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Rolf Schwendter:
VON DER UTOPIE ZUR SOZIALEN INNOVATION
Wie Ernst Bloch bislang unwiderlegterweise ausgeführt hat,
scheint Utopie zu den anthropologischen Grundausstattungen zu zählen:
Als mehr oder weniger hilfreiches Herbeiwünschen besser (oder
doch als besser wahrgenommener) gesellschaftlicher Verhältnisse,
welches schon beim schäbigsten Tagtraum" (Bloch)
beginnt. Die Utopie hat hierbei die verschiedensten Formen angenommen,
von der Religion zum Märchen, vom Staatstraum (etwa der namensgebenden
Utopia" des Thomas Morus um 1520) bis zum Gedicht, von
der Wandzeitung der utopischen Phase einer Zukunftswerkstatt bis
zu einer ad hoc zusammengetragenen Spruchsammlung. Hierbei markiert
Utopie jedenfalls stets zwei Momente: die Negativfolie des jeweiligen
schlechten Bestehenden (sage mir, was für Utopien geschrieben
werden, und ich sage Dir, in was für eine Gesellschaft diese
abgefaßt worden sind), und ein überschießendes
Bewußtsein (so der frühere Rudolf Bahro in Die
Alternative"), aus welchem die kreativen Aspekte zukünftiger
gesellschaftlicher Entwicklungen entspringen.
Utopie ist nicht notwendigerweise mit bestimmten politischen Richtungen
verbunden - wenn man selbst die düstersten Aspekte des Realsozialismus
in dem zentralistischen Utopien etwa von Cabet oder Bellamy vorweggenommen
worden sind. Auch Marktwirtschaft und parlamentarische Demokratie,
heute ideelle Säulen des Establishments, haben als Utopien
begonnen (als sie nämlich die Negativfolie der Herrschaft der
Grundbesitzenden bildeten), wie auch Technokratie, Konzertierte
Aktion oder Sozialpartnerschaft (all dies findet sich, wenn auch
mit anderen Bezeichnungen, in den Utopien des Claude-Henri Saint-Simon).
Schließlich gibt es ebenso rechtsextreme Utopien (Hitlers
Gespräche mit Rauschming oder Picker sind nicht eben frei davon).
Wie andere Erscheinungsformen des Lebens auch, bilden sich Utopien
aus den Interessen der Klassen, Klassenströmungen, Stände,
Schichten, Stile (oder wie auch sonst immer) heraus, vermischen
sich, flachen sich (und einander) ab.
Wie in der Philosophie auch, galt lange Zeit (etwa 1520 - 1930)
in den Utopien das Streben nach er systematischen geschlossenen
Form als der Königsweg. Der große Teil der utopischen
Sozialismen, schon der Staatsromane der Aufklärung, noch die
Entwürfe eines Rudolf Steiner oder Herbert George Wells haben
solche Formen zu entwickeln versucht. Sicht ist die Utopie als Staatsroma"
zu einem eher am Rande liegendem Sonderfall geworden (etwa in Ursula
le Guins Planet der Habenichtse" oder in P.M.s Weltgeist
Superstar", bzw. Olten - alles aussteigen! Ideen für
eine Welte ohne Schweiz" - nicht in seiner bekanntesten Arbeit
Bolo Bolo"). Die allermeisten utopischen Äußerungen
sind zwischenzeitlich fragmentarische, prozeßual, antwortvielfältig,
durch Verfahren (etwa den Zukunftswerkstätten) reproduzierbar,
als Motivation ganz anders focussierender Schriften zu erkennen.
So entstammen zwei der meines Erarchtens größten utopischen
Versatzstücke des 20. Jahrhunderts der Feder (oder Schreibmaschine)
von Autoren, die sich stets von de Utopie distanziert haben: die
offene Gesellschaft" Karl Raimund Poppers (nun bin ich
58 geworden, und habe noch nie eine solche erlebt, uns Mauern, Mauern,
Mauern...) und die herrschaftsfreie Kommunikation" Jürgen
Habermas.
Die Utopie als Negativfolie betreffend, fällt auf, daß
die Ordnungsutopien" (wie sie Ernst Bloch nennt), welche
mit den Freiheitsutopien" in etwa sich die Waage gehalten
hatten, zugunsten der letzteren so gut wie verschwunden sind. Die
bislang letzten drei mir bekanntgewordenen sin ca. 20 Jahre alt,
sie sind von Gruhl, Heilbroner und Harich, und entwerfen allesamt,
zur Bändigung des befürchteten ökologischen Chaos,
weltweite Ökodiktaturen. Demgegenüber wird die dezentralistischen
Traditionslinie von Charles Fourier, William Morris, Peter Kropotkin,
mehr oder weniger fragmentarisch, in eine Fülle von Arbeiten
weiterentwickelt, so etwa bei Aldons Huxley (Eiland), George Orwell
(Katalonien), Paul Goodmann, Erich Fromm, Johann Galtung, Ernst
Kahr, Robert Jungk, Ernest Callenbach, P.M., Walter Neuamnn, Bernd
Leßmann, Emilio Modena, sowie in so gut wie sämtlichen
feministischen Utopien. Das sagt etwas über die bestehende
Gesamtgesellschaft aus, die wohl wahrscheinlich sehr zentralistisch,
agglomerierend, megalomanisch, vereinheitlichend, verregelnd sein
muß.
Soviel zur raschen Wiederholung meiner Ausgangsposition (sie ist
im Buch Utopie" bei der Edition ID-Archiv ausführlich
dargelegt). Denn vom Utopien selber, im entfalteten Sinne ihres
Wortes, soll es bei dieser Tagung nicht wiederum gehen. Die entscheidende
Frage dieser Tagung scheint mir zu sein, was aus der Utopie folgt,
was je nach der Utopie kommt, wie diese im Laufe ihrer möglichen
fragmentarischen Realisierung sich verändert, wie die Mühen
der Ebenen" (Bertolt Brecht) sich gestalten. In der Struktur
der Zukunftswerkstatt folgt auf die utopisch Phase die strategische
Phase: jene, in der sich bestimmt, wieviel Wasser des Realitätsprinzips
in dem utopischen Wein des Prinzp Hoffnung" hineingetan
werden muß, um noch zu irgend einen wirklichen"
Ergebnis zu kommen, welches mehr Wirkungen haben könnte, als
angenehm zu lesen zu sein. Dies ist dann die Soziale Innovation.
Nicht zufällig ist auch in Robert Jungk / Norbert R. Müllerts
Standardwerk übe Zukunftswerkstätten von Sozialen Innovationen
als deren Ergebnis die Rede, und zwar , bevor noch die Autoren darangehen,
die Einzelheiten dieser Verfahren zu beschreiben. Sinngemäß
(und letztlich an Stuart Conger orientiert, der die entsprechende
Monographie zu Sozialen Innovationen geschrieben hat) definieren
sie Soziale Innovationen als Institutionen, Rechtsnormen oder Prozesse,
die gesellschaftlich verändernd wirken, und zwar im Sinne einer
intendierten Humanisierung der Welt. Hierbei wird in der Literatur
zwischen sozialer Erfindung und Sozialer Innovation unterschieden
(diese Unterscheidung haben Conger und Jungk jenem Zweig der Zukunftsforschung
entnommen, der sich auf technische Trends bezieht - etwa Erich Jantsch
Technological Forecasting in Perspective"): die Soziale
Erfindung schafft gleichsam das Modell, in der Sozialen Innovation
wird es auf Seite gelegt (wir wissen, daß die Frist zwischen
beiden gelegentlich 100 Jahre dauern kann). Jungk und Müllert
führen eine ganze Reihe von Sozialen Erfindungen der vergangenen
beiden Jahrhunderte an: vom Grundrechtskatalog der Menschen- und
Bürgerrechte (1776/1789) bis hin zum (allmählich wiederum
einschlafenden) Netzwerk Selbsthilfe (1978 - dieses entstand ja
auch aus einer Serie von Berliner Zukunftswerkstätten).
Strukturell sind Soziale Innovationen zumeist im Schnittpunkt des
gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses situiert. Marx
hat (im Kapital 5") ausgeführt, wie etwa der Normalarbeitstag
(fraglos eine bedeutende Soziale Innovation, auch wenn sie heute
auf dem Wege der Arbeitgeber" zurück ins 19. Jahrhundert
zusehends durchlöchert wird) zustande zukommen begonnen hat:
als Interesse des Proletariats (fraglos geleitet von der Utopie,
weniger arbeiten zu müssen, die sich auch von Paul Lafargue
bis Andre Gorz immer wieder findet), verbunden mit dem Interesse
des Gesamtkapitals (vermittelt durch den Staat) an einem nicht allzu
ausgebluteten Proletariat (das dann z.B. keinen Wehrdienst leisten
kann). Das mit dem Namen Bismarcks verbundene Sozialversicherungssystem
nimmt die Mitte zwischen den (revolutionär intendierten) Forderung
an der deutschen Arbeiterbewegung und der staatlich beherrschten
Fremdbestimmung ein. Mag sein, daß eines Tages die Grundsicherung
auf ähnliche Weise zustandekommt: schon habe ich auf einer
Tagung erlebt, daß Firmendirektoren den Eindruck erweckten,
einem Tausch Grundsicherung - Lohnnebenkosten durchaus etwa an Perspektive
abgewinnen zu können.
Sicherlich sind die genannten drei Beispiel nicht repräsentativ
- es gibt auch Soziale Innovationen, die mit Alternativer Ökonomie
nichts zu tun haben. Doch ist ihre Häufung in dieser Sphäre
kein Zufall. In einer Befragung des Forschungsprojektes Soziale
Innovationen 1988, bei welcher auf die Frage nach den 20 (je subjektiv)
bedeutendsten Sozialen Innovationen immerhin über 30 Antworten
eintrafen, entstammte der Großteil der Meistgenannten diesem
Gegenstandsbereich: Wohngemeinschaften, Genossenschaften, Selbsthilfe,
Grundsicherung, Netzwerk Selbsthilfe, Ökobank, taz, Wissenschaftsläden,
Jugendzentren, soziale Bewegungen, Partei Die Grünen (die damals
noch Hoffnungen weckte, eine Partei anderen Typs" zu
werden, wovon bekanntlich wenig übriggeblieben ist( - um nur
einiges zu nennen. Nur vereinzelte Nennungen bezogen sich auf die
Legislative (z.B. Ökosteuern), auf etablierte Freizeiteinrichtungen
(z.B. Diskos) oder auf subkulturenübergreifende Verfahren (z.B.
Metaplan, Psychodrama).
Nicht nur wäre nachweisbar, daß Soziale Innovationen
nicht ohne dahinterliegende Utopien zustandekommen (deren TrägerInnen
wiederum häufig subkulturelle Personen oder Gruppen darstellen),
sondern auch, daß keine Reform, die den Namen verdient, ohne
Soziale Innovationen, folglich ohne Utopien, auskommt.
Theoriearbeitskreis Alternative Ökonomie
Rolf Schwendter : Utopie
- Überlegungen zu einem
zeitlosen Begrif
Dank an Rolf Schwendter.
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