Friedrich Nietzsche:
DER ZAUBER DES DIONYSISCHEN
Wenn wir die wonnevolle Verzückung nehmen, die bei dem Zerbrechen
des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen,
ja der Natur emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des
Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie des
Rausches gebracht wird. Entweder durch den Einfluss des narkotischen
Getränkes, von dem alle ursprünglichen Menschen und Völker
in Hymnen sprechen, oder bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll
durchdringenden Nahen des Frühlings erwachen jene dionysischen
Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit
hinschwindet. Auch im deutschen Mittelalter wälzten sich unter
der gleichen dionysischen Gewalt immer wachsende Schaaren, singend
und tanzend, von Ort zu Ort: in diesen Sanct-Johann- und Sanct-Veittänzern
erkennen wir die bacchischen Chöre der Griechen wieder, mit
ihrer Vorgeschichte in Kleinasien, bis hin zu Babylon und den orgiastischen
Sakäen. Es giebt Menschen, die, aus Mangel an Erfahrung oder
aus Stumpfsinn, sich von solchen Erscheinungen wie von "Volkskrankheiten",
spöttisch oder bedauernd im Gefühl der eigenen Gesundheit
abwenden: die Armen ahnen freilich nicht, wie leichenfarbig und
gespenstisch eben diese ihre "Gesundheit" sich ausnimmt,
wenn an ihnen das glühende Leben dionysischer Schwärmer
vorüberbraust.
Unter dem Zauber des Dionysischen schliesst sich nicht nur der Bund
zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete,
feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest
mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde
ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubthiere der Felsen und
der Wüste. Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus
überschüttet: unter seinem Joche schreiten Panther und
Tiger. Man verwandele das Beethoven'sche Jubellied der "Freude"
in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht
zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken:
so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt ist der Sclave
freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen,
die Noth, Willkür oder "freche Mode" zwischen den
Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie,
fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt,
versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der
Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen
Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äussert sich der
Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das
Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in
die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht
die Verzauberung. Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde Milch
und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Uebernatürliches:
als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt
und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah. Der Mensch
ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt
der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen,
offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches. Der edelste
Thon, der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen, der
Mensch, und zu den Meisselschlägen des dionysischen Weltenkünstlers
tönt der eleusinische Mysterienruf: "Ihr stürzt nieder,
Millionen? Ahnest du den Schöpfer, Welt?"
Aus:
Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (1872).
Friedrich Nietzsche (1844-1900):
Alle Lust will Ewigkeit
Die Krähen schreien
Einen tanzenden Stern gebären
Der Zauber des Dionysischen
Gott ist tot
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