, liefern sie einen ausführlichen Kodex,
der strikt befolgt werden muß. In ihren Utopien gibt es die
Gesetzgeber, die Könige, die Stadträte, die Priester,
die Präsidenten von Nationalversammlungen; und obwohl sie Heiraten,
Gefängnisstrafen und Hinrichtungen verordnet, kodifiziert und
befohlen haben, behaupten sie immer noch, daß die Leute so
frei sind zu tun, was ihnen beliebt. Es ist nur zu offensichtlich,
daß Campanella sich als den großen Metaphysiker in seinem
Sonnenstaat sah, Bacon sich als Vater seines Hauses Salomon und
Cabet sich als Gesetzgeber seines Ikarien. Wenn sie so geistreich
sind wie Thomas Morus, können sie ihre geheime Sehnsucht sehr
humorvoll ausdrücken: Du kannst dir nicht vorstellen,
wie erhaben ich bin, schrieb er an seinen Freund Erasmus,
wie ich körperlich gewachsen bin und wie hoch ich mein
Haupt trage; so beständig sehe ich mich in der Rolle des Herrschers
von Utopia; ich stelle mir tatsächlich vor, mit einer Krone
aus Kornähren auf dem Kopf herumzugehen, mit einer Franziskanerkutte
bekleidet, und ich trage die Korugabe als Zepter, begleitet von
einergroßen Schar von Leuten aus Amaurote. Andere haben
manchmal auf die Widerspruche ihres Traums hingewiesen, wie Gonzalez
in Der Sturm (Tine Tempest) seinen Begleitern von dem idealen Gemeinwesen
erzählt, das er auf seiner Insel gerne schaffen mochte:
Gonzalez Ich wirkte im gemeinen Wesen alles / Durchs Gegenteil:
denn keine Art von Handel / Erlaubt ich, keinen Namen eines Amts;
/ Gelahrtheit sollte man nicht kennen; Reichtum, / Dienst, Armut
gäbs nicht; von Vertrag und Erbschaft, / Verzäunung,
Landmark, Feld - und Weinbau nichts; / Auch kein Gebrauch von Korn,
Wein, Öl, Metall; / Kein Handwerk; alle Manner müßig,
alle; / Die Weiber auch; doch völlig rein und schuldlos; /
Kein Regiment -- Sebastian: Und doch wollte er der König sein.
-- Antonio: Das Ende seines gemeinen Wesens vergißt den Anfang.
Ein weiterer Widerspruch autoritärer Utopien besteht in der
Versicherung, daß ihre Gesetze der natürlichen Ordnung
folgten, während ihr Kodex in Wirklichkeit willkürlich
aufgestellt wurde. Utopische Schriftsteller haben die Naturgesetze
lieber erfunden anstatt sie zu entdecken, oder sie fanden sie in
den Archiven alter Weisheit. Für einige von ihnen,
wie Mably oder Morelly, war das Naturgesetz jenes von Sparta und
anstatt ihre Utopien auf lebende Gemeinschaften und Menschen, wie
sie sie kannten, zu gründen, schufen sie sie anhand abstrakter
Konzeptionen. Dies ist der Grund für die in den meisten Utopien
vorherrschende künstliche Atmosphäre: Utopische Menschen
sind uniforme Geschöpfe mit gleichen Wünschen und Reaktionen,
ohne Gefühle und Leidenschaften, denn diese wären der
Ausdruck von Individualität. Diese Gleichförmigkeit spiegelt
sich in jedem Bereich utopischen Lebens, von der Kleidung bis zum
Stundenplan, vom moralischen Verhalten bis zu intellektuellen Interessen.
H.G. Wells hat darauf hingewiesen: In fast allen Utopien -
außer vielleicht Morris Kunde von Nirgendwo - findet man hübsche,
doch charakterlose Gebäude, symmetrischen und vollendeten Ackerbau
und eine Vielzahl von gesunden, glücklichen und schön
gekleideten Menschen, jedoch ohne jegliche persönlichen Unterschiede.
Zu oft erinnert dieser Ausblick an den Grundton jener großen
Bilder von Krönungen, Königshochzeiten, Parlamenten, Konferenzen
und Versammlungen im Viktorianischen Zeitalter, wo jede Gestalt
statt eines Gesichts ein zierliches Oval trägt, auf dem fein
säuberlich die Kennziffer verzeichnet ist.
Der Schauplatz der Utopie ist gleichermaßen künstlich.
Der gleichförmigen Nation muß ein gleichförmiges
Land oder eine gleichförmige Stadt entsprechen. Die autoritäre
Liebe der Utopisten zur Symmetrie führt dazu, daß sie
Berge und Flüsse abschaffen und sich sogar vollkommen runde
Inseln und vollkommen gerade Flüsse vorstellen. Lewis Mumford:
In der Utopie des Nationalstaates gibt es keine natürlichen
Gebiete; und die gleichermaßen natürliche Gruppierung
von Menschen in Städten, Gemeinden und Dörfern, die, wie
Aristoteles sagt, vielleicht der Hauptunterschied zwischen Menschen
und anderen Lebewesen ist, wird nur geduldet aufgrund der Vorstellung,
daß der Staat diesen Gruppen einen Teil seiner omnipotenten
Autorität oder Souveränität', wie es genannt
wird, überläßt, und ihnen erlaubt, ein korporiertes
Leben zu führen. Trotz dieses schönen Mythos, den Generationen
von Juristen und Staatsmännern mühselig aufgebaut haben,
existierten Städte lange bevor es Staaten gab - es gab Rom
am Tiber lange vor dem Römischen Reich - und die großzügige
Erlaubnis des Staates ist schlicht ein nachträgliches Siegel
auf die vollendete Tatsache.
Anstatt natürliche Gebiete und natürliche Gruppen von
Menschen anzuerkennen, steckt die Utopie des Nationalismus mit dem
Feldmesser ein bestimmtes Gebiet ab, das Nationalterritorium, und
macht alle Einwohner dieses Territoriums zu Mitgliedern einer einzigen,
unteilbaren Gruppe, der Nation, die das erste Anrecht und die größere
Macht vor allen anderen Gruppen haben soll. Dies ist die einzige
offiziell anerkannte gesellschaftliche Formation innerhalb der nationalen
Utopie. Was allen Einwohnern dieses Territoriums gemeinsam ist,
soll von weit größerer Bedeutung sein als alles, was
Menschen in besonderen städtischen und gewerblichen Gruppen
verbindet.
Diese Gleichförmigkeit wird von einem starken Nationalstaat
aufrechterhalten. Privateigentum ist in Utopia abgeschafft, nicht
nur um Gleichheit unter den Bürgern herzustellen oder wegen
seines korrumpierenden Einflusses, sondern weil es eine Gefahr für
die Einheit des Staates darstellt. Die Einstellung zur Familie ist
ebenfalls bestimmt von dem Wunsch, einen geeinten Staat aufrechtzuerhalten.
Viele Utopien bleiben in der platonischer Tradition und schaffen
Familie sowie monogame Ehe ab, während andere Thomas Morus
folgen und die patriarchalische Familie, monogame Ehe und die Aufzucht
und Erziehung der Kinder im Schoß der Familie befürworten.
Eine dritte Gruppe schafft einen Kompromiß, indem sie die
Institution Familie beibehält, die Erziehung der Kinder jedoch
dem Staat anvertraut.
Wenn Utopien die Familie abschaffen wollen, dann aus denselben
Gründen wie die Abschaffung des Eigentums Ihrer Meinung nach
bestärkt die Familie selbstsüchtige Instinkte und hat
deshalb einen zerstörerischen Einfluß auf die Gemeinschaft.
Andererseits sehen die Fürsprecher der Familie in ihr die Grundlage
für einen gefestigten Staat, die unerläßliche Zelle,
das Übungsfeld für die vom Staat geforderten Tugenden
des Gehorsams und der Loyalität. Zu Recht sind sie der Meinung,
daß die autoritäre Familie keineswegs eine Gefahr darstellt,
indem sie den Kindern individualistische Tendenzen einflößt,
sondern sie im Gegenteil daran gewöhnt, die Autorität
des Vaters anzuerkennen; ebenso bedingungslos werden sie später
die Anordnungen des Staates befolgen.
Ein starker Staat braucht eine herrschende Klasse oder Kaste, die
die Macht über alle anderen in den Händen halt, und während
die Schöpfer idealer Gemeinwesen sehr darum besorgt waren,
daß das Eigentum die herrschende Klasse nicht korrumpierte
und auseinanderbrachte, sahen sie in der Regel nicht die Gefahr
der Liebe zur Macht, die die Herrschenden korrumpierte und auseinanderbrachte
und das Volk unterdrückte. Plato war in dieser Hinsicht der
größte Fanatiker. Seine Wächter wurden mit aller
Macht in der Stadt betraut, während sich Plutarch des möglichen
Machtmißbrauchs der Spartaner bewußt war, jedoch kein
Heilmittel anbot. Thomas Morus stellt eine neue Konzeption auf:
ein Staat, der alle Bürger repräsentierte bis auf eine
kleine Anzahl von Sklaven. Sein Regime ist das, was wir demokratisch
nennen wurden; das heißt, die Macht wird von den Vertretern
des Volkes ausgeübt. Doch diese Vertreter hatten eher die Macht,
die Gesetze zu verwalten als sie zu entwerfen, da alle wichtigeren
Gesetze dem Land von einem Gesetzgeber gegeben wurden. Der Staat
verwaltete daher einen Gesetzeskodex,den die Gemeinschaft nicht
gemacht hatte. Darüber hinaus sind, aufgrund der zentralistischen
Natur des Staates, die Gesetze für alle Bürger und alle
Gruppierungen innerhalb der Gemeinschaft dieselben und berücksichtigen
nicht die unterschiedlichen persönlichen Voraussetzungen. Aus
diesem Grund waren einige utopische Schriftsteller, wie Gerrard
Winstanley, dagegen, daß die Gemeinschaft ihre Macht an eine
zentrale Körperschaft delegierte, denn sie fürchteten,
daß sie in der Tat ihre Freiheit verlöre und wünschten,
daß sie ihre autonome Regierung beibehielt, Gabriel de Foigny
und Diderot gingen noch weiter und schafften Regierungen überhaupt
ab.
Die Existenz des Staates erfordert auch zwei moralische Verhaltenskataloge,
denn der Staat teilt das Volk nicht nur in Klassen, sondern teilt
auch die Menschheit in Nationen. Loyalität dem Staat gegenüber
fordert oftmals die Verleugnung des Solidaritätsgefühls
und der gegenseitigen Hilfe, die von Natur aus zwischen den Menschen
bestehen. Der Staat erlegt einen bestimmten Verhaltenskodex auf,
der die Beziehungen zwischen den Bürgern des Gemeinwesens,
und einen weiteren, der die Beziehungen zwischen den Bürgern
und den Sklaven oder den Barbaren regelt. Alles, was
in den Beziehungen zwischen Gleichen verboten ist, ist gegenüber
denen, die als minderwertig gelten, erlaubt. Der utopische Bürger
ist liebenswürdig und höflich zu seinesgleichen, doch
grausam zu seinen Sklaven; zu Hause liebt er den Frieden, doch im
Ausland führt er die gnadenlosesten Kriege. Alle Utopien, die
in Platos Fußstapfen treten, lassen diesen Dualismus im Menschen
zu. Daß dieser Dualismus innerhalb einer Gesellschaft existiert,
ist, wie wir wissen, nur zu wahr, doch es mag seltsam erscheinen,
daß er in einer vollkommenen Gesellschaft nicht
beseitigt worden ist. Das universalistische Ideal Zenos, der in
seiner Politeia die Brüderlichkeit der Menschen aller Nationen
verkündet, ist von kaum einem utopischen Schriftsteller übernommen
worden. Die meisten Utopien betrachten den Krieg als unvermeidlichen
Bestandteil ihres Systems, und das muß auch so sein, denn
die Existenz eines Nationalstaates ist immer Ursache von Kriegen.
Der autoritäre utopische Staat läßt keine Persönlichkeit
zu, die so stark und unabhängig ist, auf Veränderung oder
Revolte zu sinnen. Da die utopischen Institutionen als vollkommen
gelten, ist es selbstverständlich, daß sie zu keiner
Verbesserung mehr fähig sind. Der utopische Staat ist in seinem
Wesen statisch und erlaubt seinen Bürgern nicht, für eine
bessere Utopie zu kämpfen oder auch nur davon zu träumen.
Diese Vernichtung der menschlichen Persönlichkeit nimmt oft
einen wahrhaft totalitären Charakter an. Der Gesetzgeber oder
die Regierung entscheiden über die Plane für Städte
und Häuser; diese Pläne werden nach rationalsten Grundsätzen
und bestem technischen Wissen entworfen, doch sie sind nicht der
organische Ausdruck der Gemeinschaft. Ein Haus und eine Stadt mögen
aus leblosem Material erschaffen sein, doch sie sollten den Geist
derer verkörpern, die sie erbauten. Ebenso mögen utopische
Uniformen bequemer und kleidsamer sein als gewöhnliche Kleidung,
doch sie gestatten nicht den Ausdruck der Individualität.
Noch grausamer unterdrückt der utopische Staat die künstlerische
Freiheit. Der Dichter, der Maler, der Bildhauer müssen Diener
und Propaganda-Agenten des Staates werden. Individueller Ausdruck
ist ihnen entweder aus ästhetischen oder aus moralischen Gründen
verboten, doch das wahre Ziel ist es, jegliche Demonstration von
Freiheit zu vernichten. Die meisten Utopien würden bei der
künstlerischen Probe, wie Herbert Read sie vorgeschlagen
hat, versagen:
Zu oft und zu selbstzufrieden wird darauf hingewiesen, daß
Plato den Dichter aus seinem Staat verbannte. Doch jener Staat war
ein trügerisches Modell der Vollkommenheit. Er mag von einem
Diktator verwirklicht werden, doch funktionieren könnte er
nur wie eine Maschine - mechanisch. Und Maschinen funktionieren
nur deshalb mechanisch, weil sie aus totem, anorganischen Material
sind. Wenn man den Unterschied zwischen einer organischen, fortschreitenden
Gesellschaft und einem statischen, totalitären Regime ausdrucken
will, so genügt ein einziges Wort: das Wort Kunst. Nur unter
der Bedingung, daß der Künstler frei schaffen darf, kann
eine Gesellschaft die Ideale von Freiheit und intellektueller Entwicklung
verwirklichen, die den meisten von uns als die einzig lebenswerten
erscheinen.
Utopien, die diese Probe bestehen, sind gegen die Konzeption eines
zentralisierten Staates, sind für die Vereinigung freier Gemeinschaften,
wo das Individuum seine: Persönlichkeit entfalten kann, ohne
der Zensur oder einem künstlichen Kodex unterworfen zu sein,
wo die Freiheit nicht nur ein abstrakter Begriff ist, sondern in
konkreter Arbeit deutlich wird, sei es die des Malers oder des Maurers.
Diese Utopien beschäftigen sich nicht mit der toten Struktur
gesellschaftlicher Organisation, sondern mit den Idealen, auf denen
eine bessere Gesellschaft errichtet werden kann. Die anti-autoritären
Utopien sind weniger zahlreich und übten einen geringeren Einflug
aus als die anderen, denn sie boten keinen fertigen Plan, sondern
gewagte, unorthodoxe Ideen; sie forderten jeden von uns auf einzig
zu sein und nicht einer unter vielen. Nur wenn die Utopie auf ein
ideales Leben weist, ohne zum Plan, das heißt zur leblosen
Maschine zu werden, die dem Lebendigen übergestülpt wird,
so wird sie tatsächlich zur Verwirklichung des Fortschritts.
Aus: Marie Louise Berneri / Reise durch Utopia. (Journey through Utopia; 1948).
Karin Kramer Velag; Berlin, 1982.
Marie Louise Berneri (1918-1949).
Dank an den Karin Kramer Verlag.
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