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Bettina Roß:
ÜBER DIE LUST AM DURCHBRECHEN VON DENKSCHRANKEN
Nach einer produktiven Diskussion in der Arbeitsgruppe "Feministische
Theorie" im Rahmen der Wissenschaftlerinnen-Werkstatt der Hans-Böckler-Stiftung
verkündeten wir unter Lachen, dass Carol Hagemann-White recht
hat. Da es manchmal auch ganz schön ist, überzeugt zu
werden und nicht nur Bahnhof zu verstehen, hier ein Versuch, die
Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit zu entwirren. Die in der
feministischen Debatte inzwischen gängige These - Frauen und
Männer gibt es nicht an sich, sie sind gemacht - wird verständlich,
wenn gefragt wird, aus welchen Diskussionen sich diese Dekonstruktion
der Annahme von Zweigeschlechtlichkeit entwickelt hat.
Ein möglicher Zugang sind Diskurstheorie und Ethnomethodologie.
Die Diskurstheorie, wie sie z.B. von Michel Foucault u.a. (1994)
entwickelt worden ist, geht davon aus, dass die gesamte soziale
Welt durch das Handeln, durch Sprache, Symbole und Zeichen, in Diskursen
erst hergestellt wird. Auf der Basis der vorhandenen Welt und der
eigenen Erfahrungen verwirklichen die Menschen unter Berücksichtigung
des Kontextes die bestehenden Regeln, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster.
Diese Sichtweise hat den Vorteil, dass sie in Ergänzung zu
herrschaftskritischen Makroanalysen (die z.B. den Klassengegensatz
betrachten) Feinstrukturen und das subtile Handeln der Beteiligten
beschreiben können. Auch die entscheidende Bedeutung von Symbolen
(wie z.B. wer wie ein Gespräch eröffnen kann) kommt so
in den Blick. Die Umsetzung der vorhandenen Diskursmöglichkeiten,
das Verwickeltsein der Menschen in Diskursen und eben auch die subtilen
Abweichungen, Variationen und Widerständigkeiten stehen im
Zentrum.
Die Ethnomethodologie setzt bei der Interaktion an, indem sie die
eigene Gesellschaft zum Objekt quasi-ethnologischer Untersuchung
macht und damit scheinbar Selbstverständliches zum Gegenstand
der Analyse macht. TheoretikerInnen wie Erving Goffman (1974) und
Harold Garfinkel (1967) beschreiben, dass die soziale Ordnung in
der jeweiligen Interaktion hergestellt wird. Dies heisst natürlich
nicht, dass die Interaktion und deren Ergebnisse willkürlich
sind. Bei einer geglückten Interaktion sind die Regeln den
Beteiligten bekannt, werden meist ohne Nachzudenken umgesetzt und
zugleich durch das Handeln immer wieder erst hergestellt.
Das klingt zunächst sehr abstrakt, beinhaltet aber die Chance
und die Verpflichtung, alles als diskursiv bzw. sozial hergestellt
zu betrachten. Es gibt in dieser Auffassung keine nicht mehr hinterfragbaren
Wahrheiten oder Seinszustände. Die Diskurse und Regeln der
Interaktion werden durchleuchtet und auf ihre Verbindung mit Macht
und Hierarchien geprüft. Wessen Interessen dienen sprachliche
Konstruktionen, Wissensbestände, Regeln, Interaktionsmuster?
Diese radikale und meist herrschaftskritische Infragestellung und
Demontage, die heute häufig De-Konstruktion genannt wird, macht
Ansätze dieser Denkungsarten auch für Feministinnen interessant.
Als wesentliche Errungenschaft der Frauen- und Geschlechterforschung
hatte sich das sex-gender-Konzept von Gayle Rubin (1975) durchgesetzt.
Regina Becker-Schmidt (1993) hat in Deutschland beschrieben, wie
einem biologischen Geschlecht (sex) soziale Erwartungen an geschlechtstypischem
Verhalten (gender) zugeordnet werden. Auf diese Weise ist überindividuell
geklärt, was "weiblich" und was "männlich"
ist. Diese Konstruktion von Gender dient nicht nur einer Normierung
von Vielfalt und einer Arbeitsteilung zwischen zwei Geschlechtern,
sondern regelt auch die patriarchale Hierarchie, die Frauen von
der Zuteilung von Entscheidungsbefugnissen, Macht, Geld, usw. systematisch
ausschliesst bzw. so beteiligt, dass sich an der Hierarchie selbst
nichts ändert.
Dekonstruktivistisch zu verfahren, bedeutet nun, bei dieser Annahme
von Sex und Gender nicht stehenzubleiben. In der Behauptung eines
natürlichen Geschlechtes "Sex" liegen problematischerweise
gleich mehrere biologistische Fehlschlüsse, auf die Carol Hagemann-White
in Deutschland schon (1984) hingewiesen hat. So wichtig die Unterscheidung
in Sex und Gender auch ist und so wenig sie zurückgenommen
werden sollte, so sehr werden durch dieses Konzept biologistische
Annahmen über "Männer", "Frauen" und
"Zweigeschlechtlichkeit" durch die Frauenforschung fortgesetzt.
Das ist mehr als nur theoretisch ein Problem, weil mit dieser Konstruktion
der Zweigeschlechtlichkeit, wie Regine Gildemeister und Angelika
Wetterer (1995) gezeigt haben, genau die Hierarchien, Biologismen
und Machtstrategien fortgeführt werden, die zu beenden Feministinnen
sich gerade bemühen. Ich will mich und die/den LeserIn mit
dieser theoretischen Debatte hier gar nicht quälen - Carol
Hagemann-White hat dieses Problem sehr früh erkannt und hat
daher, trotz Kritik im Detail eben recht!
Spannung entsteht nun, was mit dieser Dekonstruktion der Zweigeschlechtlichkeit
anzufangen ist. Die Vorteile wirken verlockend: das Hinterfragen
starrer Festlegungen und Trennungen in "männlich"
und "weiblich", die Hoffnung auf Subversivität innerhalb
des damit verbundenen patriarchalen Machtgefälles und nicht
zuletzt die Auflösung der Selbstverständlichkeit des mit
der Zweigeschlechtlichkeit verbundenen Heterosexismus, den Adrienne
Rich (1983) beschrieben hat. Vorauszuschicken ist, dass mit dieser
Dekonstruktion nicht gemeint ist, auf einmal keine "Frauen"
mehr zu sein oder sein zu dürfen. Wir sind Frauen, weil wir
uns alle innerhalb der Zweigeschlechtlichkeit konstituiert haben.
Das ist Teil unserer Erfahrungen, unseres Sein, unseres persönlichen
wie gesellschaftlichen Verständnisses und, wie Andrea Maihofer
(1995) formuliert, unsere Existenz. Die Erfahrung, Frau zu sein,
bleibt ernstgenommen. Mit der Annahme, Geschlechtlichkeit sei konstruiert,
wird weder der Genuss am Frausein noch das Wissen um Unterdrückung,
Diskriminierung und Misshandlung verneint. Auch wird damit Geschlechtszugehörigkeit
nicht zum willkürlichen Bewusstseinsproblem.
Das Fundamentale an der Konstruktion ist im Gegenteil gerade, dass
es unmöglich ist, irgend etwas zu tun, ohne Frau oder Mann
zu sein. Unsere gesamte Gesellschaft ist differenziert nach dem
Geschlechterunterschied. Durch blosse Erkenntnis ändert sich
daran nichts - die Erkenntnis der Konstruiertheiten öffnet
allerdings Denkschranken, macht Spass und Spott gegenüber den
"Herren" und gegenüber der oft empfundenen Ohnmacht.
Das Wissen um die Konstruiertheit enthält als Möglichkeit
die Veränderbarkeit und öffnet damit für eine Subversivität,
die sehr wohl beinhaltet, dass das Bestehende die Zweigeschlechtlichkeit
mit ihren Hierarchien ist und dass diese nicht mit den bestehenden
Handlungsmustern und der vorhandenen, patriarchal ordnenden Sprache
für nichtig erklärt werden kann. Annette Bertrams hat
das im ersten Band der Dokumentationsreihe der Wissenschaftlerinnen-Werkstatt
so formuliert:
"Dekonstruktiv zu verfahren, würde im ersten Schritt
bedeuten, Differenzerfahrungen von Männern und Frauen zwar
ernstzunehmen, jedoch Zweigeschlechtlichkeit nicht unbedingt als
Ausgangs- und Endpunkt wissenschaftlicher Studien anzunehmen" (Annette Bertrams 1995, S. 19).
In Anlehnung an Michel Foucault u.a. (1994) kann davon ausgegangen
werden, dass jede Körperlichkeit gesellschaftlich konstruiert
ist. Der Körper selbst besteht in Erfahrung und Wahrnehmung
nicht unabhängig von Diskursen, sondern wird erst innerhalb
dieser strukturiert und als etwas Getrenntes, Definierbares wahrgenommen.
Foucault kritisiert die gängige Auffassung über das Verhältnis
zwischen Sexualität und Gesellschaft. Er geht nicht davon aus,
dass es eine Art freie Sexualität gäbe, die durch Verbote
unterdrückt wird. Es gibt für ihn ebenso wenig einen vordiskursiven
Körper wie ein vordiskursives Subjekt.
Mit vergleichbarem Resultat, aber anderer Argumentation greift
Carol Hagemann-White dekonstruktive, vor allem ethnomethodologische
Ansätze auf und stellt auf dieser Grundlage die Annahme der
Zweigeschlechtlichkeit in Frage: "Zweifellos gibt es Körpereigenschaften,
die mit der Fortpflanzung enger oder entfernter zusammenhängen,
jedoch ist ihre Beachtung und ihre Verwendung als Masstäbe
für einen Primärstatus der Geschlechtszugehörigkeit
offensichtlich variabel und von gesellschaftlichen Bedingungen abhängig.
Diese Infragestellung der selbstverständlichen Zweigeschlechtlichkeit
bedeutet nun keineswegs eine Unterschätzung der Körperlichkeit,
sondern vielmehr ein geschärftes Bewusstsein der dichotomen
Optik, mit der sie in unserer Kultur wahrgenommen und gelebt wird.
(...) Die Zweigeschlechtlichkeit ist zuallererst eine soziale Realität." (Carol Hagemann-White 1988, S. 229.)
Hilfreich ist auch Irena Sgiers Differenzierung von Geschlecht
in existentielle und symbolische Praxis. Unter existentielle Praxis
fasst sie Verhaltensweisen, Interaktionen, also die konkrete Lebensführung,
in diesem Fall die jeweilige Umsetzung von Geschlecht durch die
Person. Die symbolische Praxis definiert sie als "Sinnhorizont
mit seinen Bildern, Normen, Werten, Identitätskonzepten"
(Irena Sgier 1994, S. 20). Die beiden Ebenen von Geschlecht stehen
in einem Spannungsverhältnis aus symbolischer Vorgabe und individueller
Umsetzung des vorhandenen Muster. Sgier kommt zu dem Schluss:
"Die Übernahme der obigen Begriffe aus der Kultursoziologie
rückt die Praxis ins Zentrum. Damit wird das Prozesshafte betont,
der Aspekt von Veränderbarkeit und Kontextabhängigkeit,
aber auch derjenige der Verbindung von Habitualisierung und Zufälligkeit.
Etwas Unveränderbares, das einen wie auch immer gearteten Kern
von Geschlecht ausmachen würde, gibt es in dieser Perspektive
nicht. (...) Geschlecht ist keine Eigenschaft von Personen, Körpern
oder Körperteilen, sondern eine kulturelle Konstruktion, die
mit diskursiven und nichtdiskursiven Mitteln ständig reproduziert
werden muss. (...) Daher verstehe ich Geschlecht als kulturelles
Phänomen, das jeder Person in irgendeiner Weise zugeschrieben
wird bzw. von allen Gesellschaftsmitgliedern - als existentielle
Praxis - gelebt werden muss unter Bezugnahme auf die symbolische
Praxis von Geschlechtlichkeit. Eine eindeutige Definition dieses
Phänomens ist nicht möglich, da Geschlecht auf der Phänomenebene
keine Eindeutigkeit besitzt" (Irena Sgier 1994, S. 21 f.)
Deutlich wird das Ganze bei Personen, denen gegenüber das
verinnerlichte soziale Verhaltensmuster nicht greift, vor allem
wenn das Geschlecht aufgrund von Kleidung und Auftreten nicht "erraten" werden kann oder wie bei vielen Transsexuellen uneinheitlich erscheint.
Solche "Irritationen" lösen Verunsicherungen, Aggressionen
bis hin zu Gewalttätigkeiten gegenüber dieser Person aus,
die nicht entschuldigt werden sollen, indem auf die gesellschaftlichen
Ursachen verwiesen wird. Es liegt in der Verantwortung der/des Einzelnen,
jemanden, die/der "anders" bzw. "undefinierbar"
erscheint, zu respektieren und die eigenen Schemata zu ändern
statt die "andere" Person zu bedrohen. Gerade solche Reaktionen
verdeutlichen die grosse Bedeutung sozialer Regeln und die nur scheinbare
Eindeutigkeit der Konstituierung zweier Geschlechter. Derartige
"Zweifelsfälle" öffnen den Blick dafür,
die Auffassung von der Bipolarität der Geschlechter auch als
biologische (sex) in Frage zu stellen.
Die Tatsache, dass wir daran gewöhnt sind, Frauen, Männer
und nichts sonst zu unterscheiden, heisst nicht, dass diese Unterscheidung
unumstösslich wäre. Vielmehr verdeutlicht diese dichotome
Auffassung einmal mehr, wie sehr alle unsere Wahrnehmungen, Setzungen,
Normierungen in den existierenden gesellschaftlichen Diskursen gebildet
und erhalten werden.
Die Auffassung von zwei biologischen Geschlechtern erscheint so
besehen ebenso als Funktion der Gesellschaft wie die Konstruktion
des Geschlechtscharakters. Die gesellschafts- und ideologiekritische
Analyse von Geschlechterverhältnissen kann hier radikalisiert
werden durch die Dekonstruktion der herrschenden Auffassung von
Geschlecht überhaupt.
Damit soll nicht der Einfluss von Biologie in Form von Hormonen,
Wachstumsprozessen und durchschnittlichen Unterschieden vom Tisch
gewischt werden. Die Biologie geht traditionell davon aus, dass
es zwei Geschlechter und Abweichungen von diesen gibt. Die Bipolarität
ist bei der Betrachtung von Geschlechtschromosomen noch weitgehend,
wenn auch nicht vollständig, begründbar. Bei der Untersuchung
von hormonellen oder gar bei morphologischen Unterschieden nimmt
die Eindeutigkeit kontinuierlich ab. Die Bipolarität ist meiner
Meinung nach auch in der Biologie eine Tendenz, ein Erklärungsmuster,
das relativ weit führt, wenn biologisch argumentiert wird,
aber selbst dann keineswegs eindeutig ist. Dabei müssen die
erkenntnistheoretischen Grenzen der Beschreibung von Geschlecht,
wie sie bereits in der Biologie angelegt sind, berücksichtigt
werden. Erstens ist die Spannbreite gemessener Unterschiede zwischen
Mädchen und Jungen auf allen Ebenen mit Ausnahme der chromosomalen
erheblich geringer ist als innerhalb eines Geschlechtes. Zweitens
weist jedeR ernstzunehmende BiologIn den Anspruch zurück, durchschnittliche
Vergleichswerte aus Untersuchungsreihen auf eine Einzelperson anzuwenden.
Inzwischen neigen auch BiologInnen dazu, aufgrund der nicht vorhandenen
Eindeutigkeit eher von einem "Kontinuum" auszugehen, an
dessen Ränder "Mann" und "Frau" als theoretisches
Konstrukt stehen, und die Annahme eines eindeutigen "natürlichen" Geschlechtes in Frage zu stellen, wie dies z.B. Anne Fausto-Sterling
(1988) tut.
Diese Konstrukt ist, wie Sgier (1994) und Hagemann-White (1988)
auch nachweisen, sehr stark von der Alltagstheorie von "Geschlecht"
bestimmt und bleibt damit den "Macht- und Herrschaftsverhältnissen
dieser Gesellschaft verhaftet" (Carol Hagemann-White 1988,
S. 228). Irena Sgier vermutet wohl zurecht, dass sich die "Frage,
warum wir nur zwei Geschlechter kennen, (...) nur deshalb mit solcher
Hartnäckigkeit verbergen (kann), weil eine machtvolle Alltagstheorie
der Zweigeschlechtlichkeit auch das wissenschaftliche Denken durchzieht" (Irena Sgier 1994, S. 11).
Begreife ich Geschlecht als symbolische und existentielle Praxis
innerhalb von bestehenden gesellschaftlichen Diskursen, kann es
als kulturelle und herrschaftliche Praxis analysiert werden. Auf
diese Weise rückt auch in den Blick, dass für die Einordnung
eines Menschen in ein bestimmtes Geschlecht keineswegs ihr oder
sein chromosomales Geschlecht entscheidend ist, sondern unterstellte
biologische Merkmale. Der Mensch wird eingeordnet und ihr oder ihm
werden dabei nicht nur Rollenerwartungen, sondern auch die dazugedachten
Geschlechtsmerkmale zugeordnet. Harold Garfinkel (1967) bezeichnet
diese zugedachten Merkmale als "kulturelle Genitalien".
Carol Hagemann-White kommt deshalb zu dem Schluss: "Offener
für die Vielfalt der Frauenleben, radikaler in ihrer Sicht
für die patriarchale Unterdrückung scheint mir nach wie
vor die "Null-Hypothese" zu sein: dass es keine notwendige,
naturhaft vorgeschriebene Zweigeschlechtlichkeit gibt." (Carol
Hagemann-White 1988, S. 230)
- und könnte auch damit glatt recht haben, oder?
Andrea Maihofer hat eine Zusammenfassung der Existenz und Dekonstruktion
von Geschlecht geliefert, die es ermöglicht, Frauen und Männer
in ihrer gesellschaftlichen Konstituiertheit innerhalb bestehender
geschlechtsspezifischer Machthierarchien und in ihren oft widersprüchlichen,
in sich gebrochenen und situativ jeweils unterschiedlichen Existenzweisen
zu erfassen: ">Geschlecht< als gesellschaftlich-kulturelle
Existenzweise zu begreifen, stellt folglich den Versuch dar, erstens
gegenüber dem Verständnis von >Geschlecht< als blossem
Bewusstseinsphänomen, (...) überhaupt auf die >materielle
Existenz< des Geschlechts zu verweisen; zweitens gegenüber
der Vorstellung von >Geschlecht< als Effekt von Darstellungen
und Wahrnehmungen, Rollen, etc., (...) auf der >Konsistenz<
des Geschlechts als einer historisch entstandenen, aber doch gelebten
>körperlichen und seelischen Materialität< zu beharren;
und drittens gegenüber der Auffassung von >Geschlecht<
als Geschlechtsidentität, -charakter etc., (...) sowohl die
historisch entstandene >körperliche als auch überhaupt
gesellschaftlich-kulturelle Materialität< des Geschlechts
zu betonen, ohne auf eine natürliche Basis von Geschlecht rekurrieren
zu müssen. Andererseits ermöglicht diese Begrifflichkeit
gegenüber einem Verständnis von >Geschlecht< als
natürlicher biologisch-anatomischer Gegebenheit, auch den Geschlechtskörper
als gesellschaftlich-kulturelles Phänomen zu begreifen, ohne
die körperliche Materialität des Geschlecht verabschieden
zu müssen. (...) >Geschlecht< ist nun eine komplexe Verbindung
verschiedener historisch entstandener Denk- und Gefühlsweisen,
Körperpraxen und -formen sowie gesellschaftlicher Verhältnisse
und Institutionen, eben eine historische bestimmte Art und Weise
zu existieren." (Andrea Maihofer 1995, S. 84 f. Hervorhebung
B.R.)
Damit wäre die Radikalität der Dekonstruktion nicht verschenkt,
sondern dialektisch bereichert und von ihrer abstrakten Körper-
und Seelenlosigkeit befreit. Die bestehende Existenz könnte
ernst genommen, hinterfragt und spielerisch, subversiv unterlaufen
werden.
Die Möglichkeiten, jenseits der Zweigeschlechtlichkeit zu
denken oder gar zu leben, können wir bislang noch gar nicht
oder nur in Form von Denkspielen, Rollentausch und Parodien ermessen.
Bettina Roß
Erschienen 1998 In: Susanne Heynen (Hg.): "Wir fischen nicht
im Trüben: Goldfische für alle Netzwerke für
Frauen". Dokumentation der vierten Wissenschaftlerinnen-Werkstatt
der Promovendinnen der Hans-Böckler-Stiftung. Düsseldorf,
S. 67-74. Dort finden sich auch die hier fehlenden Fußnoten!
Literatur:
- Becker-Schmidt, Regina 1993: Geschlechterdifferenz - Geschlechterverhältnis:
soziale Dimensionen des Begriffs "Geschlecht". In: Zeitschrift
für Frauenforschung. Heft 1/2 1993, S. 37-46.
- Bertrams, Annette (Hg) 1995: Dichotomie, Dominanz, Differenz.
Frauen plazieren sich in Wissenschaft und Gesellschaft. Weinheim,
S. 11-24.
- Fausto-Sterling, Anne 1988: Gefangene des Geschlechts? Was biologische
Theorien über Mann und Frau sagen. München.
- Foucault, Michel 1994: Sexualität und Wahrheit. 3 Bände.
7. Auflage. Frankfurt/M.
- Ders. 1995: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses.
2. Auflage. Frankfurt/M.
- Garfinkel, Harold 1967: Studies on Ethnomethodology. Englewood
Cliffs.
- Gildemeister, Regine und Wetterer, Angelika 1995: Wie Geschlechter
gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit
und ihre Reifizierung in der Frauenforschung. In: Gudrun-Axeli Knapp
und Angelika Wetterer (Hg): Traditionen Brüche. Entwicklungen
feministischer Theorie. 2. Auflage. Freiburg, S. 201-254.
- Goffman, Erving 1974: The Arrangement Between The Sexes. In: Theory
and Society. Band 4, S. 301 ff.
- Hagemann-White, Carol 1984: Thesen zur kulturellen Konstruktion
der Zweigeschlechtlichkeit. In: B. Schaeffer-Hegel und B. Wartmann:
Mythos Frau. Projektionen und Inszenierungen im Patriarchat. 2.
Auflage. Berlin.
- Dies. 1988: Wir werden nicht zweigeschlechtlich geboren.... In:
Dies. + Maria Rerrich (Hg): Frauen - Männer - Bilder. Männer
und Männlichkeit in der feministischen Diskussion. Bielefeld.
- Hirschauer, Stefan 1993: Die soziale Konstruktion der Transsexualität.
Frankfurt/M.
- Kessler, Suzanne J. 1990: The medical Construction of Gender.
In: Signs 16.
- Maihofer, Andrea 1995: Geschlecht als Existenzweise. Frankfurt/M.
- Rich, Adrienne 1983: Zwangsheterosexualität und lesbische
Existenz. In: - Dagmar Schultz: Macht und Sinnlichkeit. Ausgewählte
Texte von Audre Lourde und Adrienne Rich. Berlin.
- Rubin, Gayle 1975: The Traffic in Women: Notes on the "Political
Economy" of Sex. In: Tayna R. Reiter: Toward an Enthropology
of Women. New York und London.
- Sgier, Irena 1994: Aus eins mach zehn und zwei lass gehn. Zweigeschlechtlichkeit
als kulturelle Konstruktion. Bern.
Bettina Roß
Dank an Bettina Roß.
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