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Georg Büchner:
LENZ
Den 20. ging Lenz durch's Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen
im Schnee, die Thäler hinunter graues Gestein, grüne Flächen,
Felsen und Tannen. Es war naßkalt, das Wasser rieselte die Felsen
hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen
schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber
Alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer
und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Er ging
gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald
abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm
manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte.
Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang,
der graue Wald sich unter ihm schüttelte, und der Nebel die Formen
bald verschlang, bald die gewaltigen Glieder halb enthüllte;
es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlornen Träumen,
aber er fand nichts. Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß,
er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen, er begriff
nicht, daß er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hinunter
zu klimmen, einen fernen Punkt zu erreichen; er meinte, er müsse
Alles mit ein Paar Schritten ausmessen können. Nur manchmal,
wenn der Sturm das Gewölk in die Thäler warf, und es den
Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald
wie fern verhallende Donner, und dann gewaltig heran brausten, in
Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen,
und die Wolken wie wilde wiehernde Rosse heransprengten, und der Sonnenschein
dazwischen durchging und kam und sein blitzendes Schwert an den Schneeflächen
zog, so daß ein helles, blendendes Licht über die Gipfel
in die Thäler schnitt; oder wenn der Sturm das Gewölk abwärts
trieb und einen lichtblauen See hineinriß, und dann der Wind
verhallte und tief unten aus den Schluchten, aus den Wipfeln der Tannen
wie ein Wiegenlied und Glockengeläute heraufsummte, und am tiefen
Blau ein leises Roth hinaufklomm, und kleine Wölkchen auf silbernen
Flügeln durchzogen und alle Berggipfel scharf und fest, weit
über das Land hin glänzten und blitzten, riß es ihm
in der Brust, er stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen,
Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich
ziehen, Alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über
der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust,
die ihm wehe that; oder er stand still und legte das Haupt in's Moos
und schloß die Augen halb, und dann zog es weit von ihm, die
Erde wich unter ihm, sie wurde klein wie ein wandelnder Stern und
tauchte sich in einen brausenden Strom, der seine klare Fluth unter
ihm zog. Aber es waren nur Augenblicke, und dann erhob er sich nüchtern,
fest, ruhig als wäre ein Schattenspiel vor ihm vorübergezogen,
er wußte von nichts mehr. Gegen Abend kam er auf die Höhe
des Gebirgs, auf das Schneefeld, von wo man wieder hinabstieg in die
Ebene nach Westen, er setzte sich oben nieder. Es war gegen Abend
ruhiger geworden; das Gewölk lag fest und unbeweglich am Himmel,
so weit der Blick reichte, nichts als Gipfel, von denen sich breite
Flächen hinabzogen, und alles so still, grau, dämmernd;
es wurde ihm entsetzlich einsam, er war allein, ganz allein, er wollte
mit sich sprechen, aber er konnte, er wagte kaum zu athmen, das Biegen
seines Fußes tönte wie Donner unter ihm, er mußte
sich niedersetzen; es faßte ihn eine namenlose Angst in diesem
Nichts, er war im Leeren, er riß sich auf und flog den Abhang
hinunter. Es war finster geworden, Himmel und Erde verschmolzen in
Eins. Es war als ginge ihm was nach, und als müsse ihn was Entsetzliches
erreichen, etwas das Menschen nicht ertragen können, als jage
der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm. Endlich hörte er Stimmen,
er sah Lichter, es wurde ihm leichter, man sagte ihm, er hätte
noch eine halbe Stunde nach Waldbach. Er ging durch das Dorf, die
Lichter schienen durch die Fenster, er sah hinein im Vorbeigehen,
Kinder am Tische, alte Weiber, Mädchen, Alles ruhige, stille
Gesichter, es war ihm als müsse das Licht von ihnen ausstrahlen,
es ward ihm leicht, er war bald in Waldbach im Pfarrhause. Man saß
am Tische, er hinein; die blonden Locken hingen ihm um das bleiche
Gesicht, es zuckte ihm in den Augen und um den Mund, seine Kleider
waren zerrissen. Oberlin hieß ihn willkommen, er hielt ihn für
einen Handwerker. "Seyn Sie mir willkommen, obschon Sie mir unbekannt."
- Ich bin ein Freund von und bringe Ihnen Grüße von ihm.
"Der Name, wenn's beliebt"... Lenz. "Ha, ha, ha, ist
er nicht gedruckt? Habe ich nicht einige Dramen gelesen, die einem
Herrn dieses Namens zugeschrieben werden?" Ja, aber belieben
Sie mich nicht darnach zu beurtheilen. Man sprach weiter, er suchte
nach Worten und erzählte rasch, aber auf der Folter; nach und
nach wurde er ruhig, das heimliche Zimmer und die stillen Gesichter,
die aus dem Schatten hervortraten, das helle Kindergesicht, auf dem
alles Licht zu ruhen schien und das neugierig, vertraulich aufschaute,
bis zur Mutter, die hinten im Schatten engelgleich stille saß.
Er fing an zu erzählen, von seiner Heimath; er zeichnete allerhand
Trachten, man drängte sich theilnehmend um ihn, er war gleich
zu Haus, sein blasses Kindergesicht, das jetzt lächelte, sein
lebendiges Erzählen; er wurde ruhig, es war ihm als träten
alte Gestalten, vergessene Gesichter wieder aus dem Dunkeln, alte
Lieder wachten auf, er war weg, weit weg. Endlich war es Zeit zum
Gehen, man führte ihn über die Straße, das Pfarrhaus
war zu eng, man gab ihm ein Zimmer im Schulhause. Er ging hinauf,
es war kalt oben, eine weite Stube, leer, ein hohes Bett im Hintergrund,
er stellte das Licht auf den Tisch, und ging auf und ab, er besann
sich wieder auf den Tag, wie er hergekommen, wo er war, das Zimmer
im Pfarrhause mit seinen Lichtern und lieben Gesichtern, es war ihm
wie ein Schatten, ein Traum, und es wurde ihm leer, wieder wie auf
dem Berg, aber er konnte es mit nichts mehr ausfüllen, das Licht
war erloschen, die Finsterniß verschlang Alles; eine unnennbare
Angst erfaßte ihn, er sprang auf, er lief durchs Zimmer, die
Treppe hinunter, vor's Haus; aber umsonst, Alles finster, nichts,
er war sich selbst ein Traum, einzelne Gedanken huschten auf, er hielt
sie fest, es war ihm als müsse er immer "Vater unser"
sagen; er konnte sich nicht mehr finden, ein dunkler Instinkt trieb
ihn, sich zu retten, er stieß an die Steine, er riß sich
mit den Nägeln, der Schmerz fing an, ihm das Bewußtsein
wiederzugeben, er stürzte sich in den Brunnstein, aber das Wasser
war nicht tief, er patschte darin. Da kamen Leute, man hatte es gehört,
man rief ihm zu. Oberlin kam gelaufen; Lenz war wieder zu sich gekommen,
das ganze Bewußtsein seiner Lage, es war ihm wieder leicht,
jetzt schämte er sich und war betrübt, daß er den
guten Leuten Angst gemacht, er sagte ihnen, daß er gewohnt sey
kalt zu baden, und ging wieder hinauf; die Erschöpfung ließ
ihn endlich ruhen.
Den andern Tag ging es gut. Mit Oberlin zu Pferde durch das Thal;
breite Bergflächen, die aus großer Höhe sich in ein
schmales, gewundnes Thal zusammenzogen, das in mannichfachen Richtungen
sich hoch an den Bergen hinaufzog, große Felsenmassen, die sich
nach unten ausbreiteten, wenig Wald, aber alles im grauen ernsten
Anflug, eine Aussicht nach Westen in das Land hinein und auf die Bergkette,
die sich grad hinunter nach Süden und Norden zog, und deren Gipfel
gewaltig, ernsthaft oder schweigend still, wie ein dämmernder
Traum standen. Gewaltige Lichtmassen, die manchmal aus den Thälern,
wie ein goldner Strom schwollen, dann wieder Gewölk, das an dem
höchsten Gipfel lag, und dann langsam den Wald herab in das Thal
klomm, oder in den Sonnenblitzen sich wie ein fliegendes silbernes
Gespinnst herabsenkte und hob; kein Lärm, keine Bewegung, kein
Vogel, nichts als das bald nahe, bald ferne Wehn des Windes. Auch
erschienen Punkte, Gerippe von Hütten, Bretter mit Stroh gedeckt,
von schwarzer ernster Farbe. Die Leute, schweigend und ernst, als
wagten sie die Ruhe ihres Thales nicht zu stören, grüßten
ruhig, wie sie vorbeiritten. In den Hütten war es lebendig, man
drängte sich um Oberlin, er wies zurecht, gab Rath, tröstete;
überall zutrauensvolle Blicke, Gebet. Die Leute erzählten
Träume, Ahnungen. Dann rasch in's praktische Leben, Wege angelegt,
Kanäle gegraben, die Schule besucht. Oberlin war unermüdlich,
Lenz fortwährend sein Begleiter, bald in Gespräch, bald
thätig am Geschäft, bald in die Natur versunken. Es wirkte
alles wohlthätig und beruhigend auf ihn, er mußte mOberlin
oft in die Augen sehen, und die mächtige Ruhe, die uns über
der ruhenden Natur, im tiefen Wald, in mondhellen schmelzenden Sommernächten
überfällt, schien ihm noch näher, in diesem ruhigen
Auge, diesem ehrwürdigen ernsten Gesicht. Er war schüchtern,
aber er machte Bemerkungen, er sprach, Oberlin war sein Gespräch
sehr angenehm, und das anmuthige Kindergesicht Lenzens machte ihm
große Freude. Aber nur so lange das Licht im Thale lag, war
es ihm erträglich; gegen Abend befiel ihn eine sonderbare Angst,
er hätte der Sonne nachlaufen mögen; wie die Gegenstände
nach und nach schattiger wurden, kam ihm Alles so traumartig, so zuwider
vor, es kam ihm die Angst an wie Kindern, die im Dunkeln schlafen;
es war ihm als sey er blind; jetzt wuchs sie, der Alp des Wahnsinns
setzte sich zu seinen Füssen, der rettungslose Gedanke, als sey
Alles nur sein Traum, öffnete sich vor ihm, er klammerte sich
an alle Gegenstände, Gestalten zogen rasch an ihm vorbei, er
drängte sich an sie, es waren Schatten, das Leben wich aus ihm
und seine Glieder waren ganz starr. Er sprach, er sang, er recitirte
Stellen aus Shakespeare, er griff nach Allem, was sein Blut sonst
hatte rascher fließen machen, er versuchte Alles, aber kalt,
kalt. Er mußte dann hinaus ins Freie, das wenige, durch die
Nacht zerstreute Licht, wenn seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt
waren, machte ihm besser, er stürzte sich in den Brunnen, die
grelle Wirkung des Wassers machte ihm besser, auch hatte er eine geheime
Hoffnung auf eine Krankheit, er verrichtete sein Bad jetzt mit weniger
Geräusch. Doch jemehr er sich in das Leben hineinlebte, ward
er ruhiger, er unterstützte Oberlin, zeichnete, las die Bibel;
alte vergangne Hoffnungen gingen in ihm auf; das neue Testament trat
ihm hier so entgegen, und eines Morgens ging er hinaus. Wie Oberlin
ihm erzählte, wie ihn eine unaufhaltsame Hand auf der Brücke
gehalten hätte, wie auf der Höhe ein Glanz seine Augen geblendet
hätte, wie er eine Stimme gehört hätte, wie es in der
Nacht mit ihm gesprochen, und wie Gott so ganz bei ihm eingekehrt,
daß er kindlich seine Loose aus der Tasche holte, um zu wissen,
was er thun sollte, dieser Glaube, dieser ewige Himmel im Leben, dies
Seyn in Gott; jetzt erst ging ihm die heilige Schrift auf. Wie den
Leuten die Natur so nah trat, alles in himmlischen Mysterien; aber
nicht gewaltsam majestätisch, sondern noch vertraut! - Er ging
des Morgens hinaus, die Nacht war Schnee gefallen, im Thal lag heller
Sonnenschein, aber weiterhin die Landschaft halb im Nebel. Er kam
bald vom Weg ab, und eine sanfte Höhe hinauf, keine Spur von
Fußtritten mehr, neben einem Tannenwald hin, die Sonne schnitt
Krystalle, der Schnee war leicht und flockig, hie und da Spur von
Wild leicht auf dem Schnee, die sich ins Gebirg hinzog. Keine Regung
in der Luft als ein leises Wehen, als das Rauschen eines Vogels, der
die Flocken leicht vom Schwanze stäubte. Alles so still, und
die Bäume weithin mit schwankenden weißen Federn in der
tiefblauen Luft. Es wurde ihm heimlich nach und nach, die einförmigen
gewaltigen Flächen und Linien, vor denen es ihm manchmal war,
als ob sie ihn mit gewaltigen Tönen anredete<n>, waren
verhüllt, ein heimliches Weihnachtsgefühl beschlich ihn,
er meinte manchmal seine Mutter müsse hinter einem Baume hervortreten,
groß, und ihm sagen, sie hätte ihm dies Alles bescheert;
wie er hinunterging, sah er, daß um seinen Schatten sich ein
Regenbogen von Strahlen legte, es wurde ihm, als hätte ihn was
an der Stirn berührt, das Wesen sprach ihn an. Er kam hinunter.
Oberlin war im Zimmer, Lenz kam heiter auf ihn zu, und sagte ihm,
er möge wohl einmal predigen. "Sind Sie Theologe?"
Ja! - "Gut, nächsten Sonntag." Lenz ging vergnügt
auf sein Zimmer, er dachte auf einen Text zum Predigen und verfiel
in Sinnen, und seine Nächte wurden ruhig. Der Sonntagmorgen kam,
es war Thauwetter eingefallen. Vorüberstreifende Wolken, Blau
dazwischen, die Kirche lag neben am Berg hinauf, auf einem Vorsprung,
der Kirchhof drum herum. Lenz stand oben, wie die Glocke läutete
und die Kirchengänger, die Weiber und Mädchen in ihrer ernsten
schwarzen Tracht, das weiße gefaltete Schnupftuch auf dem Gesangbuche
und den Rosmarinzweig von den verschiedenen Seiten die schmalen Pfade
zwischen den Felsen herauf und herab kamen. Ein Sonnenblick lag manchmal
über dem Thal, die laue Luft regte sich langsam, die Landschaft
schwamm im Duft, fernes Geläute, es war als löste sich alles
in eine harmonische Welle auf.
Fortsetzung
- Teil I - Teil II - Teil III - Teil IV -
(Authentische Fassung des in den Jahren 1835-37 entstandenen, unvollendet
und fragmentarisch gebliebenen Textes von Georg Büchner nach
der Abschrift seiner Frau Wilhelmine Jaeglé. Erstmals von Karl
Gutzkow in der Zeitschrift "Telegraph für Deutschland"
1839 publiziert.)
Georg Büchner (1813-1837):
Friede den Hütten
Lenz
Großmutters Märchen
Georg Büchner - Werke online
Georg Büchner Gesellschaft
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