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Oscar Wilde:
DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY
- "Und doch, da stand das Bild vor ihm und hatte einen Zug von Grausamkeit um den Mund." -
Aus irgendeinem Grunde war das Haus an diesem Abend dicht gefüllt
und der dicke jüdische Direktor, der sie an der Tür empfing,
strahlte in einem öligen, unruhigen Lächeln, das von einem
Ohr bis zum andern ging. Er begleitete sie zu ihrer Loge mit einer
würdevollen Demut, die fetten, juwelenbedeckten Hände
bewegend und in den höchsten Tönen sprechend. Dorian hasste
ihn mehr als je. Er hatte das Gefühl, als hätte er Miranda
besudeln wollen und Kaliban habe ihn erwartet. Dagegen hatte Lord
Henry etwas für ihn übrig. Wenigstens behauptete er das,
bestand darauf, ihm die Hand zu schütteln und ihm zu versichern,
dass er stolz darauf sei, einen Mann kennen zulernen, der ein wirkliches
Genie entdeckt habe und eines Dichters wegen bankrott geworden sei.
Hallward unterhielt sich damit, die Gesichter im Parterre zu beobachten.
Die Hitze war furchtbar drückend und der große Kronleuchter
flammte wie eine ungeheure Dahlie mit Blättern aus gelbem Feuer.
Die jungen Leute auf der Galerie hatten die Röcke und Westen
ausgezogen und sie über die Rampe gehängt. Sie sprachen
miteinander über das ganze Theater hinweg und teilten ihre
Apfelsinen mit den Mädchen im billigen Putz, die neben ihnen
saßen. Ein paar Weiber lachten unten im Parterre; ihre Stimmen
waren schrecklich schrill und hässlich. Von der Bar her kam
das Geräusch von Flaschen, die entkorkt wurden.
"Was für ein sonderbarer Ort, um seine Göttin zu
entdecken", rief Lord Henry.
"Ja", erwiderte Dorian Gray. "Hier habe ich sie gefunden.
Und sie ist eine Göttin über allen Lebendigen. Wenn sie
spielt, werden Sie alles vergessen. Diese gemeinen, rohen Leute
mit ihren ordinären Gesichtern und ihren brutalen Bewegungen
werden ganz umgewandelt, wenn sie auf der Bühne steht. Sie
sitzen stumm da und beobachten sie, sie weinen und lachen, wie sie
es will. Sie lässt sie tönen wie eine Geige. Sie vergeistigt
sie und man spürt dann, dass sie im Grunde vom selben Fleisch
und Blut sind wie wir."
"Vom selben Fleisch und Blut wie wir selber? Oh, ich hoffe
doch nicht!" rief Lord Henry, der mit seinem Opernglas die
Leute auf der Galerie musterte.
"Achten Sie gar nicht auf ihn", sagte der Maler. "Ich
begreife, was Sie sagen wollen und ich glaube an dieses Mädchen.
Ein Mensch, den Sie lieben, muss wunderbar sein, und jedes Mädchen,
das die Wirkung erzielt, die Sie beschreiben, muss fein und vornehm
sein. Seine Zeit zu vergeistigen, das ist etwas Wertvolles. Wenn
das Mädchen denen eine Seele geben kann, die bisher seelenlos
gelebt haben, wenn sie in Menschen, deren Dasein bisher schmutzig
und hässlich war, einen Sinn für Schönheit erwecken
kann, wenn sie sie aus ihrer Welt des Eigennutzes losreißen
und ihnen Tränen um Leiden entlocken kann, die nicht ihre eigenen
sind, dann ist sie Ihrer Liebe wert, ja der Liebe der ganzen Welt.
Ich habe es anfangs nicht so gesehen, jetzt aber gebe ich es zu.
Die Götter haben Sibyl Vane für Sie geschaffen. Ohne sie
wären Sie nur unvollständig gewesen."
"Dank, Basil´, antwortete Dorian Gray und drückte
ihm die Hand. "Ich wusste, dass Sie mich verstehen würden.
Henry ist ein Zyniker, er erschreckt mich. Aber da kommt das Orchester.
Es ist furchtbar, doch es dauert nur fünf Minuten, dann geht
der Vorhang auf und Sie werden das Mädchen sehen, dem ich mein
ganzes Leben schenken will, und alles, was gut in mir ist."
Eine Viertelstunde später betrat Sibyl Vane unter einem unglaublichen
Beifallssturm die Bühne. Ja, sie war wirklich entzückend.
Lord Henry schien sie eines der lieblichsten Geschöpfe, das
er je gesehen hatte. Es war etwas von einem Reh in ihrer scheuen
Grazie und ihren erschrockenen Augen. Ein leises Erröten, wie
das Abbild einer Rose in einem silbernen Spiegel, trat auf ihre
Wangen, als sie in das überfüllte und begeisterte Haus
blickte. Sie trat ein paar Schritte zurück und ihre Lippen
schienen zu zittern. Basil Hallward sprang auf und begann zu klatschen.
Bewegungslos und wie einer, der träumt, saß Dorian Gray
da und sah sie an. Lord Henry starrte durch sein Glas und flüsterte:
"Entzückend! Entzückend!"
Die Bühne stellte die Halle in Capulets Haus dar und Romeo
in seinem Pilgerkleid war mit Mercutio und seinen anderen Freunden
aufgetreten. Die Musik schlug, so gut sie konnte, ein paar Akkorde
an und der Tanz begann. Mitten in dem Haufen von plumpen, schäbig
angezogenen Schauspielern bewegte sich Sibyl Vane wie ein Geschöpf
aus einer anderen Welt. Sie schwebte im Tanz, wie eine Blume auf
dem Wasser schwimmt. Die Linien ihres Halses waren die Linien einer
weißen Lilie. Ihre Hände schienen aus kühlem Elfenbein
gemacht.
Und doch schien sie seltsam unbewegt. Sie verriet kein Zeichen der
Freude, während ihre Augen auf Romeo ruhten. Die wenigen Worte,
die sie zu sprechen hatte:
"Nein, Pilger, lege nichts der Hand zu schulden
Für ihren sittsam-andachtsvollen Gruß;
Der Heil'gen Rechte darf Berührung dulden,
Und Hand in Hand ist frommer Waller Kuss"
mit dem kurzen Dialog, der folgt, sprach sie völlig gekünstelt
und maniriert, die Stimme war wunderbar, aber der Ton vollständig
falsch und unrichtig gefärbt. Er nahm den Versen alles Leben
und machte ihre Leidenschaftlichkeit unwahr.
Dorian Gray erbleichte, als er hinsah. Er war verlegen und erschreckt.
Seine beiden Freunde wagten es nicht, ihm etwas zu sagen. Sie schien
ihnen vollkommen talentlos zu sein. Sie waren furchtbar enttäuscht.
Aber sie fühlten, dass der Prüfstein für jede Julia
die Balkonszene im zweiten Akt sei. Die warteten sie also ab. Wenn
sie hier versagte, dann war nichts an ihr.
Sie sah reizend aus, als sie im Mondschein auftrat. Das konnte niemand
leugnen. Aber das Theatralische ihres Spieles war unerträglich
und wurde in jeder Szene ärger. Ihre Bewegungen waren lächerlich
gekünstelt. Sie übertrieb das Pathos jedes Wortes, das
sie zu sagen hatte. Die wundervollen Verse:
"Du weißt, die Nacht verschleiert mein Gesicht,
Sonst färbte Mädchenröte meine Wangen
Um das, was du vorhin mich sagen hörtest"
deklamierte sie mit der peinlichen Genauigkeit eines Schulmädchens,
das ein mittelmäßiger Vortragslehrer unterrichtet hat.
Als sie sich über den Balkon lehnte und zu den herrlichen Versen
kam:
" ... Obwohl ich dein mich freue,
Freu' ich mich nicht des Bundes dieser Nacht:
Er ist zu rasch, zu unbedacht, zu plötzlich,
Gleicht allzu sehr dem Blitz, der schon vorbei,
Noch eh man sagen kann: es blitzt Schlaf süß!
Die Liebesknospe mag warmer Sommerhauch
Bis wir uns wiederseh'n, zur Blum' entfalten,"
sprach sie die Worte, als enthielten sie keinerlei Sinn für
sie. Keine Erregung war in ihr, ja, weit entfernt davon, erregt
zu sein, schien sie ganz mit sich zufrieden. Es war einfach elendes
Theaterspiel. Sie versagte vollständig.
Selbst das gewöhnliche, ungebildete Publikum des Parterres
und der Galerie verlor das Interesse am Stück. Die Leute wurden
unruhig und begannen laut zu sprechen und zu zischen. Der jüdische
Direktor, der hinten im ersten Rang stand, stampfte mit den Füßen
und fluchte vor Wut. Der einzige Mensch, den das alles nicht berührte,
war das Mädchen selbst.
Als der zweite Akt zu Ende war, brach ein Sturm von Zischen los
und Lord Henry stand von seinem Stuhl auf und zog seinen Mantel
an. "Sie ist wirklich wunderschön, Dorian", sagte
er, "aber sie kann nicht spielen. Wir wollen gehen."
"Ich will das Stück bis zu Ende sehen", antwortete
der junge Mann mit erbitterter Stimme. "Es tut mir ungemein
leid, dass ich Sie veranlasst habe, einen Abend zu vergeuden, Henry.
Ich muss mich bei Ihnen beiden entschuldigen."
"Mein lieber Dorian", unterbrach ihn Hallward. "Ich
glaube, Miß Vane war krank. Wir wollen an einem anderen Abend
wiederkommen."
"Ich wünschte, sie wäre krank", erwiderte er.
"Aber ich glaube, sie hat nur kein Gefühl und ist kalt.
Sie hat sich völlig verändert. Gestern Abend war sie eine
große Künstlerin, heute Abend ist sie nur eine gewöhnliche,
mittelmäßige Schauspielerin."
"Dorian, sprechen Sie nicht so über jemand, den Sie lieben.
Die Liebe ist etwas viel Wunderbareres als die Kunst."
"Es sind beides nur Formen der Nachahmung", bemerkte Lord
Henry. "Aber wir wollen gehen. Dorian, Sie dürfen nicht
länger hier bleiben. Es ist für unsere Moral nicht gut,
schlechte Schauspielerei anzusehen. Ich glaube übrigens nicht,
dass Sie Ihre Frau auftreten lassen werden. Was liegt also daran,
dass sie die Julia spielt wie eine Holzpuppe! Sie ist wirklich entzückend,
und wenn sie so wenig vom Leben weiß wie vom Theaterspielen,
wird sie eine wundervolle Erfahrung für Sie sein. Es gibt nur
zwei Arten fesselnder Menschen: solche, die alles wissen und solche,
die gar nichts wissen. Großer Gott, mein lieber Junge, machen
Sie kein tragisches Gesicht! Das Rezept, ewig jung zu bleiben, ist
einfach, nie eine Erregung zu haben, die einem schlecht bekommt.
Kommen Sie mit Basil und mir in den Klub! Wir wollen Zigaretten
rauchen und auf Sibyl Vanes Schönheit ein Glas trinken. Sie
ist schön. Was können Sie noch mehr verlangen?"
"Gehen Sie, Henry, rief der Jüngling. "Ich will allein
sein. Basil, auch Sie müssen gehen. Könnt ihr denn nicht
sehen, dass mir das Herz bricht?" Heiße Tränen traten
ihm in die Augen. Seine Lippen bebten. Er rückte in die tiefste
Ecke der Loge, lehnte sich an die Wand und barg das Gesicht in den
Händen.
"Kommen Sie, Basil", sagte Lord Henry mit seltsam zärtlicher
Stimme; und die beiden Männer gingen zusammen hinaus.
Ein paar Augenblicke später flammten die Rampenlichter wieder
auf und der Vorhang ging zum dritten Akt in die Höhe. Dorian
Gray kehrte auf seinen Platz zurück. Er sah bleich, hochmütig,
gleichgültig aus. Das Spiel schleppte sich weiter und schien
kein Ende zu nehmen. Die Hälfte des Publikums ging weg, auf
schweren Schuhen trampelnd, lachend. Die ganze Sache war ein Fiasko.
Der letzte Akt wurde fast vor leeren Bänken gespielt. Als der
Vorhang fiel, hörte man Zischen und höhnische Rufe.
Sobald es aus war, stürzte Dorian Gray hinter die Kulissen
in die Garderobe. Das Mädchen stand allein da, ein triumphierendes
Lächeln im Gesicht. Die Augen glänzten in leuchtendem
Feuer. Ein Strahlen ging von ihr aus. Ihre halbgeöffneten Lippen
lächelten über ein Geheimnis, das ihnen allein gehörte.
Als er eintrat, blickte sie ihn an und ein Ausdruck unsäglicher
Lust erfüllte sie. "Wie schlecht ich heute Abend gespielt
habe, Dorian!" rief sie aus.
"Schrecklich", antwortete er und sah sie voll Staunen
an. "Schrecklich. Es war furchtbar. Bist du krank? Du hast
ja keine Ahnung, wie es war. Keine Ahnung, was ich gelitten habe."
Das Mädchen lächelte. "Dorian", antwortete sie,
seinen Namen behutsam, mit einer gedehnten Musik in der Stimme aussprechend,
als wäre er den roten Blüten ihres Mundes süßer
als Honig. "Dorian, du hättest das verstehen müssen!
Aber jetzt begreifst du es doch?"
"Was soll ich begreifen", fragte er zornig.
"Warum ich heute Abend so schlecht gespielt habe. Warum ich
immer schlecht spielen werde, warum ich nie mehr gut spielen kann."
Er zuckte die Achseln. "Du bist gewiss krank. Wenn du nicht
gesund bist, solltest du nicht auftreten. Du machst dich ja lächerlich.
Meine Freunde haben sich gelangweilt. Ich habe mich auch gelangweilt."
Sie schien nicht zu hören, was er sagte. Sie war außer
sich vor Lust. Eine Ekstase des Glücks beherrschte sie.
"Dorian, Dorian", rief sie aus. "Bevor ich dich kannte,
war Spielen das einzig Wirkliche in meinem Leben. Nur auf der Bühne
lebte ich. Ich hielt das alles für wahr. An einem Abend war
ich Rosalinde, Portia am anderen. Beatrices Glück war mein
Glück und Cordelias Tränenschmerz war meiner. Alles glaubte
ich. Die gewöhnlichen Leute, die mit mir spielten, schienen
mir Götter. Die bemalte Leinwand war für mich die Welt.
Ich kannte nichts als Schatten und sie waren mir die Wirklichkeit.
Da kamst du, mein schöner Geliebter, und befreitest meine Seele
aus ihrem Gefängnis. Du hast mich gelehrt, was die Wirklichkeit
ist. Heute hab' ich zum erstenmal in meinem Leben die ganze Hohlheit
durchschaut, den Lug, die Albernheit, den leeren Prunk, zwischen
dem ich immer gespielt habe. Heute Abend wusste ich zum erstenmal,
dass dieser Romeo hässlich, alt und geschminkt ist, dass der
Mond im Garten Trug, die ganze Umgebung ordinär war und dass
die Worte, die ich zu sprechen hatte, nicht wahr, nicht meine Worte
sind, nicht die waren, die ich hätte sagen wollen. Du hast
mir etwas Höheres geschenkt, etwas, von dem die Kunst nur ein
Abglanz ist. Durch dich habe ich gelernt, was die Liebe in Wahrheit
ist. Geliebter, Geliebter! Märchenprinz, Prinz meines Lebens!
Ich bin der Schatten müde. Du bist mir mehr, als alle Kunst
sein kann. Was hab' ich mit diesen Puppen zu schaffen?!... Als ich
heute Abend auftrat, konnte ich nicht begreifen, wie all das von
mir abgefallen war. Ich hatte gedacht, ich würde wundervoll
sein und fand, dass ich durchaus versagte. Plötzlich dämmerte
es dann meiner Seele, was all das bedeutet. Es war herrlich, das
zu wissen. Ich hörte sie zischen und lächelte. Was wissen
die von Liebe, wie sie die unsere ist? Nimm mich fort, Dorian -
nimm mich mit dir irgendwohin, wo wir allein sind. Ich hasse das
Theater. Ich könnte vielleicht eine Leidenschaft darstellen,
die ich nicht fühle, aber ich kann keine spielen, die in mir
brennt wie Feuer. Ach, Dorian, Dorian, kannst du jetzt begreifen,
was das alles bedeutet? Selbst wenn ich es fertig brächte,
wäre es Entweihung, Liebe zu spielen, während ich liebe.
Du hast mir darüber die Augen geöffnet."
Er warf sich auf das Sofa und wandte sein Gesicht ab. "Du hast
meine Liebe getötet", murmelte er.
Sie sah ihn staunend an und lachte. Er gab keine Antwort. Sie kam
hin zu ihm und strich mit ihren kleinen Fingern über sein Haar.
Sie kniete neben ihm nieder und presste seine Hand an ihre Lippen.
Er schob sie weg und ein Schauer rann über seinen Körper.
Da sprang er auf und ging zur Tür. "Ja", rief er
aus, "du hast meine Liebe getötet. Früher hast du
meine Phantasie angeregt, jetzt reizt du nicht einmal meine Neugierde.
Du wirkst einfach nicht. Ich liebte dich, weil du ein wundervolles
Geschöpf warst, weil du Genie und Geist besaßt, weil
du die Träume großer Dichter erfülltest, den Schatten
der Kunst Form und Körper gabst. All das hast du vernichtet.
Jetzt bist du leer und dumm. Mein Gott, was für ein Narr war
ich, dich zu lieben! Wie verrückt war ich! Jetzt bist du mir
nichts. Ich will dich nie mehr sehen, nie mehr an dich denken. Ich
will nie wieder deinen Namen aussprechen. Du weißt nicht,
was du mir warst, früher einmal. Ich ertrage es nicht, daran
zu denken. Ich wünschte, ich hätte dich nie gesehen. Du
hast die Romantik meines Lebens zerstört. Wie wenig kannst
du von Liebe wissen, wenn du sagst, sie zerstöre deine Kunst.
Ohne deine Kunst bist du ja nichts!... Ich hätte aus dir eine
Berühmtheit gemacht, eine Leuchte, etwas ganz Großes.
Die Welt hätte dich angebetet und du hättest meinen Namen
getragen. Was bist du jetzt? Eine Schauspielerin dritten Grades
mit einem hübschen Gesicht."
Das Mädchen wurde bleich und zitterte. Sie presste die Hände
zusammen und ihre Stimme schien ihr in der Kehle stecken zubleiben.
"Das ist nicht dein Ernst, Dorian?" flüsterte sie.
"Du spielst mir etwas vor."
"Spielen? Das überlass ich dir, das kannst du ja so gut",
entgegnete er bitter.
Sie erhob sich von den Knien und trat mit einem jammervollen, schmerzerfüllten
Gesicht auf ihn zu. Sie legte die Hand auf seinen Arm und sah ihm
in die Augen. Er stieß sie zurück. "Berühre
mich nicht!" schrie er.
Ein kleines Stöhnen entrang sich ihr. Sie warf sich ihm zu
Füßen und lag da wie eine zertretene Blüte. "Dorian,
Dorian, geh' nicht fort von mir!" ächzte sie leise. "Es
tut mir ja so leid, dass ich nicht gut gespielt habe. Ich dachte
immer nur an dich. Aber ich will es wieder versuchen, wirklich,
ich will es versuchen. Die Liebe zu dir kam so jäh über
mich. Ich glaube, ich hätte nie von ihr gewusst, wenn du mich
nicht geküsst hättest, wenn wir uns nicht geküsst
hätten. Küss' mich wieder, Geliebter! Geh nicht von mir!
Mein Bruder... Nein, das nicht. Er meinte es ja nicht so. Er hat
nur gescherzt... Kannst du mir den heutigen Abend denn nicht verzeihen?
Ich werde fleißig sein und besser werden... Sei nicht grausam
gegen mich, weil ich dich mehr liebe als irgend etwas auf der Welt.
Es ist doch nur ein einziges Mal, dass ich dir nicht gefallen habe.
Aber du hast ganz recht, Dorian. Ich hätte mich mehr als Künstlerin
erweisen sollen. Es war töricht von mir. Und doch konnte ich
nicht anders. Ach, geh nicht von mir, verlass mich nicht..."
Leidenschaftliches Schluchzen erschütterte sie. Sie kauerte
auf der Erde wie ein wundes Tier und Dorian Gray sah mit seinen
schönen Augen auf sie herab und seine feinen Lippen kräuselten
sich voll Verachtung. Die Empfindungen von Menschen, die man nicht
mehr liebt, haben immer etwas Lächerliches. Sibyl Vane schien
ihm überspannt, melodramatisch. Ihre Tränen und ihr Schluchzen
machten ihn nur nervös.
"Ich gehe", sagte er schließlich mit seiner ruhigen,
klaren Stimme. "Ich möchte nicht hart sein, aber ich kann
dich nie wieder sehen. Du hast mich zu sehr enttäuscht."
Sie weinte still, sagte nichts, aber kroch näher an ihn heran.
Ihre kleinen Hände streckten sich ins Ungewisse aus und schienen
ihn zu suchen. Er wandte sich um und ging aus dem Zimmer. Wenige
Augenblicke später war er nicht mehr im Theater.
Wohin er ging, wusste er selbst nicht. Er erinnerte sich, durch
schwachbeleuchtete Gassen gewandert zu sein, an elenden, in tiefen
Schatten liegenden Torwegen und gemein aussehenden Häusern
vorbei. Weiber mit rauhen Stimmen und schrillem Lachen hatten hinter
ihm her gerufen. Betrunkene waren fluchend vorbeigetaumelt und hatten
wie scheußliche Affen mit sich selber gesprochen. Er hatte
groteske Kinder auf den Stufen zusammengekauert gesehen, Schreien
und Schimpfen aus düsteren Höfen dringen hören.
Als der Morgen anbrach, fand er sich nahe bei Covent Garden wieder.
Die Dunkelheit verschwand. Der Himmel rötete sich in mattem
Feuer und schimmerte einer Perle gleich. Mächtige Karren, angefüllt
mit nickenden Lilien, rumpelten langsam die glatte, leere Straße
hinab. Die Luft war schwer vom Duft der Blumen und ihre Schönheit
schien ihm Linderung für seinen Schmerz zu bringen. Er ging
auf den Markt und sah den Männern zu, die ihre Wagen entluden.
Ein Mann in einem weißen Kittel bot ihm Kirschen an. Er dankte,
wunderte sich, warum er kein Geld dafür annehmen wollte und
begann dann, sie zerstreut zu essen. Sie waren um Mitternacht gepflückt
worden und die Kälte des Mondes war in sie eingedrungen. In
langer Reihe brachten Burschen Körbe voll von gestreiften Tulpen,
von gelben und roten Rosen, zogen an ihm vorbei und wanden sich
durch die großen grünen Haufen von Gemüse. Hinter
den grauen, von der Sonne gebleichten Säulen der Halle lungerte
ein Trupp von schmutzigen, barhäuptigen Mädchen, die warteten,
bis die Versteigerung vorbei war. Andere sammelten sich um die auf-
und zugehenden Türen des Kaffeehauses auf dem Platze. Die schweren
Karrengäule glitten aus und stampften über die rauhen
Steine, ihre Glocken und Geschirre schüttelnd. Einige Fuhrleute
lagen schlafend auf einem Stoß von Säcken. Mit irisfarbenen
Hälsen und roten Füßen liefen überall Tauben
umher und pickten Körner auf.
Nach einer Weile rief er eine Droschke an und fuhr nach Hause. Ein
paar Augenblicke blieb er auf der Schwelle stehen, sah nach dem
stillen Platze zurück, den leeren, geschlossenen Fenstern und
den grellen Vorhängen. Der Himmel hatte jetzt die reine Farbe
des Opals und die Dächer der Häuser glitzerten wie Silber.
Von einem Schornstein der gegenüberliegenden Häuserreihe
stieg eine dünne Rauchwolke auf und kräuselte sich wie
ein violettes Band in die perlmutterfarbene Luft.
In der großen venezianischen Lampe, von der Barke irgendeines
Dogen geraubt, die von der Decke der großen, eichengetäfelten
Eingangshalle herabhing, brannten noch drei flackernde Lichter,
wie dünne, blaue Flammenblüten in weißem Feuerrahmen.
Er drehte sie aus, warf seinen Hut und seinen Mantel auf den Tisch
und ging, dann durch das Bibliothekszimmer zur Tür seines Schlafzimmers,
eines großen, achteckigen Raumes zu ebener Erde, den er in
seinem neu erwachten Verlangen nach Luxus erst kürzlich hatte
einrichten und mit kostbaren Renaissancegobelins bespannen lassen,
die er in einer nie gebrauchten Dachstube in Selby Royal entdeckt
hatte. Als er den Türgriff eben drehen wollte, fiel sein Blick
auf das Bildnis, das Basil Hallward von ihm gemalt hatte. Erstaunt
schrak er zurück. Dann ging er mit verstörtem Gesicht
in sein Zimmer. Nachdem er die Blume aus seinem Knopfloch genommen
hatte, schien er zu zögern. Schließlich ging er zurück,
näherte sich dem Bilde und musterte es. In dem matten, gedämpften
Licht, das durch die cremefarbenen Seidenvorhänge drang, schien
es ihm, als sei das Gesicht ein wenig verändert. Der Ausdruck
war anders. Man hätte sagen können, dass ein Zug von Grausamkeit
um den Mund war. Das war höchst seltsam.
Er drehte sich um, ging zum Fenster und zog den Vorhang in die Höhe.
Der helle Morgen flutete durch den Raum und fegte die phantastischen
Schatten in dunkle Winkel, wo sie zitternd liegen blieben. Aber
der seltsame Ausdruck, den er in dem Gesicht des Bildes bemerkt
hatte, schien zu bleiben, ja sich verstärkt zu haben. Das warme,
zitternde Sonnenlicht zeigte ihm den grausamen Zug um den Mund so
klar, als sähe er sich in einem Spiegel, nachdem er etwas Hässliches
getan hatte.
Er stampfte mit dem Fuße auf und nahm vom Tisch einen ovalen
Spiegel, der von elfenbeinernen Liebesgöttern getragen wurde,
eins der vielen Geschenke Lord Henrys. Eilig blickte er in die glatte
Fläche. Aber kein Zug solcher Art verunstaltete seine roten
Lippen. Was sollte das bedeuten?
Er rieb sich die Augen, trat ganz nah an das Bild heran und musterte
es wieder. An der Malerei selbst konnte man gar kein Zeichen irgendeiner
Veränderung bemerken und doch, es war kein Zweifel, dass sich
der ganze Ausdruck verändert hatte. Es war keine Einbildung
von ihm. Die Sache war nicht zu leugnen.
Er warf sich in einen Stuhl und begann nachzudenken. Jäh trat
die Erinnerung an die Worte in sein Bewusstsein, die er in Basil
Hallwards Atelier an dem Tage, an dem das Bild fertig wurde, gesagt
hatte. Ja, er entsann sich ihrer jetzt ganz deutlich. Er hatte den
wahnsinnigen Wunsch ausgesprochen, dass er selbst jung bleiben möge
und das Bild statt seiner altere; dass seine eigene Schönheit
unbefleckt bleibe und das Antlitz auf der Leinwand die Last seiner
Leidenschaften und Sünden trage; dass das gemalte Bildnis von
den Linien der Leiden und Gedanken durchfurcht werde und er den
zarten Reiz und die Lieblichkeit der Jugend, die ihm soeben bewusst
geworden war, behalte. War sein Wunsch in Erfüllung gegangen?
Solche Dinge gab es doch nicht! Nur daran zu denken, schien ungeheuerlich.
Und doch, da stand das Bild vor ihm und hatte einen Zug von Grausamkeit
um den Mund.
Grausamkeit! War er denn grausam gewesen? Das Mädchen war schuld,
nicht er. Er hatte von ihr als von einer großen Künstlerin
geträumt, hatte sie geliebt, weil er sie für groß
gehalten hatte. Aber sie hatte ihn enttäuscht. Sie war seicht
und seiner unwürdig. Und doch, ein Gefühl unendlichen
Mitleids überkam ihn, als er jetzt daran dachte, wie sie zu
seinen Füßen gelegen und wie ein kleines Kind geschluchzt
hatte. Er erinnerte sich auch, mit welcher kühlen Gleichgültigkeit
er sie beobachtet hatte. Warum war er so geschaffen worden? Warum
war ihm eine solche Seele gegeben worden? Aber auch er hatte gelitten.
In den drei schrecklichen Stunden, die das Stück gedauert hatte,
hatte er Jahrhunderte von Schmerzen, Ewigkeiten von Qualen durchlebt.
Sein Leiden war gewiss das ihre wert. Wenn er sie für die ganze
Lebenszeit verwundet hatte, so hatte sie ihn für einen Augenblick
vernichtet. Außerdem, die Frauen sind besser geeignet, Leiden
zu tragen, als Männer. Sie leben von ihren Gefühlen, sie
denken nur an ihre Gefühle. Wenn sie einen Geliebten nehmen,
so ist es nur, um jemand zu haben, dem sie Szenen machen können.
Lord Henry hatte ihm das gesagt und Lord Henry kannte die Frauen.
Warum sollte er sich über Sibyl Vane beunruhigen? Sie bedeutete
ihm ja jetzt nichts mehr.
Aber das Bild? Was sollte er dazu sagen? Es barg das Geheimnis seines
Lebens und erzählte seine Geschichte. Es hatte ihn die Liebe
zu seiner eigenen Schönheit gelehrt. Sollte es ihn jetzt lehren,
seine eigene Seele zu hassen? Würde er es je wieder anblicken
können?
Nein, es war ja alles nur eine Einbildung seiner verwirrten Sinne.
Die fürchterliche Nacht, die er erlebt hatte, ließ Gespenster
hinter sich. Eine fixe Idee, wie sie die Menschen in den Wahnsinn
treibt, war plötzlich in seinem Gehirn erwacht. Das Bild konnte
nicht anders geworden sein. Es war ein Irrsinn, das anzunehmen.
Und doch blickte es ihn an, das wunderschöne Gesicht durch
das grausame Lächeln zerstört. Die blonden Haare leuchteten
im frühen Sonnenlicht. Die blauen Augen trafen seine eigenen.
Ein Gefühl von grenzenlosem Mitleid überkam ihn, nicht
mit sich selbst, sondern mit dem gemalten Bilde vor sich. Schon
hatte es sich verändert und würde sich immer mehr verändern.
Sein Gold wird zum Grau erbleichen. Seine roten und weißen
Rosen werden welken. Für jede Sünde, die er begehen wird,
wird auf ihm ein Fleck hervortreten und die Schönheit besudeln.
Aber er wird nicht mehr sündigen. Das Bildnis, verwandelt oder
nicht, wird für ihn das sichtbare Wahrzeichen des Gewissens
sein. Er wird jeder Versuchung widerstehen. Er wird Lord Henry nicht
wiedersehen oder doch wenigstensnicht mehr seinen scharfsinnigen,
giftigen Lehren lauschen, die damals in Basil Hallwards Garten zum
erstenmal in ihm die Leidenschaft für unmögliche Dinge
erweckt hatten. Er wird zu Sibyl Vane zurückkehren, sie um
Verzeihung bitten, sie heiraten und versuchen, sie wieder zu lieben.
Ja, es war seine Pflicht, das zu tun. Sie musste noch mehr gelitten
haben als er. Das arme Kind! Er war selbstsüchtig und grausam
gegen sie gewesen. Aber sicher würde die Anziehung, die sie
auf ihn ausgeübt hat, wiederkehren. Sie würden glücklich
miteinander werden. Sein Leben mit ihr würde schön und
rein sein.
Er stand von seinem Stuhl auf und stellte einen großen Schirm
vor das Bildnis. Als er es anblickte, schrak er zusammen. "Wie
schrecklich", flüsterte er, schritt zur Glastür hinüber
und öffnete sie. Er trat in den Garten hinaus und als er auf
dem Rasen stand, atmete er tief. Die frische Morgenluft schien all
die düsteren Gefühle zu verjagen. Er dachte nur noch an
Sibyl. Ein leiser Widerhall seiner Liebe kehrte zurück. Er
wiederholte ihren Namen immer und immer wieder. Die Vögel,
die in dem taubedeckten Garten sangen, schienen den Blumen von ihr
zu erzählen.
( Siebentes Kapitel)
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Oscar Wilde (1854-1900) / Das Bildnis des Dorian Gray
1) "Wenn ich es wäre, der ewig jung bliebe und das Bild altern könnte! Meine Seele gäbe ich dafür als Preis!"
2) "Und doch, da stand das Bild vor ihm und hatte einen Zug von Grausamkeit um den Mund."
3) "Auf dem Boden lag ein toter Mann. Erst als sie die Ringe sahen, erkannten sie, wer es war."
Oscar Wilde:
- Utopia on a map
- The Soul of Man Under Socialism
- Die Seele des Menschen im Sozialismus
- Das Sternenkind
- Oscar Wilde - Werke / Works
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