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Paul Parin:
DER KNOPF AN DER UNIFORM DES GENOSSEN
Ein ethnopsychoanalytischer Exkurs über die Veränderbarkeit
des Menschen
Ein sonniger Vormittag spät im März 1945. Ich arbeite
im septischen Operationssaal des Zentralspitals des II. Sturm-Armeekorps
der Tito-Partisanen, der jugoslawischen Befreiungsarmee, in Meljine
an der montenegrischen Küste. Wie an jedem Vormittag werden
Wunden gereinigt, Verbände gewechselt, Abszesse drainiert.
Es stinkt nach Eiter, Kot und Äther, es wird gestöhnt,
geflucht und gelacht. Alltag des Chirurgen im Krieg.
Da kommt G. herein. Sie ist wütend und verstört. Ich
vermute, daß ihr drüben einer gestorben ist. Sie sagt,
nein, aber: Es ist alles aus, wir müssen fort, ich zieh meine
Uniform noch heute aus. - Was ist geschehen?
Auf der Wiese zwischen der Baracke und dem Operationstrakt war
ein Zug der Spitalwache beim Exerzieren, wie gewöhnlich ohne
einen Offizier, nur um sich Bewegung zu machen. Als sie vorbeigeht,
brüllt plötzlich ein junger Partisan einen anderen an:
Mach die Knopfe zu, wie läufst du daher, wir sind nicht im
Stall. Der Genosse wird rot, steht stramm, sagt keinen Ton und schließt
den obersten Knopf seiner Uniform, die zerrissen ist. Denn unsere
Wache ist nur zur Erholung ins befreite Gebiet abkommandiert, nach
ungezählten Monaten an der Front im Wald.
Seit dem letzten Sommer sind wir mit den Partisanen. Es ist Krieg,
es gibt Befehle, aber die Disziplin ist Sache der politischen Konferenz.
Unser Kommissar muß erst lange mit den Genossen diskutieren,
bis jeder überzeugt ist, damit man ihm folgt. Es gilt keine
Währung, kein Geld. Was da ist, wird verteilt. Jeder ist für
die gute Sache, für das Volk, gegen den grausamen Feind und
Usurpator. Wir sind Genossinnen und Genossen geworden, einer dem
andern gleich. Jeder denkt für sich und ist für die anderen
da. Niemand läßt sich anbrüllen, den Ton von Herr
und Knecht haben wir vergessen. Woher hat er das mit dem Knopf?
So etwas Unsinniges. Aber das Schlimme ist nicht der Brüller,
das ist der andere, der folgt.
Ich hoffe, man versteht, warum G. fort will. Wir haben mit Brüdern
gelebt. Ein Volk von Partisanen im Kampf um Überleben und Freiheit
hat uns trotz Hunger, Eiter und Tod eingelullt. Und jetzt, bevor
noch Befehle vom Oberkommando durchkommen, bevor eine Staatsgewalt
da ist, die eingreifen könnte, hat der Genosse, der seinen
Knopf zumacht, uns die Illusion zerstört. Aus der Praxis der
Kampfgemeinschaft ist der Neue Mensch nicht entstanden. Wir hatten
doch mit ihm gelebt. Jetzt hat er sich von innen aufgelöst.
Die ihren Knopf innen haben, werden nie eine kommunistische Gesellschaft
gründen. Was Heinrich Heine (1) 1844 über seine Preußen
sagte, gilt auch für unseren montenegrinischen Genossen: Als
hätten sie verschluckt den Stock, Womit man sie einst geprügelt.
Fragen wir die Wissenschaft, wo das Ärgernis herkommt, warum
der Neue Mensch nicht entstehen mag. Das Überich ist schuld.
Sigmund Freud (2) schrieb 1933, im Jahr, in dem Hitler die Macht
ergriff: ... In der Regel folgen die Eltern und die ihnen
analogen Autoritäten in der Erziehung des Kindes den Vorschriften
des eigenen Überichs. Wie immer sich ihr Ich mit ihrem Überich
auseinandergesetzt haben mag, in der Erziehung des Kindes sind sie
streng und anspruchsvoll. Sie haben die Schwierigkeiten ihrer eigenen
Kindheit vergessen, sind zufrieden, sich nun voll mit den eigenen
Eltern identifizieren zu können, die ihnen seinerzeit die schweren
Einschränkungen auferlegt haben. So wird das Überich des
Kindes eigentlich nicht nach dem Vorbild der Eltern, sondern des
elterlichen Überichs aufgebaut; es erfüllt sich mit dem
gleichen Inhalt, es wird zum Träger der Tradition, all der
zeitbeständigen Wertungen, die sich auf dem Wege über
Generationen fortgepflanzt haben. Sie erraten leicht, welch wichtige
Hilfen für das Verständnis des sozialen Verhaltens der
Menschen... sich aus der Berücksichtigung des Überichs
ergeben. Wahrscheinlich sündigen die sogenannt materialistischen
Geschichtsauffassungen darin, daß sie diesen Faktor unterschätzen.
Sie tun ihn mit der Bemerkung ab, daß die Ideologien
der Menschen nichts anderes sind als Ergebnis und Überbau ihrer
ökonomischen Verhältnisse. Das ist die Wahrheit, aber
sehr wahrscheinlich nicht die ganze Wahrheit ...
Die Suche nach dieser ganzen Wahrheit mag man nicht
so leicht aufgeben. Gerade wenn man weiß, daß eine ganze nicht zu haben ist, kann man sich seine utopische Illusion, ohne
die man wohl die Uniform ausziehen und weglaufen wurde, nur retten,
wenn man weiter probiert, dahinter zu kommen.
Machen wir also wieder und wieder Revolution, und sehen wir, ob
da der Neue Mensch, den wir brauchen, nicht doch einmal entsteht.
Sehr einfach, aber nicht sehr ergiebig. An Revolutionen ist in der
Geschichte kein Mangel; um neue brauchen wir uns nicht zu sorgen,
Ausbeutung und Unterdrückung sind groß genug. Aber wissen
wir darum mehr über die Veränderung des Menschen, ist
die richtige irgendwo eingetreten?
Es gibt natürlich noch andere Wege, den Menschen zu verändern.
Seit dreißig Jahren ist das mein Beruf: ich bin Psychoanalytiker.
Und die Psychoanalyse behauptet doch, sie könne den Menschen
verändern. Dann muß sie auch wissen, wie. Zu Beginn waren
die Psychoanalytiker bescheidener, wollten lediglich heilen, die
Neurotiker wieder arbeitsfähig, liebesfähig und
genußfähig machen. Später sollte, wie die
Formel lautet, Ich werden, wo Es war. Das heißt,
die Vernunft sollte die Führung übernehmen, die eigenen
Bedürfnisse sollten besser wahrgenommen, das Wünschen
und Handeln besser mit den eigenen Bedürfnissen und denen der
Mitmenschen in Übereinstimmung gebracht werden. Schließlich
haben wir eingesehen, daß wir den Menschen wirklich verändern,
weiter und weniger weit, als wir anfangs dachten: die Abwehr des
Ich kann nicht aufgegeben werden, aber sie kann sich neu organisieren.
Wir können zwar nichts weganalysieren, nichts heilen, nicht
viel erweitern; aber wir können jemanden so weit bringen, daß
seine Abhängigkeit vom Überich, das mit seinen Ideologien
als Vergangenheit in ihm lebt, geringer wird, daß er überhaupt
seiner Vergangenheit nicht mehr so sehr verhaftet ist, frei für
Neues, emanzipiert. Der erste Schritt zum Neuen Menschen wäre
getan.
Die Psychoanalyse vermittelt also die Überzeugung, daß
im Prinzip emanzipatorische Veränderungen möglich sind
- der Wunsch dazu scheint in jedem Menschen irgendwo zu schlummern.
Das sind Tatsachen, die ich hier nicht beweisen kann. Man kann mir
Glauben schenken oder nicht. Niemand muß fürchten, daß
ich statt einer revolutionären Änderung der Gesellschaft
ein psychologisches Verfahren empfehlen wurde. Nicht nur weil ich
mir nicht vorstellen kann, wie so etwas praktisch vor sich gehen
konnte. Der innere Knoten, dessen Verschlingungen wir heute recht
gut kennen und mitunter zu lösen wissen, hängt nicht in
der Luft; die Schnüre, die ihn bilden, gehen durch, hinaus,
verbinden den Menschen zäh mit anderen Menschen, mit der gesellschaftlichen
Umwelt.
Vor ein paar Jahren schrieb ich in einem Artikel über Fortschritte
der psychoanalytischen Behandlungstechnik (3): Wenn Sie mich
fragen sollten, ob meine Analysanden durch die Analyse zu Revolutionären
werden, müßte ich nein sagen. Es sind letztlich
doch die massiven Vor- und Nachteile einer gesellschaftlichen Position,
die für das soziale Verhalten einer Person, sei sie analysiert
oder nicht, den Ausschlag geben.
Darauf haben nicht wenige analytische Zunftkollegen und einige
Genossen enttäuscht und wütend reagiert. Die einen fragten,
was ich denn überhaupt Emanzipatorisch-Umstürzlerisches
von der Analyse erwarte, das liege da gar nicht drin, sie habe der
besseren Anpassung des Einzelnen an die Gesellschaft,
einer Freiheit von Konflikten und größerer individueller
Autonomie zu dienen. Die anderen fanden, man sollte das ganze Psycho-Zeug
endlich sein lassen, wenn es doch nichts nutzt.
Ich hörte meine Utopie-Glocke läuten. Ich meine, sie
haben beide nicht recht. Der Widerspruch liegt in der untersuchten
Sache selbst, im Alten und im Weg zum Neuen Menschen.
Um ihn zu verfolgen, eignen sich einseitige Verfahren nicht. Als
Haile Selassie als allmächtiger Kaiser über Äthiopien
herrschte, war er jahrzehntelang sein eigener Unterrichtsminister.
Persönlich überwachte er ein sorgfältig ausgebautes
Schulsystem, um gute, modern ausgebildete Untertanen heranzuziehen,
die künftigen Stützen seines Reiches. Als an der kaiserlichen
Universität von Adis Abeba die ersten Studentenunruhen ausbrachen
m- sie wurden brutal niedergeschlagen -, legte seine Majestät
das Schulministeramt nieder und schrieb eigenhändig einen Zeitungsartikel
mit der Überschrift: Trees we have planted not always
bring the desired fruit (Bäume, die wir gepflanzt haben,
bringen nicht immer die Früchte, die wir uns wünschten).
Gründlichere Unternehmungen, die näher bei uns liegen,
den Menschen so zu erziehen, damit er ein anderer wird, will ich
nur kurz erwähnen. Wer wüßte nicht von den Versuchen,
Kinder besser und vor allem anders aufzuziehen, damit sie sozialer
werden, die Repression nicht in sich und von da in die Gesellschaft
tragen. Und wer wüßte nicht, wie schwer oder vielmehr
unmöglich es ist, eine Alternativerziehung als sauber angelegtes
Experiment durchzuführen, um dann zu beurteilen, ob und warum
und wie andere Menschen herausgekommen sind als bei der herkömmlichen
Erziehung. Ganz abgesehen davon, daß niemand gerne zwanzig
Jahre wartet, um etwas zu wissen, was er heute wissen mochte.
Es ist natürlich ein fauler Trick oder, vornehmer ausgedrückt,
ein fragwürdiger Kunstgriff, meiner Utopie mit dem zu Leibe
zu rucken, was man Ethnopsychoanalyse genannt hat. Mit ihr wird
der Einzelne in seiner Gesellschaft untersucht, psychische Entwicklung
und geschichtliche Veränderung, konservatives Beharren und
stürmische Umwälzungen, ökonomische Basis und Überbau,
kurz, die Beziehungen und Verhältnisse des Menschen
und er selber, den wir gerne anders hätten. Einseitig ist das
Verfahren sicher nicht. Legitim und vernünftig kommt mir noch
vor, lieber erst zu verstehen, was geschieht, wenn etwas trotz verschiedener
Gelegenheiten und Bemühungen nicht zustande kommen will. Faul
daran ist, vom Standpunkt einer höheren Moral, zu forschen,
statt zu handeln, die Veränderung der Geschichte gegen die
Entzifferung von Geschichten einzutauschen, in ferne Länder
zu reisen, statt sich im eigenen daran zu machen. Offenbar opfert
man seine utopischen Gelüste ebensowenig leicht der Moral tu,
was man von dir erwartet wie der Vernunft sieh
ein, es ist nun einmal so, auch du wirst nichts daran ändern;
es ist die menschliche Natur.
Mit schuldbewußter Feder, mit klammheimlicher Freude, dem
Ziel, das unerreichbar bleiben muß, ein Zoll weit nähergeruckt
zu sein, auf meinem Umweg, der länger ist, dafür aber
in die gewünschte Richtung fuhrt, kann ich schreiben: Es ist
nicht die Natur des Menschen. Die Gesellschaft macht beides, den
Fortschritt und seine Hemmung. Die Widersprüche der Gesellschaft
sind im Menschen drin. Darum muß er sich verändern, ob
er will oder nicht.
Sind das lauter Banalitäten, oder kann man es genauer sagen?
Man kann. Aber einfach ist die Sache nicht. In den 68er Jahren haben
sich viele viel zu gerade Wege ausphantasiert. Und wenn die Herren
Konservativen singen, es bleibt alles beim alten, plus que ca change,
plus c'est la meme chose, haben sie ebensowenig Recht wie viele
brave Genossen und Genossinnen, mit oder ohne Knopf, die hoffen,
daß der Mensch - endlich - zu sich selber kommen wird, wenn
man nur die Basis umstülpt und auf die Beine stellt. Der Mensch
ist veränderbar, aber nicht so. Er folgt einer eigenen Dialektik,
die wir so schwer zu fassen kriegen; wahrscheinlich weil wir mitten
in ihrem Strudel schwimmen.
Ich muß einen Irrtum korrigieren, den ich oben durch die
allzu verkürzte Polemik gegen die neue Erziehung verschuldet
habe. Die psychische Entwicklung des Kindes, von der Stunde seiner
Geburt an, erweitert um alle Lernprozesse und sonstigen Einflüsse,
kurz, die Sozialisation ist ungeheuer bestimmend. Ja, man hat gesagt,
daß jedes Volk, jede Klasse, Kultur, Subkultur und Schicht
ihre Kinder so sozialisiert, daß sie genau die psychische
Eigenart entwickeln, die die jeweilige Gesellschaft bei ihren Trägern
braucht.
Familien, und besonders Mütter, sind außerordentlich
schwer dazu zu kriegen, ihre Kinder anders zu erziehen, als sie
selber erzogen worden sind. Die Atabaska-Indianer, ein Stamm der
Apachen, die im unwirtlichen Binnenland von Alaska lebten, hatten
die Gewohnheit, ihre Säuglinge auf ein Wickelbrett gebunden
am höchsten Punkte ihrer Spitzzelte, etwa in Kopfhöhe
eines stehenden Menschen aufzuhängen, weil es dort am wärmsten
war. Vorbeigehende konnten die hängende Wiege schaukeln, das
Kind konnte sie aber nicht sehen. Vor etwa 40 Jahren wurden diese
Indianer entdeckt. Man baute ihnen Hauser aus Zement
und Ziegeln, versah sie mit einer guten Heizung und modernen Möbeln.
Zu ihrer Verwunderung entdeckten die weißen Betreuer, daß
Atabaska-Mütter fanden, der richtige Platz für ihre Säuglinge
im Wickelbrett sei oben, auf dem Kleiderschrank. Sie ließen
sich nicht davon abbringen: das sei für die Aufzucht ihrer
Kinder nötig.
Nicht nur Gesetz und Rechte erben sich wie eine ewige Krankheit
fort. Auch andere Traditionen können sich, wie Freud erkannt
hat, in der psychischen Instanz Überich trotz größerer
äußerer Veränderungen ungeheuer lange fortpflanzen.
Gerade die Atabaska-Apachen scheinen noch genau die gleichen Überich-Forderungen
in sich zu tragen wie die Mescalero-Apachen in Neu-Mexico. Die beiden
Volksteile haben sich wahrscheinlich vor etwa 1000 Jahren getrennt.
Die einen lebten als Nomaden in den büffelreichen Steppen des
Südens, bis zur Eroberung des Kontinents durch die Weißen,
und dann seit vielen Generationen in elenden Reservaten von der
Fürsorge der Eroberer. Die anderen waren in ihren eisigen Steppen
auf die spärliche Jagd und Fischerei angewiesen, dem Hunger
und der Kälte ausgesetzt, und kamen, wie gesagt, erst vor etwa
40 Jahren in Kontakt mit den Weißen, lebten nie in einem Reservat.
Wie konnte ein psychisches Gebilde, das wir uns unwillkürlich
als bildsam und ephemer vorstellen, trotz so unterschiedlicher und
massiver materieller Einflüsse unverändert bleiben?
Die Umständlichkeit jeder solchen Schilderung verbietet es,
an einem Beispiel nachzuweisen, wie sehr die frühkindlichen
Erziehungsgewohnheiten und die gesellschaftlichen Institutionen,
besonders die Familien und Sippen, die Eigenart des Menschen prägen.
Das ist auch ganz bekannt und hat bedeutende Forscher dazu gebracht
anzunehmen, daß die Aufzucht in der Familie der einzige gesellschaftliche
Faktor sei, dem ein Einfluß auf das Innenleben, auf die psychische
Struktur zukommt.
Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß die Menschheit
in so viele Pseudospezies, also scheinbar verschiedene Arten Mensch
zerfällt, wie es Völker und andere entsprechende Gruppierungen
gilt. Wo das genau zu stimmen scheint, könnte eine Veränderung
des Menschen oder seiner Gesellschaft nur von außen erfolgen.
Levi-Strauss hat solche (vorkapitalistischen) Sozietäten kalte
Gesellschaften genannt, zum Unterschied von den heillen,
in denen es gleichsam brodelt, die sich von innen her verändern,
in denen, so können wir vermuten, das Ergebnis der Sozialisation,
der sozialisierte Mensch, den Erfordernissen der Gesellschaft nicht
mehr entspricht. Doch hat da einer (4) vier ostafrikanische Volker
psychologisch untersucht, die man zu den kalten Gesellschaften
rechnen muß. Von den Gegebenheiten ihres Wohnraumes gezwungen,
lebt je ein Teil jedes einzelnen Volkes überwiegend als Ackerbauer,
ein anderer überwiegend als nomadisierende Viehzüchter.
Die Sozialisation hat es zustande gebracht, daß die Angehörigen
jedes Volkes nicht nur nach Sprache und Traditionen, sondern gerade
auch nach ihrer psychologischen Eigenart einander ähnlich geblieben
sind. Doch ließ sich ebenso eindeutig nachweisen, daß
die Produktionsweise für sie charakteristische Muster mit sich
gebracht hat. Die Ackerbauer haben Haltungen etwa zum Besitz, zu
verschiedenen erwünschten und unerwünschten Charaktereigenschaften
und haben natürliche Emotionen, wie sie für
Ackerbauer typisch sind, die sie mit Angehörigen anderer Ackerbauvolker
teilen, während der Sektor ihres Volkes, der Viehzucht betreibt,
psychologische Merkmale aufweist, welche bei den ackerbauenden Teilen
des Volkes nicht anzutreffen sind, die sie aber mit anderen Hirtenvölkern
gemeinsam haben. Am deutlichsten treten diese Verhältnisse
bei den Sexualgewohnheiten und sexuellen Werten hervor, die doch
die Psychoanalyse gerne bis ins einzelne von der frühkindlichen
Entwicklung ableitet. Es kann kein Zweifel bestehen, daß bei
diesen vier Volkern die Ökologie in ihrer Auswirkung auf die
Produktionsverhältnisse den erworbenen psychischen Strukturen
ihre Form gegeben hat.
Solchen makrostrukturellen Kräften und den Widersprüchen,
die sie im Sozialgefüge erzeugen, wurde schon lange ihre Rolle
bei der Evolution menschlicher Gesellschaften zugeschrieben. Die
Ethnopsychoanalyse muß damit rechnen, ihre Auswirkungen auch
bei Individuen anzutreffen, die der Historiker als unbewußte
Objekte der Schicksale ihrer Sozietät oder Klasse bezeichnen
durfte. Diese Kräfte, ob sie nun auf die psychische Entwicklung
oder auf bereits erwachsene Menschen einwirken, können wir
als progressiven, verändernden Faktor ansehen.
Um der Beantwortung unserer Fragen näher zu kommen, können
wir bei allen Beobachtungen einerseits einen konservativen Faktor,
die kulturspezifische Sozialisation, andererseits einen progressiven
Faktor, die gesellschaftlichen Verhältnisse, die ich als makrosozietäre
bezeichne, in Rechnung stellen.(5) Beide, die Sozialisation und
das, was ich hier die gesellschaftlichen Verhältnisse
nenne, sind gesellschaftliche Einflusse, denen jedes Individuum
unterworfen ist. Diese Kräfte haben aber eine verschiedene
und zwar gegensatzliehe Wirkung, wenn wir sie von der Psychologie
und vom sozialen Verhalten der betroffenen Personen her betrachten.
Die durch all die verschiedenen Erziehungspersonen und -instituttonen
(Mutter, Familie, Schule etc.) vermittelten Einflusse (die Sozialisation)
tendieren darauf hin, daß sich der Einzelne an die einmal
bestehende Gesellschaftsordnung anpaßt; die makrosozietären,
gesellschaftlichen Verhältnisse bewirken im Prinzip,
daß das Individuum sich, sein Verhalten in der Gesellschaft
und damit diese selbst verändert. Darum nenne ich die ersteren
konservativ, die letzteren progressiv.
Bei den vier ostafrikanischen Volkern sehe ich natürlich die
verschiedene Produktionsweise als progressiven, zur
Änderung drängenden Faktor an. Beide Faktoren kann man
sich als Koordinaten in einem Koordinatensystem vorstellen, das
für die Bestimmung jeder ethnopsychoanalytischen Beobachtung
unerläßlich ist. Eine dritte Koordinate, also in der
dritten Dimension, wäre der zeitliche Verlauf. Beide Faktoren,
die Sozialisation und die gesellschaftlichen Verhältnisse,
sind prinzipiell diachrone Phänomene, d. h. sie sind immer
in Veränderung begriffen. Dieses Koordinatensystem, Sozialisation
versus gesellschaftliche Verhältnisse, eignet sich vorzuglich,
um Forschungsergebnisse, die mit den verschiedensten ethnologischen
und psychologischen Methoden gewonnen worden sind, miteinander in
Beziehung zu setzen oder zu vergleichen. Ich halte es gegenwärtig
für das beste theoretische Instrument, um der Dialektik, die
sich bei der ethnopsychoanalytischen Forschung ergibt, eine verständliche
Gestalt zu geben.
Das beschriebene Koordinatensystem enthält Widerspruche, die
als Ausnahmen von der Regel imponieren, so daß der Sozialisation
verändernde Funktionen, den makrosozietären gesellschaftlichen
Verhältnisse. konservative zukommen. Zum Beispiel kann
das Überich, ein Ergebnis der Sozialisation, wegen seines besonderen
Inhaltes zur Veränderung drängen. Vom Prozeß der
Sozialisation, die grundsätzlich auf Anpassung hin angelegt
ist, kann in einer relativ stabilen Sozietät ein mächtiger
verändernder Impuls ausgehen: so hat die Erziehung in den Missionsschulen
der afrikanischen Kolonialreiche bei zahlreichen Schülern dazu
geführt, daß sie die Veränderung der traditionellen
und der kolonialen Gesellschaftsstrukturen in Gang brachten. Soziale
Institutionen, z. B. die Kirche, der Staat, können direkt oder
indirekt einen stabilisierenden Einflug auf psychische Prozesse
haben. Damit wirken sie auf erwachsene Individuen im Sinne der Anpassung,
also konservativ, obwohl sie zu den makrosozietären
gesellschaftlichen Verhältnissen. zu rechnen sind. Verschiedene
gesellschaftliche Institutionen, z. B. Rituale, sind geradezu als
kollektive Abwehrmechanismen beschrieben worden; als solche haben
sie einen stabilisierenden Einflug auf die Ichfunktionen der Beteiligten.
Trotz dieser Ausnahmen, bei denen die Sozialisation ein progressives
Ergebnis zeitigt, also zu gesellschaftlichen Veränderungen
drängt, und die makrosozietären Verhältnisse zur
besseren Anpassung des Einzelnen an das Bestehende, zu einer konservativen
Haltung führen, muß man am oben entworfenen Koordinatensystem
festhalten. Diesen und anderen Ausnahmen muß und kann man
durch eine vertiefte Analyse Rechnung tragen. Eine Umkehr des Systems
wäre nur möglich, wenn man die materiellen Grundlagen
gesellschaftlicher Verhältnisse leugnen wollte. Dann müßte
die Gesellschaft bleiben, wie sie ist, bis ein Kind heranwächst,
das mit prometheischem Geist begabt ist, der nach Veränderung
drangt. Diese Anschauung ist idealistischen Weltanschauungen eigen,
die das Seelische als die Quelle oder den Geist als den Schöpfer
des Gesellschaftlichen begreifen. Sie kehren das Koordinatensystem
als ganzes um: die bewahrende Funktion kommt den gesellschaftlichen
Verhältnissen zu, insbesondere den bestehenden Produktionsverhältnissen,
die verändernde der Sozialisation, die den menschlichen Geist
ausbildet. Ich fürchte nicht, daß es zu mühsam wird, den Gang
progressiver Veränderungen zu verfolgen; oft ergeben sich überraschende
Einsichten. In einem Schwarzen-Ghetto im Westen von Chicago wurden
vierjährige Kinder, ihre Mutter, Familien und Lebensverhältnisse
dreizehn Jahre lang genau untersucht. Es zeigte sich, daß
sich nur ein Viertel der Kinder normal entwickelt hatte; bei ihnen
konnte man hoffen, daß sie Kindergarten und Schule mit Erfolg
durchlaufen wurden. Ein weiteres Viertel der Kinder war durch die
Sozialisation im Elend ihrer ersten Lebensjahre bereits so schwer
geschädigt worden, daß man sie als lernunfähige,
lebenslänglich psychisch Invalide einstufen mußte. Bei
der restlichen Hälfte waren verschiedene mäßige
Schäden vorhanden; die Voraussage für ihre Entwicklung
blieb unsicher. Das Ergebnis der Untersuchung war nicht nur niederschmetternd,
sondern auch überraschend. Denn man konnte trotz genauester
Nachforschung weder im Verhalten der Mutter zu den Kindern noch
in der Zusammensetzung und sozialen Lage der Familien irgendwelche
genügend relevanten Unterschiede feststellen, die so unterschiedliche
Ergebnisse gleichartiger Sozialisation erklart hatten. Da bemerkte
man, in den frühen sechziger Jahren, als die Zeichen von black
pride - Afrolook-Frisuren, afrikanische Kleidung,
afrikanischer Schmuck etc. - noch nicht Mode geworden
waren, als diese Embleme nur von militant revoltierenden Schwarzen
getragen wurden, daß alle Kinder, die sich gut entwickelt
hatten, mindestens mit einem Zeichen von black pride
geschmückt waren. Von der mittleren Gruppe trugen einige Kinder
solche Zeichen; von den am schwersten Geschädigten trug kein
einziges Kind ein solches Zeichen der Gesinnung seiner Eltern an
sich. Die Vierjährigen brachten also den Beweis zur Untersuchung
mit, daß ihre Eltern in ganz verschiedener Art zu ihrer gesellschaftlichen
Umwelt standen. Da, wo die Sozialisation im Säuglings- und
Kleinkindesalter gelungen war, darf man in allen Fällen auf
eine aktive Einstellung der Mutter oder der Familie zur nahezu unerträglichen
sozialen Situation schließen, bei den mäßig geschädigten
Kindern manchmal, bei den schwer geschädigten nie. Zur Aufzucht
der Kinder brauchen Eltern offenbar eine begründete Hoffnung
auf ein menschenwürdigeres Leben ihrer Kinder.
Wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt etwas
verändern können, ist jedenfalls die Möglichkeit
gegeben, daß auch der Mensch sich anders. Die Frage, was zuerst
kommen müßte und was danach, die Veränderung des
Menschen oder die der Gesellschaft, ist sicherlich falsch gestellt.
Ich habe mich oft gewundert, wieso Genossen so undialektisch denken
können. Haben sie vielleicht im Klassenkampf den obersten Knopf
ihrer Uniform auf Befehl geschlossen, oder von alleine, weil sie
zur Ordnung erzogen worden sind, zuhause bei Muttern oder in der
harten Schule der Industrieproduktion; oder haben sie den Knopf
gar schon drin? Wie kann man Revolution machen und an eine Veränderung
der Verhältnisse glauben, wenn man seinen eigenen zur zweiten
Natur gewordenen Erziehungserfolg nicht rückgängig macht.
Wie kann man sein repressives Überich durch sexuelle Freiheit
los werden, wenn man der Sklave entfremdeter Arbeit und ausbeuterischer
Verhältnisse bleibt. Da kann doch nur der lange Marsch hinein
in die Verdrängungen und Verzerrungen unserer Seele und hinaus
gegen die Festung der Mächtigen weiterfuhren. Manche scheinen
schon unterwegs zu sein, aber ich weiß nicht, wer sie sind.
Sind es Frauen, sind es die jeweils Jungen, sind es Schwarze, Weiße,
Indianer oder Chinesen?
Ich glaube zu wissen, warum mir die chinesische Kulturrevolution
so gut gefallen hat. Ich bin doch sonst gar nicht für Durcheinander
und gegen die Schließung von Schulen und Universitäten.
Es gab da die Idee, daß man alle paar Jahre wieder Revolution
machen muß. Das hat mir gefallen, wahrscheinlich weil ich
weiß, daß es so lange dauert, bis der Mensch sich ändert,
und daß es so oft fehlgeht und fehlgehen muß. Da sah
ich eine Chance.
Ich weiß es schon: Utopien bieten kein Ziel. Sie sind wie
Satelliten, die wir selber in Umlauf gebracht haben. Manchmal stürzt
einer ab und verglüht. Andere kreisen weiter. Stillstehen können
sie nicht. Das ist ihr Gesetz.
(1978) .
Anmerkungen
(1) Heine, Heinrich: Deutschland ein Wintermärchen.
Kaput III.
(2) Freud, Sigmund: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung
in die Psychoanalyse. (1933). GW XV, S. 73.
(3) Parin, Paul: Gesellschaftskritik im Deutungsprozeß.
Psyche, Jg. 29 (1975), S. 116.
(4) Edgerton, R. B.: The Individual in Culture and Adaptation.
A study of four East Afncan peoples. Berkeley (Univ. Calif.
Press), 1971.
(5) Parin, Paul: Das Mikroskop der vergleichenden Psychoanalyse
und die Makrosozietät. Psyche, Jg. 30 (1976), S. I.
- Veröffentlichung iim Archiv Sterneck.net mit freundlicher Genehmigung
des Autors -
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