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Oscar Wilde:
DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY
- "Auf dem Boden lag ein toter Mann. Erst als sie die Ringe sahen,
erkannten sie, wer es war." -
Es war eine wunderschöne Nacht, so warm, dass er den Überrock
über den Arm nahm und nicht einmal das Seidentuch um den Hals
legte. Als er, eine Zigarette rauchend, nach Hause schlenderte,
gingen zwei Herren im Frack an ihm vorüber. Er hörte,
wie der eine dem anderen zuflüsterte: "Das ist Dorian
Gray." Er erinnerte sich, wie er sich früher gefreut hatte,
wenn man ihn sich zeigte, anstarrte oder über ihn sprach. Jetzt
war er es müde, seinen Namen zu hören. Der halbe Reiz
des Dorfes, in dem er kürzlich so häufig gewesen war,
lag darin, dass niemand dort wusste, wer er war.
Als er nach Hause kam, wartete der Diener auf ihn. Er schickte ihn
zu Bett, warf sich auf das Sofa in dem Bibliothekszimmer und begann
über einiges von dem, was ihm Lord Henry gesagt hatte, nachzudenken.
War es wirklich wahr, dass man nie anders werden konnte? Er fühlte
eine brennende Sehnsucht nach der makellosen Reinheit seiner Jugend,
seiner rosenweißen Jugend, wie Lord Henry einmal gesagt hatte.
Er wusste, dass er sich befleckt hatte, seinen Geist mit Verderbnis
erfüllt und sein Gewissen mit Schrecken; dass er einen verderblichen
Einfluss auf andere gehabt und eine schreckliche Lust bei solchem
Tun verspürt hatte; dass von allen Leben, die das seine gekreuzt
hatten, es die schönsten und meistversprechenden gewesen waren,
die er in Schande gebracht hatte. Aber war das alles unabänderlich?
Gab es keine Hoffnung mehr für ihn?
Ach, in was für einem ungeheuerlichen Augenblick von Stolz
und Leidenschaft hatte er gebetet, dass das Bildnis die Last seiner
Tage tragen und er den ungetrübten Glanz ewiger Jugend bewahren
möge. Das Gebet war an all seinem Unglück schuld. Es wäre
besser für ihn gewesen, wenn jede Sünde seines Lebens
ihre sichtbare und schnelle Strafe mit sich gebracht hätte.
In der Strafe lag Läuterung. Nicht "Vergib uns unsere
Schuld!", sondern "Züchtige uns für unsere Missetaten"
sollte das Gebet des sündigen Menschen lauten!... Der merkwürdig
geschnitzte Spiegel, den ihm Lord Henry vor so vielen Jahren geschenkt
hatte, stand auf dem Tisch und die weißgliedrigen Liebesgötter
umlachten ihn wie ehedem. Er nahm ihn, so wie er es in jener schrecklichen
Nacht getan hatte, als er zum ersten Male die Wandlung auf dem Bildnis
bemerkt hatte und mit unruhigen, tränenfeuchten Augen blickte
er in die glatte Fläche. Einmal hatte ihm jemand, der ihn wahnsinnig
geliebt hatte, in einem tollen Brief geschrieben: "Die Welt
ist anders geworden, weil Du aus Elfenbein und Gold gemacht bist.
Die Linien Deiner Lippen schreiben die Weltgeschichte aufs neue."
Diese Sätze kamen ihm ins Gedächtnis und er wiederholte
sie immer und immer wieder. Er hasste jetzt seine eigene Schönheit,
warf den Spiegel auf den Boden und bohrte seinen Absatz in die silbernen
Splitter. Seine Schönheit war es, die ihn zugrunde gerichtet
hatte, seine Schönheit und die Jugend, um die er gefleht hatte.
Wären sie nicht gewesen, sein Leben hätte fleckenlos sein
können. Die Schönheit war für ihn nur eine Maske
gewesen, die Jugend nur ein Hohn. Was war denn die Jugend im besten
Falle? Eine grüne, unreife Zeit, eine Zeit alberner Launen
und krankhafter Einfälle. Warum hatte er ihre Tracht angelegt?
Die Jugend hatte ihn zugrunde gerichtet.
Es war besser, nicht an die Vergangenheit zu denken, die nichts
ändern konnte. Er musste an sich selbst und seine Zukunft denken.
James Vane war in einem namenlosen Grabe auf dem Kirchhof in Selby
eingescharrt. Alan Campbell hatte sich eines Nachts in seinem Laboratorium
erschossen, aber das Geheimnis, das ihm aufgezwungen worden war,
hatte er nicht verraten. Die Erregung über Basil Hallwards
Verschwinden würde bald vorübergehen, ja, sie ging schon
vorbei. Er war jetzt vollständig sicher. Es war auch nicht
der Tod Basil Hallwards, der am schwersten auf seinem Gemüt
lastete. Es war der lebendige Tod seiner eigenen Seele, der ihn
bedrückte. Basil hatte das Bildnis gemalt, das sein Leben verdorben
hatte. Er konnte ihm das nicht vergeben. Das Bild allein hatte alles
getan. Basil hatte unerträgliche Dinge zu ihm gesprochen und
doch hatte er sie geduldig ertragen. Der Mord war nur der Wahnsinn
eines Augenblicks gewesen. Alan Campbells Selbstmord war sein eigener
Entschluss gewesen. Er hatte ihn veranlasst, ihn ging er nichts
an!
Ein neues Leben! Das war es, was er brauchte. Das war es, worauf
er wartete. Ja, er hatte es schon begonnen. Ein unschuldiges Wesen
hatte er jedenfalls geschont. Nun wollte er nie wieder die Unschuld
in Versuchung bringen.
Als er an Hetty Merton dachte, fragte er sich, ob sich das Bild
in dem verschlossenen Raum oben wohl geändert habe. Es konnte
sicher nicht mehr so schrecklich sein, wie es gewesen war. Vielleicht,
wenn jetzt sein Leben rein würde, könnte es möglich
sein, dass jedes Zeichen böser Leidenschaften aus dem gemalten
Antlitz gelöscht wurde. Er wollte hinauf und nachsehen.
Er nahm die Lampe vom Tisch und schlich sich hinauf. Als er die
Tür aufriegelte, huschte ein frohes Lächeln über
sein seltsam junges Gesicht und verweilte einen Augenblick auf seinen
Lippen. Ja, er wollte gut sein und das grässliche Ding, das
er hatte verbergen müssen, würde dann keinen Schrecken
mehr für ihn haben. Ihm war, als wäre diese Last schon
von ihm genommen.
Ruhig trat er ein, schloss die Tür hinter sich, wie das seine
Gewohnheit war, und zog den Purpurvorhang von dem Bildnis. Ein Schrei
voll Schmerz und Empörung kam von seinen Lippen. Er konnte
keine Änderung sehen, außer dass in den Augen ein schlauer
Ausdruck war und um den Mund die verlogenen Züge des Heuchlers.
Das Ding war ekelhaft, vielleicht noch widerlicher als vorher, und
der scharlachrote Tau, der die Hand bedeckte, schien heller, mehr
wie frisch vergossenes Blut. Er zitterte. War es also nur Eitelkeit
gewesen, die ihn veranlasst hatte, seine einzige gute Tat zu begehen?
Oder die Begierde nach einer neuen Sensation, wie Lord Henry mit
seinem spöttischen Lachen angedeutet hatte? Oder der leidenschaftliche
Hang, eine Rolle zu spielen, aus dem wir manchmal Dinge tun, die
edler sind als wir selbst? Vielleicht all das zusammen?... Warum
war der rote Fleck jetzt größer, als er gewesen war?
Er schien sich wie eine fürchterliche Krankheit über die
runzligen Finger ausgebreitet zu haben. Es war Blut auf den gemalten
Füßen, als wäre es herabgetropft - Blut selbst auf
der Hand, die das Messer nicht gehalten hatte. Sollte er bekennen?
Sollte das heißen, dass er bekennen sollte? Sich selbst angeben
und zum Tode geführt werden? Er lachte auf. Er fühlte,
dass der Einfall ungeheuerlich sei. Und dann, selbst wenn er bekannte,
wer würde ihm glauben? Nirgends war eine Spur des Ermordeten.
Alles, was ihm gehörte, war zerstört. Er selbst hatte,
was unten war, verbrannt. Die Welt würde einfach sagen, dass
er wahnsinnig geworden sei. Sie würden ihn irgendwo einsperren,
wenn er bei seiner Erzählung blieb... Und doch, es war seine
Pflicht, zu bekennen, öffentlich Buße zu tun, das Urteil
der Gesellschaft auf sich zu nehmen. Es gab einen Gott, der die
Menschen zwang, auf Erden so gut wie im Himmel ihre Sünden
zu bekennen. Nichts sonst würde ihn reinigen, ehe er seine
Sünde bekannt hätte. Seine Sünde? Er zuckte die Achseln.
Der Tod Basil Hallwards lastete nur wenig auf ihm. Er dachte an
Hetty Merton. Dieser Spiegel seiner Seele, auf den er blickte, war
ein ungerechter Spiegel. Eitelkeit? Neugier? Heuchelei? War sonst
nichts in seiner Entsagung gewesen? Es war noch etwas darin gewesen.
Er glaubte es wenigstens. Aber wer konnte das sagen? ... Nein, es
war sonst nichts gewesen. Aus Eitelkeit hatte er sie geschont. Aus
Heuchelei hatte er die Maske der Güte getragen, aus Neugier
hatte er Entsagung versucht. Jetzt erkannte er es.
Aber sollte dieser Mord ihn sein ganzes Leben verfolgen? Sollte
er immer die Last seiner Vergangenheit tragen müssen? Sollte
er lieber bekennen? Niemals. Es gab nur einen Beweis gegen ihn:
Das Bildnis selbst, das war ein Beweis. Er wollte es zerstören.
Warum hatte er es so lange aufbewahrt? Früher einmal hatte
es ihm ein Vergnügen bereitet, zu beobachten, wie es sich änderte,
wie es alterte. In der letzten Zeit hatte er diese Lust nicht mehr
gespürt. Es hatte ihm den Schlaf der Nacht gestohlen. Wenn
er fort war, übermannte ihn Schrecken, dass ein anderes Auge
es erblicken könnte. Es hatte Melancholie in seine Leidenschaften
gegossen. Die bloße Erinnerung daran hatte ihm manchen frohen
Augenblick vergällt. Es hatte die Rolle des Gewissens für
ihn gespielt. Ja, es war sein Gewissen gewesen. Er wollte es zerstören.
Er sah sich um und erblickte das Messer, das Basil Hallward erstochen
hatte. Oft genug hatte er es gereinigt, so dass kein Fleck mehr
darauf war. Es war blank und glänzte. So wie es den Maler getötet
hatte, sollte es des Malers Werk töten und alles, was es bedeutete.
Es sollte die Vergangenheit töten. Wenn die erst tot war, würde
er frei sein. Es sollte dieses ungeheuerliche Seelenleben töten
und ohne seine grässlichen Warnungen würde er Frieden
haben. Er ergriff es und durchbohrte damit das Bildnis.
Ein Schrei ertönte und ein Fall. Der Schrei war in seinem Todesröcheln
so schrecklich, dass die erschreckten Diener aufwachten und aus
ihren Zimmern stürzten. Zwei Herren, die auf dem Platze unten
vorübergingen, blieben stehen und sahen an dem großen
Hause empor. Sie gingen weiter, bis sie einen Schutzmann trafen
und kamen mit ihm zurück. Der Mann zog mehrmals die Klingel,
aber es erfolgte keine Antwort. Bis auf ein Licht in einem der Giebelfenster
war das Haus vollkommen dunkel. Nach einiger Zeit ging er weg, stellte
sich unter einen Torweg in der Nähe und wartete.
"Wem gehört das Haus, Schutzmann?" fragte der ältere
der beiden Herren.
"Mr. Dorian Gray", antwortete der Schutzmann.
Sie sahen einander an, gingen weiter und lachten. Einer von ihnen
war Sir Henry Ashtons Onkel.
Drinnen in den Dienerräumen flüsterten die halbangezogenen
Leute leise miteinander. Die alte Mrs. Leaf weinte und rang die
Hände. Francis war bleich wie der Tod.
Nach einer Viertelstunde holte er den Kutscher und einen der Lakaien
und sie schlichen hinauf. Sie klopften, aber es kam keine Antwort.
Sie riefen. Alles war still. Nachdem sie schließlich vergeblich
versucht hatten, die Tür zu sprengen, kletterten sie auf das
Dach und ließen sich auf den Balkon herab. Die Fenster gaben
leicht nach. Ihre Riegel waren alt.
Als sie eintraten, sahen sie an der Wand ein wunderbares Bildnis
ihres Herrn hängen, so wie sie ihn zuletzt gesehen hatten,
in all der Pracht seiner köstlichen Jugend und Schönheit.
Auf dem Boden lag ein toter Mann im Frack mit einem Messer im Herzen.
Er war welk, runzlig und abscheuerregend von Angesicht. Erst als
sie die Ringe sahen, erkannten sie, wer es war.
E n d e
(Zwanzigstes Kapitel)
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Oscar Wilde (1854-1900) / Das Bildnis des Dorian Gray
1) "Wenn ich es wäre, der ewig jung bliebe und das Bild altern könnte! Meine Seele gäbe ich dafür als Preis!"
2) "Und doch, da stand das Bild vor ihm und hatte einen Zug von Grausamkeit um den Mund."
3) "Auf dem Boden lag ein toter Mann. Erst als sie die Ringe sahen, erkannten sie, wer es war."
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