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Georg Büchner:
LENZ
Auf dem kleinen Kirchhof war der Schnee weg, dunkles Moos unter
den schwarzen Kreuzen, ein verspäteter Rosenstrauch lehnte
an der Kirchhofmauer, verspätete Blumen dazu unter dem Moos
hervor, manchmal Sonne, dann wieder dunkel. Die Kirche fing an,
die Menschenstimmen begegneten sich im reinen hellen Klang; ein
Eindruck, als schaue man in reines durchsichtiges Bergwasser. Der
Gesang verhallte, Lenz sprach, er war schüchtern, unter den
Tönen hatte sein Starrkrampf sich ganz gelegt, sein ganzer
Schmerz wachte jetzt auf, und legte sich in sein Herz. Ein süßes
Gefühl unendlichen Wohls beschlich ihn. Er sprach einfach mit
den Leuten, sie litten alle mit ihm, und es war ihm ein Trost, wenn
er über einige müdgeweinte Augen Schlaf, und gequälten
Herzen Ruhe bringen, wenn er über dieses von materiellen Bedürfnißen
gequälte Seyn, diese dumpfen Leiden gen Himmel leiten konnte.
Er war fester geworden, wie er schloß, da fingen die Stimmen
wieder an:
Laß in mir die heil'gen Schmerzen,
Tiefe Bronnen ganz aufbrechen;
Leiden sey all' mein Gewinnst,
Leiden sey mein Gottesdienst.
Das Drängen in ihm, die Musik, der Schmerz, erschütterte
ihn. Das All war für ihn in Wunden; er fühlte tiefen unnennbaren
Schmerz davon. Jetzt, ein anderes Seyn, göttliche, zuckende
Lippen bückten sich über ihm aus, und sogen sich an seine
Lippen; er ging auf sein einsames Zimmer. Er war allein, allein!
Da rauschte die Quelle, Ströme brachen aus seinen Augen, er
krümmte sich in sich, es zuckten seine Glieder, es war ihm
als müsse er sich auflösen, er konnte kein Ende finden
der Wollust; endlich dämmerte es in ihm, er empfand ein leises
tiefes Mitleid in sich selbst, er weinte über sich, sein Haupt
sank auf die Brust, er schlief ein, der Vollmond stand am Himmel,
die Locken fielen ihm über die Schläfe und das Gesicht,
die Thränen hingen ihm an den Wimpern und trockneten auf den
Wangen, so lag er nun da allein, und Alles war ruhig und still und
kalt, und der Mond schien die ganze Nacht und stand über den
Bergen. Am folgenden Morgen kam er herunter, er erzählte Oberlin
ganz ruhig, wie ihm die Nacht seine Mutter erschienen sey; sie sey
in einem weißen Kleide aus der dunkeln Kirchhofmauer hervorgetreten,
und habe eine weiße und eine rothe Rose an der Brust stecken
gehabt; sie sey dann in eine Ecke gesunken, und die Rosen seyen
langsam über sie gewachsen, sie sey gewiß todt; er sey
ganz ruhig darüber. Oberlin versetzte ihm nun, wie er bei dem
Tod seines Vaters allein auf dem Felde gewesen sey, und er dann
eine Stimme gehört habe, so daß er wußte, daß
sein Vater todt sey, und wie er heimgekommen, sey es so gewesen.
Das führte sie weiter, Oberlin sprach noch von den Leuten im
Gebirge, von Mädchen, die das Wasser und Metall unter der Erde
fühlten, von Männern, die auf manchen Berghöhen angefaßt
würden und mit einem Geiste rängen; er sagte ihm auch,
wie er einmal im Gebirg durch das Schauen in ein leeres tiefes Bergwasser
in eine Art von Somnambulismus versetzt worden sey. Lenz sagte,
daß der Geist des Wassers über ihn gekommen sey, daß
er dann etwas von seinem eigenthümlichen Seyn empfunden hätte.
Er fuhr weiter fort: Die einfachste, reinste Natur hinge am nächsten
mit der elementarischen zusammen, je feiner der Mensch geistig fühlt
und lebt, um so abgestumpfter würde dieser elementarische Sinn;
er halte ihn nicht für einen hohen Zustand, er sey nicht selbstständig
genug, aber er meine, es müsse ein unendliches Wonnegefühl
seyn, so von dem eigenthümlichen Leben jeder Form berührt
zu werden; für Gesteine; Metalle, Wasser und Pflanzen eine
Seele zu haben; so traumartig jedes Wesen in der Natur in sich aufzunehmen,
wie die Blumen mit dem Zu- und Abnehmen des Mondes die Luft.
Er sprach sich selbst weiter aus, wie in Allem eine unaussprechliche
Harmonie, ein Ton, eine Seeligkeit sey, die in den höhern Formen
mit mehr Organen aus sich herausgriffe, tönte, auffaßte
und dafür aber auch um so tiefer afficirt würde, wie in
den niedrigen Formen Alles zurückgedrängter, beschränkter,
dafür aber auch die Ruhe in sich größer sey. Er
verfolgte das noch weiter. Oberlin brach es ab, es führte ihn
zu weit von seiner einfachen Art ab. Ein andermal zeigte ihm Oberlin
Farbentäfelchen, er setzte ihm auseinander, in welcher Beziehung
jede Farbe mit dem Menschen stände, er brachte zwölf Apostel
heraus, deren jeder durch eine Farbe repräsentirt würde.
Lenz faßte das auf, er spann die Sache weiter, kam in ängstliche
Träume, und fing an wie Stilling die Apocalypse zu lesen, und
las viel in der Bibel.
Um diese Zeit kam Kaufmann mit seiner Braut in's Steinthal. Lenzen
war Anfangs das Zusammentreffen unangenehm, er hatte sich so ein
Plätzchen zurechtgemacht, das bischen Ruhe war ihm so kostbar
und jetzt kam ihm Jemand entgegen, der ihn an so vieles erinnerte,
mit dem er sprechen, reden mußte, der seine Verhältnisse
kannte. Oberlin wußte von Allem nichts; er hatte ihn aufgenommen,
gepflegt; er sah es als eine Schickung Gottes, der den Unglücklichen
ihm zugesandt hätte, er liebte ihn herzlich. Auch war es Alles
nothwendig, daß er da war, er gehörte zu ihnen, als wäre
er schon längst da, und Niemand frug, woher er gekommen und
wohin er gehen werde. Über Tisch war Lenz wieder in guter Stimmung,
man sprach von Literatur, er war auf seinem Gebiete; die idealistische
Periode fing damals an, Kaufmann war ein Anhänger davon, Lenz
widersprach heftig. Er sagte: Die Dichter, von denen man sage, sie
geben die Wirklichkeit, hätten auch keine Ahnung davon, doch
seyen sie immer noch erträglicher, als die, welche die Wirklichkeit
verklären wollten. Er sagte: Der liebe Gott hat die Welt wohl
gemacht wie sie seyn soll, und wir können wohl nicht was Besseres
klecksen, unser einziges Bestreben soll seyn, ihm ein wenig nachzuschaffen.
Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann
ist's gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob
es häßlich ist, das Gefühl, daß Was geschaffen
sey, Leben habe, stehe über diesen Beiden, und sey das einzige
Kriterium in Kunstsachen. Übrigens begegne es uns nur selten,
in Shakespeare finden wir es und in den Volksliedern tönt es
einem ganz, in Göthe manchmal entgegen. Alles Übrige kann
man ins Feuer werfen. Die Leute können auch keinen Hundsstall
zeichnen. Da wolle man idealistische Gestalten, aber Alles, was
ich davon gesehen, sind Holzpuppen. Dieser Idealismus ist die schmählichste
Verachtung der menschlichen Natur. Man versuche es einmal und senke
sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen,
den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel;
er hätte dergleichen versucht im "Hofmeister" und
den "Soldaten." Es sind die prosaischsten Menschen unter
der Sonne; aber die Gefühlsader ist in fast allen Menschen
gleich, nur ist die Hülle mehr oder weniger dicht, durch die
sie brechen muß. Man muß nur Aug und Ohren dafür
haben. Wie ich gestern neben am Thal hinaufging, sah ich auf einem
Steine zwei Mädchen sitzen, die eine band ihre Haare auf, die
andre half ihr; und das goldne Haar hing herab, und ein ernstes
bleiches Gesicht, und doch so jung, und die schwarze Tracht und
die andre so sorgsam bemüht. Die schönsten, innigsten
Bilder der altdeutschen Schule geben kaum eine Ahnung davon. Man
möchte manchmal ein Medusenhaupt seyn, um so eine Gruppe in
Stein verwandeln zu können, und den Leuten zurufen. Sie standen
auf, die schöne Gruppe war zerstört; aber wie sie so hinabstiegen,
zwischen den Felsen war es wieder ein anderes Bild. Die schönsten
Bilder, die schwellendsten Töne, gruppiren, lösen sich
auf. Nur eins bleibt, eine unendliche Schönheit, die aus einer
Form in die andre tritt, ewig aufgeblättert, verändert,
man kann sie aber freilich nicht immer festhalten und in Museen
stellen und auf Noten ziehen und dann Alt und Jung herbeirufen,
und die Buben und Alten darüber radotiren und sich entzücken
lassen. Man muß die Menschheit lieben, um in das eigenthümliche
Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner
zu häßlich seyn, erst dann kann man sie verstehen; das
unbedeutendste Gesicht macht einen tiefern Eindruck als die bloße
Empfindung des Schönen, und man kann die Gestalten aus sich
heraustreten lassen, ohne etwas vom Äußern hinein zu
kopiren, wo einem kein Leben, keine Muskeln, kein Puls entgegen
schwillt und pocht. Kaufmann warf ihm vor, daß er in der Wirklichkeit
doch keine Typen für einen Apoll von Belvedere oder eine Raphaelische
Madonna finden würde. Was liegt daran, versetzte er, ich muß
gestehen, ich fühle mich dabei sehr todt, wenn ich in mir arbeite,
kann ich auch wohl was dabei fühlen, aber ich thue das Beste
daran. Der Dichter und Bildende ist mir der Liebste, der mir die
Natur am Wirklichsten giebt, so daß ich über seinem Gebild
fühle, Alles Übrige stört mich. Die Holländischen
Maler sind mir lieber, als die Italiänischen, sie sind auch
die einzigen faßlichen; ich kenne nur zwei Bilder, und zwar
von Niederländern, die mir einen Eindruck gemacht hätten,
wie das neue Testament; das Eine ist, ich weiß nicht von wem,
Christus und die Jünger von Emaus. Wenn man so liest, wie die
Jünger hinausgingen, es liegt gleich die ganze Natur in den
Paar Worten. Es ist ein trüber, dämmernder Abend, ein
einförmiger rother Streifen am Horizont, halbfinster auf der
Straße, da kommt ein Unbekannter zu ihnen, sie sprechen, er
bricht das Brod, da erkennen sie ihn, in einfach-menschlicher Art,
und die göttlich-leidenden Züge reden ihnen deutlich,
und sie erschrecken, denn es ist finster geworden, und es tritt
sie etwas Unbegreifliches an, aber es ist kein gespenstisches Grauen;
es ist wie wenn einem ein geliebter Todter in der Dämmerung
in der alten Art entgegenträte, so ist das Bild, mit dem einförmigen,
bräunlichen Ton darüber, dem trüben stillen Abend.
Dann ein anderes. Eine Frau sitzt in ihrer Kammer, das Gebetbuch
in der Hand. Es ist sonntäglich aufgeputzt, der Sand gestreut,
so heimlich rein und warm. Die Frau hat nicht zur Kirche gekonnt,
und sie verrichtet die Andacht zu Haus, das Fenster ist offen, sie
sitzt darnach hingewandt, und es ist als schwebten zu dem Fenster
über die weite ebne Landschaft die Glockentöne von dem
Dorfe herein und verhallet der Sang der nahen Gemeinde aus der Kirche
her, und die Frau liest den Text nach. - In der Art sprach er weiter,
man horchte auf, es traf Vieles, er war roth geworden über
den Reden, und bald lächelnd, bald ernst, schüttelte er
die blonden Locken. Er hatte sich ganz vergessen. Nach dem Essen
nahm ihn Kaufmann bei Seite. Er hatte Briefe von Lenzens Vater erhalten,
sein Sohn sollte zurück, ihn unterstützen. Kaufmann sagte
ihm, wie er sein Leben hier verschleudre, unnütz verliere,
er solle sich ein Ziel stecken und dergleichen mehr. Lenz fuhr ihn
an: Hier weg, weg! nach Haus? Toll werden dort? Du weißt,
ich kann es nirgends aushalten, als da herum, in der Gegend, wenn
ich nicht manchmal auf einen Berg könnte und die Gegend sehen
könnte; und dann wieder herunter in's Haus, durch den Garten
gehn, und zum Fenster hineinsehen. Ich würde toll! toll! Laßt
mich doch in Ruhe! Nur ein bischen Ruhe, jetzt wo es mir ein wenig
wohl wird! Weg? Ich verstehe das nicht, mit den zwei Worten ist
die Welt verhunzt. Jeder hat was nöthig; wenn er ruhen kann,
was könnt' er mehr haben! Immer steigen, ringen und so in Ewigkeit
Alles was der Augenblick giebt, wegwerfen und immer darben, um einmal
zu genießen; dürsten, während einem helle Quellen
über den Weg springen. Es ist mir jetzt erträglich, und
da will ich bleiben; warum? warum? Eben weil es mir wohl ist; was
will mein Vater? Kann er mir geben? Unmöglich! Laßt mich
in Ruhe. Er wurde heftig, Kaufmann ging, Lenz war verstimmt.
Fortsetzung
- Teil I - Teil II - Teil III - Teil IV -
(Authentische Fassung des in den Jahren 1835-37 entstandenen, unvollendet
und fragmentarisch gebliebenen Textes von Georg Büchner nach
der Abschrift seiner Frau Wilhelmine Jaeglé. Erstmals von
Karl Gutzkow in der Zeitschrift "Telegraph für Deutschland"
1839 publiziert.)
Georg Büchner (1813-1837):
Friede den Hütten
Lenz
Großmutters Märchen
Georg Büchner - Werke online
Georg Büchner Gesellschaft
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