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Georg Büchner:
LENZ
Einige Tage darauf kam Oberlin aus der Schweiz zurück, viel früher
als man es erwartet hatte. Lenz war darüber betroffen. Doch wurde
er heiter, als Oberlin ihm von seinen Freunden in Elsaß erzählte.
Oberlin ging dabei im Zimmer hin und her, und packte aus, legte hin.
Dabei erzählte er von Pfeffel, das Leben eines Landgeistlichen
glücklich preisend. Dabei ermahnte er ihn, sich in den Wunsch
seines Vaters zu fügen, seinem Berufe gemäß zu leben,
heimzukehren. Er sagte ihm: Ehre Vater und Mutter u. dgl. m. Über
dem Gespräch gerieth Lenz in heftige Unruhe; er stieß tiefe
Seufzer aus, Thränen drangen ihm aus den Augen, er sprach abgebrochen.
Ja, ich halt' es aber nicht aus; wollen Sie mich verstoßen?
Nur in Ihnen ist der Weg zu Gott. Doch mit mir ist's aus! Ich bin
abgefallen, verdammt in Ewigkeit, ich bin der ewige Jude. Oberlin
sagte ihm, dafür sey Jesus gestorben, er möge sich brünstig
an ihn wenden, und er würde Theil haben an seiner Gnade.
Lenz erhob das Haupt, rang die Hände, und sagte: Ach! ach! göttlicher
Trost. Dann frug er plötzlich freundlich, was das Frauenzimmer
mache. Oberlin sagte, er wisse von nichts, er wolle ihm aber in Allem
helfen und rathen, er müsse ihm aber Ort, Umstände und Person
angeben. Er antwortete nichts, wie gebrochne Worte: ach sie ist todt!
Lebt sie noch? du Engel, sie liebte mich - ich liebte sie, sie war's
würdig, o du Engel. Verfluchte Eifersucht, ich habe sie aufgeopfert
- sie liebte noch einen andern - ich liebte sie, sie war's würdig
- o gute Mutter, auch die liebte mich. Ich bin ein Mörder. Oberlin
versetzte: vielleicht lebten alle diese Personen noch, vielleicht
vergnügt; es möge seyn, wie es wolle, so könne und
werde Gott, wenn er sich zu ihm bekehrt haben würde, diesen Personen
auf sein Gebet und Thränen soviel Gutes erweisen, daß der
Nutzen, den sie alsdann von ihm hätten, den Schaden, den er ihnen
zugefügt, vielleicht weit überwiegen würde. Er wurde
darauf nach und nach ruhiger und ging wieder an sein Malen.
Den Nachmittag kam er wieder, auf der linken Schulter hatte er ein
Stück Pelz und in der Hand ein Bündel Gerten, die man Oberlin
nebst einem Briefe für Lenz mitgegeben hatte. Er reichte Oberlin
die Gerten mit dem Begehren, er sollte ihn damit schlagen. Oberlin
nahm die Gerten aus seiner Hand, drückte ihm einige Küsse
auf den Mund und sagte: dies wären die Streiche, die er ihm zu
geben hätte, er möchte ruhig seyn, seine Sache mit Gott
allein ausmachen, alle möglichen Schläge würden keine
einzige seiner Sünden tilgen; dafür hätte Jesus gesorgt,
zu dem möchte er sich wenden. Er ging.
Beim Nachtessen war er wie gewöhnlich etwas tiefsinnig. Doch
sprach er von allerlei, aber mit ängstlicher Hast. Um Mitternacht
wurde Oberlin durch ein Geräusch geweckt. Lenz rannte durch den
Hof, rief mit hohler, harter Stimme den Namen Friederike mit äußerster
Schnelle, Verwirrung und Verzweiflung ausgesprochen, er stürzte
sich dann in den Brunnentrog, patschte darin, wieder heraus und herauf
in sein Zimmer, wieder herunter in den Trog, und so einigemal, endlich
wurde er still. Die Mägde, die in der Kinderstube unter ihm schliefen,
sagten, sie hätten oft, insonderheit aber in selbiger Nacht,
ein Brummen gehört, das sie mit nichts als mit dem Tone einer
Haberpfeife zu vergleichen wußten. Vielleicht war es sein Winseln,
mit hohler, fürchterlicher, verzweifelnder Stimme.
Am folgenden Morgen kam Lenz lange nicht. Endlich ging Oberlin hinauf
in sein Zimmer, er lag im Bett ruhig und unbeweglich. Oberlin mußte
lange fragen, ehe er Antwort bekam; endlich sagte er: Ja Herr Pfarrer,
sehen Sie, die Langeweile! die Langeweile! o! so langweilig, ich weiß
gar nicht mehr, was ich sagen soll, ich habe schon alle Figuren an
die Wand gezeichnet. Oberlin sagte ihm, er möge sich zu Gott
wenden; da lachte er und sagte: ja wenn ich so glücklich wäre,
wie Sie, einen so behaglichen Zeitvertreib aufzufinden, ja man könnte
sich die Zeit schon so ausfüllen. Alles aus Müssiggang.
Denn die Meisten beten aus Langeweile; die Andern verlieben sich aus
Langeweile, die Dritten sind tugendhaft, die Vierten lasterhaft und
ich gar nichts, gar nichts, ich mag mich nicht einmal umbringen: es
ist zu langweilig:
O Gott in Deines Lichtes Welle,
In Deines glüh'nden Mittags Zelle
Sind meine Augen wund gewacht,
Wird es denn niemals wieder Nacht?
Oberlin blickte ihn unwillig an und wollte gehen. Lenz huschte ihm
nach und indem er ihn mit unheimlichen Augen ansah: sehn Sie, jetzt
kommt mir doch was ein, wenn ich nur unterscheiden könnte, ob
ich träume oder wache: sehn Sie, das ist sehr richtig, wir wollen
es untersuchen; er huschte dann wieder ins Bett. Den Nachmittag wollte
Oberlin in der Nähe einen Besuch machen; seine Frau war schon
fort; er war im Begriff, wegzugehen, als es an seine Thür klopfte
und Lenz hereintrat mit vorwärtsgebogenem Leib, niederwärts
hängendem Haupt, das Gesicht über und über und das
Kleid hie und da mit Asche bestreut, mit der rechten Hand den linken
Arm haltend. Er bat Oberlin, ihm den Arm zu ziehen, er hätte
ihn verrenkt, er hätte sich zum Fenster heruntergestürzt,
weil es aber Niemand gesehen, wollte er es auch Niemand sagen. Oberlin
erschrack heftig, doch sagte er nichts, er that was Lenz begehrte,
zugleich schrieb er an den Schulmeister in Bellefosse, er möge
herunterkommen und gab ihm Instruktionen. Dann ritt er weg. Der Mann
kam. Lenz hatte ihn schon oft gesehen und hatte sich an ihn attachirt.
Er that als hätte er mit Oberlin etwas reden wollen, wollte dann
wieder weg. Lenz bat ihn, zu bleiben und so blieben sie beisammen.
Lenz schlug noch einen Spaziergang nach Fouday vor. Er besuchte das
Grab des Kindes, das er hatte erwecken wollen, kniete zu verschiedenen
Malen nieder, küßte die Erde des Grabes, schien betend,
doch mit großer Verwirrung, riß Etwas von der auf dem
Grab stehenden Blume ab, als ein Andenken, ging wieder zurück
nach Waldbach, kehrte wieder um und Sebastian mit. Bald ging er langsam
und klagte über große Schwäche in den Gliedern, dann
ging er mit verzweifelnder Schnelligkeit, die Landschaft beängstigte
ihn, sie war so eng, daß er an Alles zu stoßen fürchtete.
Ein unbeschreibliches Gefühl des Mißbehagens befiel ihn,
sein Begleiter ward ihm endlich lästig, auch mochte er seine
Absicht errathen und suchte Mittel ihn zu entfernen. Sebastian schien
ihm nachzugeben, fand aber heimlich Mittel, seine Brüder von
der Gefahr zu benachrichtigen, und nun hatte Lenz zwei Aufseher statt
einen. Er zog sie weiter herum, endlich ging er nach Waldbach zurück
und da sie nahe an dem Dorfe waren, kehrte er wie ein Blitz wieder
um und sprang wie ein Hirsch gen Fouday zurück. Die Männer
setzten ihm nach. Indem sie ihn in Fouday suchten, kamen zwei Krämer
und erzählten ihnen, man hätte in einem Hause einen Fremden
gebunden, der sich für einen Mörder ausgäbe, aber gewiß
kein Mörder seyn könne. Sie liefen in dies Haus und fanden
es so. Ein junger Mensch hatte ihn auf sein ungestümes Dringen
in der Angst gebunden. Sie banden ihn los und brachten ihn glücklich
nach Waldbach, wohin Oberlin indessen mit seiner Frau zurückgekommen
war. Er sah verwirrt aus, da er aber merkte, daß er liebreich
und freundlich empfangen wurde, bekam er wieder Muth, sein Gesicht
veränderte sich vortheilhaft, er dankte seinen beiden Begleitern
freundlich und zärtlich und der Abend ging ruhig herum. Oberlin
bat ihn inständig, nicht mehr zu baden, die Nacht ruhig im Bette
zu bleiben und wenn er nicht schlafen könne, sich mit Gott zu
unterhalten. Er versprachs und that es so die folgende Nacht, die
Mägde hörten ihn fast die ganze Nacht hindurch beten. -
Den folgenden Morgen kam er mit vergnügter Miene auf Oberlins
Zimmer. Nachdem sie Verschiedenes gesprochen hatten, sagte er mit
ausnehmender Freundlichkeit: Liebster Herr Pfarrer, das Frauenzimmer,
wovon ich Ihnen sagte, ist gestorben, ja gestorben, der Engel. Woher
wissen Sie das? - Hieroglyphen, Hieroglyphen - und dann zum Himmel
geschaut und wieder: ja gestorben - Hieroglyphen. Es war dann nichts
weiter aus ihm zu bringen. Er setzte sich und schrieb einige Briefe,
gab sie sodann Oberlin mit der Bitte, einige Zeilen dazu zu setzen.
Sein Zustand war indessen immer trostloser geworden, alles was er
an Ruhe aus der Nähe Oberlins und aus der Stille des Thals geschöpft
hatte, war weg; die Welt, die er hatte nutzen wollen, hatte einen
ungeheuern Riß, er hatte keinen Haß, keine Liebe, keine
Hoffnung, eine schreckliche Leere und doch eine folternde Unruhe,
sie auszufüllen. Er hatte N i c h t s. Was er that, that
er mit Bewußtsein und doch zwang ihn ein innerlicher Instinkt.
Wenn er allein war, war es ihm so entsetzlich einsam, daß er
beständig laut mit sich redete, rief, und dann erschrak er wieder
und es war ihm, als hätte eine fremde Stimme mit ihm gesprochen.
Im Gespräch stockte er oft, eine unbeschreibliche Angst befiel
ihn, er hatte das Ende seines Satzes verloren; dann meinte er, er
müße das zuletzt gesprochene Wort behalten und immer sprechen,
nur mit großer Anstrengung unterdrückte er diese Gelüste.
Es bekümmerte die guten Leute tief, wenn er manchmal in ruhigen
Augenblicken bei ihnen saß und unbefangen sprach und er dann
stockte und eine unaussprechliche Angst sich in seinen Zügen
malte, er die Personen, die ihm zunächst saßen krampfhaft
am Arm faßte und erst nach und nach wieder zu sich kam. War
er allein, oder las er, war's noch ärger, all' seine geistige
Thätigkeit blieb manchmal in einem Gedanken hängen; dachte
er an eine fremde Person, oder stellte er sie sich lebhaft vor, so
war es ihm, als würde er sie selbst, er verwirrte sich ganz und
dabei hatte er einen unendlichen Trieb, mit Allem um ihn im Geist
willkürlich umzugehen; die Natur, Menschen, nur Oberlin ausgenommen,
Alles traumartig, kalt; er amüsirte sich, die Häuser auf
die Dächer zu stellen, die Menschen an und auszukleiden, die
wahnwitzigsten Possen auszusinnen. Manchmal fühlte er einen unwiderstehlichen
Drang, das Ding auszuführen, und dann schnitt er entsetzliche
Fratzen. Einst saß er neben Oberlin, die Katze lag gegenüber
auf einem Stuhl, plötzlich wurden seine Augen starr, er hielt
sie unverrückt auf das Thier gerichtet, dann glitt er langsam
den Stuhl herunter, die Katze ebenfalls, sie war wie bezaubert von
seinem Blick, sie gerieth in ungeheure Angst, sie sträubte sich
scheu, Lenz mit den nämlichen Tönen, mit fürchterlich
entstelltem Gesicht, wie in Verzweiflung stürzten Beide auf einander
los, da endlich erhob sich Madame Oberlin, um sie zu trennen. Dann
war er wieder tief beschämt. Die Zufälle des Nachts steigerten
sich auf's Schrecklichste. Nur mit der größten Mühe
schlief er ein, während er zuvor die noch schreckliche Leere
zu füllen versucht hatte. Dann gerieth er zwischen Schlaf und
Wachen in einen entsetzlichen Zustand; er stieß an etwas Grauenhaftes,
Entsetzliches, der Wahnsinn packte ihn, er fuhr mit fürchterlichem
Schreien, in Schweiß gebadet, auf, und erst nach und nach fand
er sich wieder. Er mußte dann mit den einfachsten Dingen anfangen,
um wieder zu sich zu kommen. Eigentlich nicht er selbst that es, sondern
ein mächtiger Erhaltungstrieb, es war als sey er doppelt und
der eine Theil suchte den andern zu retten, und rief sich selbst zu;
er erzählte, er sagte in der heftigsten Angst Gedichte her, bis
er wieder zu sich kam. Auch bei Tage bekam er diese Zufälle,
sie waren dann noch schrecklicher; denn sonst hatte ihn die Helle
davor bewahrt. Es war ihm dann, als existire er allein, als bestünde
die Welt nur in seiner Einbildung, als sey nichts, als er, er sey
das ewig Verdammte, der Satan; allein mit seinen folternden Vorstellungen.
Er jagte mit rasender Schnelligkeit sein Leben durch und dann sagte
er: consequent, consequent; wenn Jemand was sprach: inconsequent,
inconsequent; es war die Kluft unrettbaren Wahnsinns, eines Wahnsinns
durch die Ewigkeit. Der Trieb der geistigen Erhaltung jagte ihn auf;
er stürzte sich in Oberlins Arme, er klammerte sich an ihn, als
wolle er sich in ihm drängen, er war das einzige Wesen, das für
ihn lebte und durch den ihm wieder das Leben offenbart wurde. Allmählig
brachten ihn Oberlins Worte denn zu sich, er lag auf den Knieen vor
Oberlin, seine Hände in den Händen Oberlins, sein mit kaltem
Schweiß bedecktes Gesicht auf dessen Schooß, am ganzen
Leibe bebend und zitternd. Oberlin empfand unendliches Mitleid, die
Familie lag auf den Knieen und betete für den Unglücklichen,
die Mägde flohen und hielten ihn für einen Besessenen. Und
wenn er ruhiger wurde, war es wie der Jammer eines Kindes, er schluchzte,
er empfand ein tiefes, tiefes Mitleid mit sich selbst; das waren auch
seine seligsten Augenblicke. Oberlin sprach ihm von Gott. Lenz wand
sich ruhig los und sah ihn mit einem Ausdruck unendlichen Leidens
an, und sagte endlich: aber ich, wär' ich allmächtig, sehen
Sie, wenn ich so wäre, und ich könnte das Leiden nicht ertragen,
ich würde retten, retten, ich will ja nichts als Ruhe, Ruhe,
nur ein wenig Ruhe und schlafen können. Oberlin sagte, dies sey
eine Profanation. Lenz schüttelte trostlos mit dem Kopfe. Die
halben Versuche zum Entleiben, die er indeß fortwährend
machte, waren nicht ganz Ernst, es war weniger der Wunsch des Todes,
für ihn war ja keine Ruhe und Hoffnung im Tod; es war mehr in
Augenblicken der fürchterlichsten Angst oder der dumpfen an's
Nichtseyn gränzenden Ruhe ein Versuch, sich zu sich selbst zu
bringen durch physischen Schmerz. Augenblicke, wenn sein Geist sonst
auf irgend einer wahnwitzigen Idee zu reiten schien, waren noch die
glücklichsten. Es war doch ein wenig Ruhe und sein wirrer Blick
war nicht so entsetzlich, als die nach Rettung dürstende Angst,
die ewige Qual der Unruhe! Oft schlug er sich den Kopf an die Wand,
oder versetzte sich sonst einen heftigen physischen Schmerz.
Den 8. Morgens blieb er im Bette, Oberlin ging hinauf; er lag fast
nackt auf dem Bette und war heftig. Oberlin wollte ihn zudecken, er
klagte aber sehr, wie schwer Alles sey, so schwer, er glaube gar nicht,
daß er gehen könne, jetzt endlich empfände er die
ungeheure Schwere der Luft. Oberlin sprach ihm Muth zu. Er blieb aber
in seiner frühern Lage und blieb den größten Theil
des Tages so, auch nahm er keine Nahrung zu sich. Gegen Abend wurde
Oberlin zu einem Kranken nach Bellefosse gerufen. Es war gelindes
Wetter und Mondschein. Auf dem Rückweg begegnete ihm Lenz. Er
schien ganz vernünftig und sprach ruhig und freundlich mit Oberlin.
Der bat ihn, nicht zu weit zu gehen, er versprachs; im Weggehen wandte
er sich plötzlich um und trat wieder ganz nah zu Oberlin und
sagte rasch: sehn Sie, Herr Pfarrer, wenn ich das nur nicht mehr hören
müßte mir wäre geholfen. "Was denn, mein Lieber?"
Hören Sie denn nichts, hören Sie denn nicht die entsetzliche
Stimme, die um den ganzen Horizont schreit, und die man gewöhnlich
die Stille heißt, seit ich in dem stillen Thal bin, hör'
ich's immer, es läßt mich nicht schlafen, ja Herr Pfarrer,
wenn ich wieder einmal schlafen könnte. Er ging dann kopfschüttelnd
weiter. Oberlin ging zurück nach Waldbach und wollte ihm Jemand
nachschicken, als er ihn die Stiege herauf in sein Zimmer gehen hörte.
Einen Augenblick darauf platzte etwas im Hof mit so starkem Schall,
daß es Oberlin unmöglich von dem Falle eines Menschen herkommen
zu können schien. Die Kindsmagd kam todtblaß und ganz zitternd.
Er saß mit kalter Resignation im Wagen, wie sie das Thal hervor
nach Westen fuhren. Es war ihm einerlei, wohin man ihn führte;
mehrmals wo der Wagen bei dem schlechten Wege in Gefahr gerieth, blieb
er ganz ruhig sitzen; er war vollkommen gleichgültig. In diesem
Zustand legte er den Weg durch's Gebirg zurück. Gegen Abend waren
sie im Rheinthale. Sie entfernten sich allmählig vom Gebirg,
das nun wie eine tiefblaue Krystallwelle sich in das Abendroth hob,
und auf deren warmer Fluth die rothen Strahlen des Abend spielten;
über die Ebene hin am Flusse des Gebirges lag ein schimmerndes
bläuliches Gespinnst. Es wurde finster, jemehr sie sich Straßburg
näherten; hoher Vollmond, alle fernen Gegenstände dunkel,
nur der Berg neben bildete eine scharfe Linie, die Erde war wie ein
goldner Pokal, über den schäumend die Goldwellen des Monds
liefen. Lenz starrte ruhig hinaus, keine Ahnung, kein Drang; nur wuchs
eine dumpfe Angst in ihm, je mehr die Gegenstände sich in der
Finsterniß verloren. Sie mußten einkehren; da machte er
wieder mehre Versuche, Hand an sich zu legen, war aber zu scharf bewacht.
Am folgenden Morgen bei trübem regnerischem Wetter traf er in
Straßburg ein. Er schien ganz vernünftig, sprach mit den
Leuten; er that Alles wie es die Andern thaten, es war aber eine entsetzliche
Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein
Dasein war ihm eine nothwendige Last. - - So lebte er hin.
- Teil I - Teil II - Teil III - Teil IV -
(Authentische Fassung des in den Jahren 1835-37 entstandenen, unvollendet
und fragmentarisch gebliebenen Textes von Georg Büchner nach
der Abschrift seiner Frau Wilhelmine Jaeglé. Erstmals von Karl
Gutzkow in der Zeitschrift "Telegraph für Deutschland"
1839 publiziert.)
Georg Büchner (1813-1837):
Friede den Hütten
Lenz
Großmutters Märchen
Georg Büchner - Werke online
Georg Büchner Gesellschaft
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