|
|
Georg Büchner:
LENZ
Am folgenden Tag wollte Kaufmann weg, er beredete Oberlin mit ihm
in die Schweiz zu gehen. Der Wunsch, Lavater, den er längst durch
Briefe kannte, auch persönlich kennen zu lernen, bestimmte ihn.
Er sagte es zu. Man mußte einen Tag länger wegen der Zurüstungen
warten. Lenz fiel das auf's Herz, er hatte, um seiner unendlichen
Qual los zu werden, sich ängstlich an Alles geklammert; er fühlte
in einzelnen Augenblicken tief, wie er sich Alles nur zurecht mache;
er ging mit sich um wie mit einem kranken Kinde, manche Gedanken,
mächtige Gefühle wurde er nur mit der größten
Angst los, da trieb es ihn wieder mit unendlicher Gewalt darauf, er
zitterte, das Haar sträubte ihm fast, bis er es in der ungeheuersten
Anspannung erschöpfte. Er rettete sich in eine Gestalt, die ihm
immer vor Augen schwebte, und in Oberlin; seine Worte, sein Gesicht
thaten ihm unendlich wohl. So sah er mit Angst seiner Abreise entgegen.
Es war Lenzen unheimlich, jetzt allein im Hause zu bleiben. Das Wetter
war milde geworden, er beschloß Oberlin zu begleiten, in's Gebirg.
Auf der andern Seite, wo die Thäler sich in die Ebne ausliefen,
trennten sie sich. Er ging allein zurück. Er durchstrich das
Gebirg in verschiedenen Richtungen, breite Flächen zogen sich
in die Thäler herab, wenig Wald, nichts als gewaltige Linien
und weiter hinaus die weite rauchende Ebne, in der Luft ein gewaltiges
Wehen, nirgends eine Spur von Menschen, als hie und da eine verlassene
Hütte, wo die Hirten den Sommer zubrachten, an den Abhängen
gelehnt. Er wurde still, vielleicht fast träumend, es verschmolz
ihm Alles in eine Linie, wie eine steigende und sinkende Welle, zwischen
Himmel und Erde, es war ihm als läge er an einem unendlichen
Meer, das leise auf- und abwogte. Manchmal saß er, dann ging
er wieder, aber langsam träumend. Er suchte keinen Weg. Es war
finster Abend, als er an eine bewohnte Hütte kam, im Abhang nach
dem Steinthal. Die Thüre war verschlossen, er ging an's Fenster,
durch das ein Lichtschimmer fiel. Eine Lampe erhellte fast nur einen
Punkt, ihr Licht fiel auf das bleiche Gesicht eines Mädchens,
das mit halb geöffneten Augen, leise die Lippen bewegend, dahinter
ruhte. Weiter weg im Dunkel saß ein altes Weib, das mit schnarrender
Stimme aus einem Gesangbuch sang. Nach langem Klopfen öffnete
sie; sie war halb taub, sie trug Lenz einiges Essen auf und wies ihm
eine Schlafstelle an, wobei sie beständig ihr Lied fortsang.
Das Mädchen hatte sich nicht gerührt. Einige Zeit darauf
kam ein Mann herein, er war lang und hager, Spuren von grauen Haaren,
mit unruhigem verwirrtem Gesicht. Er trat zum Mädchen, sie zuckte
auf und wurde unruhig. Er nahm ein getrocknetes Kraut von der Wand,
und legte ihr die Blätter auf die Hand, so daß sie ruhiger
wurde und verständliche Worte in langsam ziehenden, durchschneidenden
Tönen summte. Er erzählte, wie er eine Stimme im Gebirge
gehört, und dann über den Thälern ein Wetterleuchten
gesehen habe, auch habe es ihn angefaßt und er habe damit gerungen
wie Jakob. Er warf sich nieder und betete leise mit Inbrunst, während
die Kranke in einem langsam ziehenden, leise verhallenden Ton sang.
Dann gab er sich zur Ruhe. Lenz schlummerte träumend ein, und
dann hörte er im Schlaf, wie die Uhr pickte. Durch das leise
Singen des Mädchens und die Stimme der Alten zugleich tönte
das Sausen des Windes bald näher, bald ferner, und der bald helle,
bald verhüllte Mond, warf sein wechselndes Licht traumartig in
die Stube. Einmal wurden die Töne lauter, das Mädchen redete
deutlich und bestimmt, sie sagte, wie auf der Klippe gegenüber
eine Kirche stehe. Lenz sah auf und sie saß mit weitgeöffneten
Augen aufrecht hinter dem Tisch, und der Mond warf sein stilles Licht
auf ihre Züge, von denen ein unheimlicher Glanz zu strahlen schien,
zugleich schnarrte die Alte und über diesem Wechseln und Sinken
des Lichts, den Tönen und Stimmen schlief endlich Lenz tief ein.
Er erwachte früh, in der dämmernden Stube schlief Alles,
auch das Mädchen war ruhig geworden, sie lag zurückgelehnt,
die Hände gefaltet unter der linken Wange; das Geisterhafte aus
ihren Zügen war verschwunden, sie hatte jetzt einen Ausdruck
unbeschreiblichen Leidens. Er trat an's Fenster und öffnete es,
die kalte Morgenluft schlug ihm entgegen. Das Haus lag am Ende eines
schmalen, tiefen Thales, das sich nach Osten öffnete, rothe Strahlen
schossen durch den grauen Morgenhimmel in das dämmernde Thal,
das im weißen Rauch lag und funkelte<n> am grauen Gestein
und trafen in die Fenster der Hütten. Der Mann erwachte, seine
Augen trafen auf ein erleuchtet Bild an der Wand, sie richteten sich
fest und starr darauf, nun fing er an die Lippen zu bewegen und betete
leise, dann laut und immer lauter. Indem kamen Leute zur Hütte
herein, sie warfen sich schweigend nieder. Das Mädchen lag in
Zuckungen, die Alte schnarrte ihr Lied und plauderte mit den Nachbarn.
Die Leute erzählten Lenzen, der Mann sey vor langer Zeit in die
Gegend gekommen, man wisse nicht woher; er stehe im Rufe eines Heiligen,
er sehe das Wasser unter der Erde und könne Geister beschwören,
und man wallfahre zu ihm. Lenz erfuhr zugleich, daß er weiter
vom Steinthal abgekommen, er ging weg mit einigen Holzhauern, die
in die Gegend gingen. Es that ihm wohl, Gesellschaft zu finden; es
war ihm jetzt unheimlich mit dem gewaltigen Menschen, von dem es ihm
manchmal war, als rede er in entsetzlichen Tönen. Auch fürchtete
er sich vor sich selbst in der Einsamkeit.
Er kam heim. Doch hatte die verflossene Nacht einen gewaltigen Eindruck
auf ihn gemacht. Die Welt war ihm helle gewesen, und an sich ein Regen
und Wimmeln nach einem Abgrund, zu dem ihn eine unerbittliche Gewalt
hinriß. Er wühlte jetzt in sich. Er aß wenig; halbe
Nächte im Gebet und fieberhaften Träumen. Ein gewaltsames
Drängen, und dann erschöpft zurückgeschlagen; er lag
in den heißesten Thränen, und dann bekam er plötzlich
eine Stärke, und erhob sich kalt und gleichgültig, seine
Thränen waren ihm dann wie Eis, er mußte lachen. Je höher
er sich aufriß, desto tiefer stürzte er hinunter. Alles
strömte wieder zusammen. Ahnungen von seinem alten Zustande durchzuckten
ihn, und warfen Streiflichter in das wüste Chaos seines Geistes.
Des Tags saß er gewöhnlich unten im Zimmer, Madame Oberlin
ging ab und zu, er zeichnete, malte, las, griff nach jeder Zerstreuung,
Alles hastig von einem zum andern. Doch schloß er sich jetzt
besonders an Madame Oberlin an, wenn sie so da saß, das schwarze
Gesangbuch vor sich, neben eine Pflanze, im Zimmer gezogen, das jüngste
Kind zwischen den Knieen; auch machte er sich viel mit dem Kinde zu
thun. So saß er einmal, da wurde ihm ängstlich, er sprang
auf, ging auf und ab. Die Thüre halb offen, da hörte er
die Magd singen, erst unverständlich, dann kamen die Worte
Auf dieser Welt hab' ich kein' Freud',
Ich hab' mein Schatz und der ist weit.
Das fiel auf ihn, er verging fast unter den Tönen. Madame Oberlin
sah ihn an. Er faßte sich ein Herz, er konnte nicht mehr schweigen,
er mußte davon sprechen. "Beste Madame Oberlin, können
Sie mir nicht sagen, was das Frauenzimmer macht, dessen Schicksal
mir so centnerschwer auf dem Herzen liegt?" "Aber Herr Lenz,
ich weiß von nichts."
Er schwieg dann wieder und ging hastig im Zimmer auf und ab; dann
fing er wieder an: Sehen Sie, ich will gehn; Gott, sie sind noch die
einzigen Menschen, wo ich's aushalten könnte, und doch - doch,
ich muß weg, zu i h r - aber ich kann nicht, ich
darf nicht. - Er war heftig bewegt und ging hinaus. Gegen Abend kam
Lenz wieder, es dämmerte in der Stube; er setzte sich neben Madame
Oberlin. Sehn Sie, fing er wieder an, wenn sie so durch's Zimmer ging,
und so halb für sich allein sang, und jeder Tritt war eine Musik,
es war so eine Glückseligkeit in ihr, und das strömte in
mich über, ich war immer ruhig, wenn ich sie ansah, oder sie
so den Kopf an mich lehnte, und Gott! Gott - Ich war schon lange nicht
mehr ruhig. Ganz Kind; es war, als war ihr die Welt zu weit, sie zog
sich so in sich zurück, sie suchte das engste Plätzchen
im ganzen Haus, und da saß sie, als wäre ihre ganze Seeligkeit
nur in einem kleinen Punkt, und dann war mir's auch so; wie ein Kind
hätte ich dann spielen können. Jetzt ist es mir so eng,
so eng, sehn Sie, es ist mir manchmal, als stieß' ich mit den
Händen an den Himmel; o ich ersticke! Es ist mir dabei oft, als
fühlt' ich physischen Schmerz, da in der linken Seite, im Arm,
womit ich sie sonst faßte. Doch kann ich sie mir nicht mehr
vorstellen, das Bild läuft mir fort, und dies martert mich, nur
wenn es mir manchmal ganz hell wird, so ist mir wieder recht wohl.
- Er sprach später noch oft mit Madame Oberlin davon, aber meist
nur in abgebrochenen Sätzen; sie wußte wenig zu antworten,
doch that es ihm wohl.
Unterdessen ging es fort mit seinen religiösen Quälereien.
Je leerer, je kälter, je sterbender er sich innerlich fühlte,
desto mehr drängte es in ihn, eine Gluth in sich zu wecken, es
kamen ihm Erinnerungen an die Zeiten, wo Alles in ihm sich drängte,
wo er unter all' seinen Empfindungen keuchte; und jetzt so todt. Er
verzweifelte an sich selbst, dann warf er sich nieder, er rang die
Hände, er rührte Alles in sich auf; aber todt! todt! Dann
flehete er, Gott möge ein Zeichen an ihm thun, dann wühlte
er in sich, fastete, lag träumend am Boden. Am dritten Hornung
hörte er, ein Kind in Fouday sey gestorben, er faßte es
auf, wie eine fixe Idee. Er zog sich in sein Zimmer und fastete einen
Tag. Am vierten trat er plötzlich in's Zimmer zu Madame Oberlin,
er hatte sich das Gesicht mit Asche beschmiert, und forderte einen
alten Sack; sie erschrack, man gab ihm, was er verlangte. Er wickelte
den Sack um sich, wie ein Büßender, und schlug den Weg
nach Fouday ein. Die Leute im Thale waren ihn schon gewohnt; man erzählte
sich allerlei Seltsames von ihm. Er kam in's Haus, wo das Kind lag.
Die Leute gingen gleichgültig ihrem Geschäfte nach; man
wies ihm eine Kammer, das Kind lag im Hemde auf Stroh, auf einem Holztisch.
Lenz schauderte, wie er die kalten Glieder berührte und die halbgeöffneten
gläsernen Augen sah. Das Kind kam ihm so verlassen vor, und er
sich so allein und einsam; er warf sich über die Leiche nieder;
der Tod erschreckte ihn, ein heftiger Schmerz faßte ihn an,
diese Züge, dieses stille Gesicht sollte verwesen, er warf sich
nieder, er betete mit allem Jammer der Verzweiflung, daß Gott
ein Zeichen an ihm thue, und das Kind beleben möge, wie er schwach
und unglücklich sey; dann sank er ganz in sich und wühlte
all seinen Willen auf einen Punkt, so saß er lange starr. Dann
erhob er sich und faßte die Hände des Kindes und sprach
laut und fest: Stehe auf und wandle! Aber die Wände hallten ihm
nüchtern den Ton nach, daß es zu spotten schien, und die
Leiche blieb kalt. Da stürzte er halb wahnsinnig nieder, dann
jagte es ihn auf, hinaus in's Gebirg. Wolken zogen rasch über
den Mond; bald Alles im Finstern, bald zeigten sie die nebelhaft verschwindende
Landschaft im Mondschein. Er rannte auf und ab. In seiner Brust war
ein Triumph-Gesang der Hölle. Der Wind klang wie ein Titanenlied,
es war ihm, als könne er eine ungeheure Faust hinauf in den Himmel
ballen und Gott herbei reißen und zwischen seinen Wolken schleifen;
als könnte er die Welt mit den Zähnen zermalmen und sie
dem Schöpfer in's Gesicht speien; er schwur, er lästerte.
So kam er auf die Höhe des Gebirges, und das ungewisse Licht
dehnte sich hinunter, wo die weißen Steinmassen, und der Himmel
war ein dummes blaues Aug, und der Mond stand ganz lächerlich
drin, einfältig. Lenz mußte laut lachen, und mit dem Lachen
griff der Atheismus in ihn und faßte ihn ganz sicher und ruhig
und fest. Er wußte nicht mehr, was ihn vorhin so bewegt hatte,
es fror ihn, er dachte, er wolle jetzt zu Bette gehn, und er ging
kalt und unerschütterlich durch das unheimliche Dunkel - es war
ihm Alles leer und hohl, er mußte laufen und ging zu Bette.
Am folgenden Tag befiel ihn ein großes Grauen vor seinem gestrigen
Zustande, er stand nun am Abgrund, wo eine wahnsinnige Lust ihn trieb,
immer wieder hineinzuschauen, und sich diese Qual zu wiederholen.
Dann steigerte sich seine Angst, die Sünde in den heiligen Geist
stand vor ihm.
Fortsetzung
- Teil I - Teil II - Teil III - Teil IV -
(Authentische Fassung des in den Jahren 1835-37 entstandenen, unvollendet
und fragmentarisch gebliebenen Textes von Georg Büchner nach
der Abschrift seiner Frau Wilhelmine Jaeglé. Erstmals von Karl
Gutzkow in der Zeitschrift "Telegraph für Deutschland"
1839 publiziert.)
Georg Büchner (1813-1837):
Friede den Hütten
Lenz
Großmutters Märchen
Georg Büchner - Werke online
Georg Büchner Gesellschaft
|