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Rainer Maria Rilke:
GESICHTER
Daß ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen.
Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile
gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt
eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen,
die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener
Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die
Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht
vorbei. Und wieder die Straße. Ein Mädchen kreischt: Ah
tais-toi, je ne veux plus. Die Elektrische rennt ganz erregt heran,
darüber fort, fort über alles. Jemand ruft. Leute laufen,
überholen sich. Ein Hund bellt. Was für eine Erleichterung:
ein Hund. Gegen Morgen kräht sogar ein Hahn, und das ist Wohltun
ohne Grenzen. Dann schlafe ich plötzlich ein.
Das sind die Geräusche. Aber es gilbt hier etwas, was furchtbarer
ist: die Stille. Ich glaube, bei großen Bränden tritt manchmal
so ein Augenblick äußerster Spannung ein, die Wasserstrahlen
fallen ab, die Feuerwehrleute klettern nicht mehr, niemand rührt
sich. Lautlos schiebt sich ein schwarzes Gesimse vor oben, und eine
hohe Mauer, hinter welcher das Feuer auffährt, neigt sich, lautlos.
Alles steht und wartet mit hochgeschobenen Schultern, die Gesichter
über die Augen zusammengezogen, auf den schrecklichen Schlag.
So ist hier die Stille.
Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles
tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen,wo es sonst
immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte.
Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.
Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich
will meine Zeit ausnutzen. Daß es mir zum Beispiel niemals zum
Bewußtsein gekommen ist, wieviel Gesichter es giebt. Es giebt
eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat
mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich
nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet
sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind
sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht
einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen
das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere
Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre
Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, daß ihre Hunde
damit ausgehen. Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht.
Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach
dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten
für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte.
Das hat natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter
zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher,
ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach
und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit
herum.
Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hineingefallen, vornüber
in ihre Hände. Es war an der Ecke rue Notre-Dame-des-Champs.
Ich fing an, leise zu gehen, sowie ich sie gesehen hatte. Wenn arme
Leute nachdenken, soll man sie nicht stören. Vielleicht fällt
es ihnen doch ein ...
Die Straße war zu leer, ihre Leere langweilte sich und zog mir
den Schritt unter den Füßen weg und klappte mit ihm herum,
drüben und da, wie mit einem Holzschuh. Die Frau erschrak und
hob sich aus sich ab, zu schnell, zu heftig, so daß das Gesicht
in den zwei Händen blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine
hohle Form. Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen
Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen
hatte. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete
mich doch noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht.
Auszug aus: Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910).
Rainer Maria Rilke (1875-1926):
Tausend Stäbe
Sie war
Unser Besitz ist Verlust
Rosenerben
Träume nach dir schrein
Ein jeder Engel ist schrecklich
Aus einer Sturmnacht
Mondnacht
Gesichter
Rainer Maria Rilke - Die Gedichte
Rainer Maria Rilke - Werke Online
Internationale Rilke-Gesellschaft
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