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Pamela Allen:
DER FREIRAUM
Ich habe mich entschlossen, über eine Institution zu schreiben,
die vor allem in der Frauenbewegung geschaffen worden ist - die
Kleine Gruppe. Denn ich glaube, daß die kleine Gruppe besonders
geeignet ist, Frauen zur Festigung einer eigenen Wahrnehmung der
Realität und zu einem Denken zu befreien, das unabhängig
ist von männlichen Werten. Sie ist ein Raum, in dem Frauen
nicht nur zu dem Verständnis gelangen können, wie diese
Gesellschaft funktioniert, um die Unterdrückung der Frauen
aufrechtzuerhalten, sondern auch, wie man diese Unterdrückung
psychologisch und gesellschaftlich bekämpfen und besiegen kann.
Das nennen wir Freiraum.
Die Gruppe wird ungeheuer wichtig für unser Leben, wenn wir
beginnen, uns aus der Abhängigkeit von männlichen Werten
und Institutionen zu lösen. Die Gefahr dabei ist, daß
wir unsere Identität auf die Gruppe übertragen und unser
Denken von dem Gruppenkonsens bestimmen lassen, statt selber zu
denken. Obwohl es ungewiß ist, ob totale. Autonomie eine realisierbare
Möglichkeit ist, glauben wir, daß unsere Hoffnung in
unserer Entwicklung zu Individuen liegt, die sich selbst, ihre eigenen
Bedürfnisse, die Funktion unserer Gesellschaft und die Bedürfnisse
anderer verstehen. Deshalb versuchen wir, der Verlockung zu widerstehen,
unsere Identität mit der Gruppe zu verschmelzen und bemühen
uns statt dessen darum, unsere eigenen Gefühle und Gedanken
besser kennenzulernen. Freiheit ist ängstigend und es ist schwierig,
mit ihr umzugehen. Wir bemühen uns ständig darum, den
Vorteil des Freiraums, den wir uns geschaffen haben, zu nutzen.
Wir haben vier Gruppenprozesse erarbeitet, die uns in unseren Bemühungen,
auf dem Gebiet des Denkens und Verhaltens autonom zu werden, behilflich
sein sollen. Wir nennen diese Prozesse sich selbst darstellen,
Erfahrungen teilen, analysieren und abstrahieren.
Auf diese Weise bleiben wir mit unseren eigenen Emotionen in Kontakt,
indem wir Erfahrungen, die wir gemacht haben; mitteilen, versuchen,
die Bedeutung dieser Erfahrungen zu verstehen und schließlich
dieses Verständnis in eine Konzeption der Realität unserer
Gesellschaft einzuordnen - in die Entwicklung einer Theorie.
Die Gruppenprozesse werden nachstehend beschrieben. Es sollte klar
sein, daß es keine völlig voneinander unterschiedenen
Prozesse sind; sie gehen beständig ineinander über. Doch
der Akzent liegt beim sich selbst darstellen auf unseren
Gefühlen, beim Erfahrungen teilen auf unseren Erlebnissen,
beim analysieren auf unserem Denken und beim abstrahieren auf unserer sich entwickelnden Theorie.
Die Gruppenprozesse, die in diesem Artikel beschrieben sind, wurden
von der Gruppe diskutiert und definiert, nachdem wir uns über
ein Jahr lang getroffen hatten. Das war eigentlich das erste Mal,
daß wir unsere wachsenden Fähigkeiten, zu analysieren,
auf uns selbst und auf unsere eigenen Tätigkeit richteten.
Die Erfahrung, diese Konzeption gemeinsam zu erarbeiten, war für
uns alle sehr aufregend. Manchem mögen diese Prozesse ein wenig
zufällig und zu festgelegt erscheinen, aber unsere
Gruppe glaubt, daß sich zwar immer eine bestimmte Struktur
entwickelt, daß es aber besser ist, bewußt eine Struktur
zu wahren, die unsere Entwicklung fördert, als einfach darauf
zu hoffen, daß sich schon irgendwas tun wird.
Wir sind zu dieser Auffassung gekommen, weil unsere ersten Aktivitäten
bewußt unstrukturiert waren - und wir feststellten, daß
den Dingen ihren Lauf zu lassen bedeutet, daß die willensstärksten
Persönlichkeiten die Sitzungen immer unter Kontrolle hatten,
und daß unter der Hand die schwierigsten Problembereiche in
der Diskussion ausgespart wurden.
Das Funktionieren der hier beschriebenen Gruppenprozesse hängt
nicht von einzelnen Personen ab und es ist garantiert, daß
diejenigen unter uns, denen es schwer fällt, ihre Gefühle
offen auszusprechen, dazu aufgefordert werden. Dasselbe trifft für
Frauen zu, die die Analyse fürchten und lieber nur auf der
subjektiven Ebene verbleiben werden. Das gesamte Verfahren ist nicht
einfach, doch wir fühlen, daß jeder dieser Prozesse für
das Verständnis menschlicher Erfahrungen wichtig ist. Wir meinen,
daß Theorie und Analyse, die ihren Ursprung nicht in konkreter
Erfahrung (Praxis) haben, nutzlos sind, aber wir vertreten den Standpunkt,
daß man, um die konkreten alltäglichen Erfahrungen zu
verstehen, sie den Prozessen der Analyse und der Abstraktion unterwerfen
muß.
Sich selbst darstellen
Sich selbst darstellen ist wirklich ein Bedürfnis,
das jeder hat: es ist notwendig für die Frauen, sich selbst
darzustellen und über ihre Gefühle, sich selbst und ihr
Leben zu sprechen. Zu Beginn einer Gruppenerfahrung ist die Selbstdarstellung
der erste Versuch, menschlichen Kontakt zu anderen Frauen zu finden.
Später bietet dieser Prozeß dann die Möglichkeit,
mit anderen über seine eigenen subjektiven Gefühle, über
die Gruppe, die Frauenbewegung und über das eigene Leben zu
kommunizieren. Unsere Gesellschaft entfremdet uns von unseren eigenen
Gefahlen. Das trifft jedoch weniger für Frauen als für
Männer zu. Es ist von absoluter Notwendigkeit - für unser
Selbstverständnis und für unser Bewußtsein, daß
wir den Kontakt zu unseren Gefühlen aufrechterhalten und vertiefen.
Wir sollten uns nicht in erster Linie Sorgen darüber machen,
ob diese Gefühle gut oder schlecht sind, sondern darüber,
was sie wirklich sind. Wir haben tatsächlich Gefühle -
ihre Existenz verleugnen heißt nicht, sie auch los zu werden.
Im Gegenteil, wir werden nur lernen, mit ihnen umzugehen, indem
wir sie überhaupt zulassen. Der Prozeß des Sich-selbst-Darstellens
ist ein wesentlicher, aber schwieriger Prozeß für eine
Gruppe. In ihrem Anfangsstadium begünstigt eine Gruppe gewöhnlich
die Entwicklung eines Gefühls der Intimität und des Vertrauens,
das Frauen die Freiheit gilt, über ihre Ängste und Probleme
zu sprechen. Das ist der Fall, weil die meisten Frauen vorher isoliert
und alleine waren, und weil sie in der Gruppe zum ersten Mal die
Erfahrung machen, mit anderen zusammen zu sein, die wie sie selbst
von ihrem Schicksal als Frau in dieser Gesellschaft frustriert sind.
Jede Frau, die versucht hat, ihrem Mann gegenüber das Gefühl
des ldentitätsverlustes zu artikulieren, kennt die Verzweiflung
des Nichtverstandenseins. Jede Frau, die versucht hat, ihr starkes
Bedürfnis nach einem selbständigem Leben zu erklären,
sieht daß ihre Worte bei ihrer Familie und bei Freunden auf
Unverständnis stoßen und kennt die Angst vor dem Alleinsein
und die Angst davor, dann von den anderen als eine Art Monstrum
angesehen zu werden. Jede Frau, die eingestanden hat, daß
sie unglücklich und deprimiert ist, aber nicht erklären
kann warum, kennt die Qual des Nichternstgenommenwerdens. Wenn eine
Frau bei dem Versuch, ihre Gefühle aber ihren Zustand mitzuteilen,
ständig negative Reaktionen erfährt, ist es wahrscheinlich,
daß sie sich selbst anzweifelt und ihre Probleme als persönliche
ansieht.
Die Gruppe ist für die Frauen ein Ort, wo die Reaktionen positiv
sein werden. Ja, wir kennen das auch,. Ja, wir
verstehen Dich. Es kommt dabei nicht so sehr auf die Worte
an, mit denen die anderen reagieren, sondern auf die Tatsache, daß
jemand einfach zuhört und sich nicht lustig macht, daß
jemand zuhört und die Validität der Lebenserfahrungen
einer anderen bestätigt. Das ist der Beginn von Frauensolidarität,
der Beginn des Gefühls einer Frauengemeinschaft mit anderen
und des Nicht-mehr-Allein-seins.
Die erste Gruppenerfahrung in der Abgeschlossenheit (auch Flitterwochen
genannt) ermöglicht es, die eigenen Gefühle sich selbst
und seinem Leben gegenüber darzustellen. Doch wenn die Gruppe
beginnt, auf einer langfristigen Basis zu arbeiten und die Mitglieder
an Aktionen in der Frauenbewegung teilnehmen, wird es schwieriger,
aufrichtig aber seine eigenen Gefühle zu sprechen, denn manchmal
sind sie negativ und könnten eine andere Frau verletzen. Dennoch
ist es unbedingt notwendig, so etwas zu artikulieren, wenn Vertrauen
und Frauensolidarität langfristig Wirklichkeit werden sollen.
Weder eine Gruppe noch eine Bewegung funktionieren, wenn latentes
Mißtrauen und Feindseligkeit oder offenkundige Verleumdung
weiterhin existieren. Hinzu kommt, daß die einzelne Frau nicht
frei sein kann, sich selbst und anderen zu vertrauen, wenn sie Gefühle
unterdrückt und sich diese Gefahle hinterrücks in ihrem
Denken und Handeln durchsetzen.
Selbstdarstellung ist eine persönliche Notwendigkeit, die
eigenen Gefühle - Freude wie auch Sorgen - zuzulassen und auch
auszudrücken. Außerdem ist es eine Notwendigkeit für
die Gruppe, da keine Gruppe, die sich nicht mit den Gefühlen
ihrer Mitglieder beschäftigt, aber einen langen Zeitraum hinweg
funktionieren kann. Solange die Frauen nicht über einen Freiraum
verfügen, in dem sie sich, ohne die Gefahr verurteilt zu werden,
aussprechen können, werden wir niemals die Kraft oder überhaupt
die Fähigkeit zur Wahrnehmung unserer eigenen Ambivalenzen
entwickeln. Es ist wesentlich, daß die Gruppe Vertrauen garantiert
und daß wir wissen, daß unsere Gefahle nicht andernorts
verraten oder gegen uns verwandt werden. Das ist eine Gruppenverpflichtung,
ohne die Vertrauen niemals möglich ist
Erfahrungen teilen
Der Selbstdarstellungsprozeß zentriert sich um die expressiven
Bedürfnisse der Einzelnen, und wenn er extrem betrieben wird,
kann das zu einer Art Selbstbefriedigung werden. Es gibt jedoch
eine andere Erfahrung, die in der Gruppe gemacht werden kann, der
ersten ähnlich, aber dennoch unterschieden von ihr, da die
Betonung hier darauf liegt, durch das Teilen von Erfahrungen wechselseitig
zu lernen. Wir antworten nicht nur mit Anerkennung auf die Erzählungen
anderer, sondern fegen Berichte aus unserer eigenen Biographie hinzu
und erstellen somit eine Collage aus ähnlichen Erfahrungen
aller anwesenden Frauen. Unsere Absicht dabei ist es, zu einem Verständnis
der sozialen Bedingungen, unter denen.die Frauen leben, zu gelangen,
indem man Beschreibungen der Formen der Unterdrückung, die
das Leben jeder einzelnen betreffen, erarbeitet. Diese Einzelheiten
zu offenbaren, kann sehr schmerzlich sein, aber die Berechtigung
für das Aufwühlen dieser Probleme liegt nicht nur in der
therapeutischen Funktion des Aufdeckens verborgener Bereiche. Durch
gemeinsame Diskussion gelangt man zu der Einsicht, daß viele
der beschriebenen Situationen keineswegs persönlicher Art sind
und nicht auf individueller Unzulänglichkeit beruhen, sondern
ihre Ursache in der gesellschaftlichen Ordnung haben. Was wir festgestellt
haben ist, daß schmerzliche persönliche Probleme
für viele der Frauen alltäglich sind.
So führt Bewußtheit eher dazu, die wahren Ursachen dieser
Probleme zu finden, als nur die eigene Unzulänglichkeit zu
betonen. Fast jedes Thema kann in dem Prozeß des Teilens der
Erfahrungen behandelt werden.
Aber Voraussetzung ist, daß die beteiligten Frauen auf diesem
Gebiet Erfahrungen haben. Einige Themen, die wir in den Diskussionen
behandelt haben, waren: Leben in der Kommune, Berufserfahrung, Erfahrungen
in der Bürgerrechtsbewegung, dem SDS und der Anti-Kriegsbewegung,
Beziehungen zu Männern, die sich auf Beispiele des männlichen
Chauvinismus konzentrieren; Beziehungen zu Frauen, mit dem Hauptgewicht
auf unseren Jugenderlebnissen, deren Einfluß auf unsere jetzigen
Gefühle Frauen gegenüber; und auch die Vorstellungen,
die wir von uns selbst haben, d.h. wie wir uns sehen und wie wir
glauben, von anderen gesehen zu werden.
Wir glauben, daß Einigung aber ein Thema und das etwa einwöchige
Vorbereiten der Diskussion Garantie für eine produktive Diskussion
über unsere Erfahrungen sind. Dieser Prozeß hat uns gezeigt,
daß die Lösung unserer Probleme in dem Zusammenschluß
mit anderen Frauen gefunden werden wird, da viele unserer gemeinsamen
Probleme auf der Tatsache beruhen, daß wir Frauen sind. Es
war nicht nur die Teilnahme an den Geschichten unserer Kindheit,
Schulzeit, Heirat und Berufserfahrung, die uns zu dieser Erkenntnis
gebracht hat. Es waren auch die positiven Gefühle, die Wärme
und Solidarität der kleinen Gruppe, die die Überzeugung
bestärkten, daß die Lösung nur gemeinsam mit anderen
Frauen - sowohl heute wie auch in Zukunft - gefunden werden kann.
Die Praxis widerlegt die alten Stereotypen, die behaupten, daß
Frauen unfähig seien, gemeinsam zu arbeiten, und daß
sie sich nicht leiden können. Nach dem Prozeß des Erfahrungen-Teilens
haben wir verstanden, daß Frauen innerhalb einer patriarchalischen
Gesellschaft leiden, und daß männliche Vorherrschaft
jeden Winkel unserer Existenz durchdringt, indem sie die Formen
unserer Lebenshaltung und die Formen, in denen wir Befriedigung
in persönlichen Beziehungen finden können, kontrolliert.
Wir lernen, daß unsere geheimsten, unsere privatesten Probleme
aus der Einstellung und dem Verhalten Frauen gegenüber und
aus den den Frauen vorgeschriebenen Lebensformen resultieren. Isolation
verwandelt Frustration in Zweifel an sich selbst. Die Gruppe dagegen
gibt den Frauen eine Perspektive, die zum Handeln führen kann.
Durch das Teilen von Erfahrungen lernen sie, daß sie beschissen
worden sind und entwickeln jetzt eine kritische Einstellung gegenüber
der Gesellschaft, die die Frauenrolle so hart definiert. Doch bevor
sie ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen können,
messen sie die objektive Lage der Frauen und die vielen Formen,
in denen sich die Unterdrückung in ihrem Leben zeigt, verstehen
lernen.
Analysieren
Nun beginnt eine dritte Phase innerhalb der Gruppe: die Erfahrung,
Gründe und Ursachen der Frauenunterdrückung zu analysieren.
Diese Analyse wird notwendig aufgrund der Fragen, die sich anhand
der grundlegenden, noch unverarbeiteten Ergebnisse der beiden ersten
Prozesse stellen. Sie ist eine völlig neue Art und Weise, die
Lage der Frauen zu betrachten: Die Entwicklung einer Konzeption,
die versucht, nicht mehr nur die Warums und Wies
unserer Unterdrückung, sondern auch die Möglichkeiten
zur Bekämpfung dieser Unterdrückung näher zu bestimmen.
Da das Analysieren nach der Auseinandersetzung mit individuellen
Beispielen der Unterdrückung stattfindet, basiert es auf einem
feministischen Verständnis der realen Lage der Frau. Diese
Periode ist wichtig, weil wir in ihr beginnen, aber unsere persönlichen
Erfahrungen hinauszugehen. Nachdem wir durch den Prozeß des
Teilens eine Perspektive für unser Leben gewonnen haben, beginnen
wir nun, die beschissene Lage der Frau mit mehr Objektivität
zu betrachten. Diese neue Methode ist für viele von uns sehr
schwierig, da wir als Frauen überwiegend im Bereich der Subjektivität
existieren. Wir führen Aufgaben aus, doch selten sind wir Herren
der Situation, und wir verstehen nicht, wie und warum etwas funktioniert.
Das Analysieren ist ein neues und schwierig zu erlernendes
Verfahren. Zum Beispiel bei der Analyse der Rolle, die die Gruppe
in unserem Leben spielt, haben wir endlich verstanden, wie Frauen
daran gehindert werden, Selbstwertgefühl zu entwickeln. Wir
haben aber die Notwendigkeit, eine soziale Identität zu haben,
und darüber, wie Frauen gehindert werden, sie zu erlangen,
diskutiert. Wir haben die Rolle der Frau als Ehefrau und Mutter
analysiert. Wir gelangten zu der Erkenntnis, daß Frauen in
eine private Sphäre verwiesen und sowohl finanziell als auch
psychisch von ihren Männern abhängig sind. Die Gruppe
ist der erste Schritt des Ausbruchs aus der Isolation. Hier besteht
- manchmal erstmalig in ihrem Leben - für eine Frau die Möglichkeit,
eine von ihrem Mann unabhängige Identität zu entwickeln.
Sie kann hier aktiv werden als denkender Mensch statt als Sexualobjekt,
Dienerin, Ehefrau oder Mutter. Kurz gesagt, stellt die Gruppe einen
sozialen Wert der beteiligten Frauen überhaupt erst her, eine
Notwendigkeit, wenn Frauen sich selbst ernst nehmen sollen.
Wir waren gezwungen, uns realistisch mit unserer Unfähigkeit
zu begrifflichem Denken auseinanderzusetzen. Diese Unfähigkeit
resultiert daraus, daß wir immer wieder bestärkt werden,
in der Privatsphäre zu bleiben und uns auf andere Menschen
nur auf der personalen Ebene zu beziehen - auch wenn wir berufstätig
sind.
Wir üben ein, über unsere subjektiven Reaktionsweisen
hinauszugehen und unsere Realität mit anderen Augen anzusehen.
Obwohl es nicht leicht für uns ist, sehen wir die absolute
Notwendigkeit der Analyse, da unsere Unterdrückung sowohl offensichtliche
wie auch subtile Formen annimmt, die sich je nach Klassenzugehörigkeit
und Bildungsgrad unterscheiden.
Die Komplexität der Frauensituation erzwingt, daß wir
Informationen, die ausserhalb unserer individuellen Erfahrung liegen,
in unsere Analyse der Frauenunterdrückung einbeziehen. Das
ist auch der Punkt, an dem Bücher und anderes Material wichtig
werden.
Wir sind jedoch der Ansicht, daß diese Periode des Analysierens
in der Reihenfolge hinter die Prozesse der Selbstdarstellung und
des Teilens der Erfahrungen gehört, da die Begriffe, die wir
erarbeiten, die Fragen beantworten müssen, die sich aus unseren
Problemen als Frauen ergeben.
Es liegt nicht in unserem Interesse, Erfahrungen in eine vorgefaßte
Theorie einzupassen, besonders dann nicht, wenn sie von Männern
erdacht ist. Nicht nur, weil wir alles männliche Denken der
Frauenverachtung verdächtigen müssen, sondern auch, weil
wir lernen müssen, unabhängig zu denken. Unser Denken
muß aus unseren Fragen erwachsen, wenn es unser eigenes sein
soll, und weil wir ein Instrumentarium brauchen, mit Hilfe dessen
wir neue Erfahrungen objektiv betrachten und korrekt analysieren
können. So wird nach jeder neuen Erfahrung eine Phase des Analysierens
folgen, die eine kontinuierlich anwachsende Theorie um neue Ideen
bereichert.
Abstrahieren
Bevor Entscheidungen über Prioritäten von Problemen und
Methoden getroffen werden können, muß eine Synthese der
Analysen geleistet werden. Damit das geschehen kann, müssen
wir eine gewisse Distanz gegenüber unseren Problemen entwickeln.
Wenn wir uns selbst von Handlungszwängen befreien, sind wir
fähig, die Begriffe und die Analyse, die wir entwickelt haben,
zu gebrauchen und abstrakte Theorie zu diskutieren. Wir sind dann
in der Lage, die Totalität der Bedingungen, unter denen wir
leben, zu betrachten, wenn wir die Begriffe gebrauchen, die wir
in den Diskussionen aber die Vielfalt unserer Unterdrückungsformen
formuliert haben. Wir fangen an, eine Utopie (und bis zu einem gewissen
Grade auch Erfahrungen davon) unseres menschlichen Potentials zu
entwickeln. Das heißt nicht, daß wir wie Männer
werden. Vielmehr werden wir zu dem Verständnis gelangen, was
wir sein konnten, wenn wir befreit waren von gesellschaftlicher
Unterdrückung. Die Erfahrung der Abstraktion sehen wir als
die intensivste Form des Freiraums an. Wir beginnen erst jetzt,
im Prozeß des Abstrahierens diesen Freiraum zu erfahren, nachdem
wir ein Jahr lang uns selbst dargestellt, unsere Erfahrungen geteilt
und analysiert haben. Wir erkennen langsam, daß bestimmte
Institutionen der Erfüllung menschlicher Bedürfnisse entsprechen
oder sie verhindern, wie sie zusammenarbeiten, und daß sie
geändert werden messen. Wir entwickeln Vorstellungen darüber,
wie die Frauenbewegung beschaffen sein muß, damit sie die
Institutionen, die Frauen unterdrücken, abschaffen kann.
Konkret haben wir begonnen, ein Verständnis der Funktion zu
entwickeln, die die kleine Gruppe in dieser sozialen Revolution
spielen kann, und auch ein Verständnis dessen, was sie nicht
leisten kann.
Wir wissen, daß die kleine Gruppe für sich genommen
weder eine politische aktions-orientierte Organisation, noch ein
Familienersatz sein kann. Aber wir entwickeln hier ein neues Bewußtsein.
Und aus dieser erwachsenden Theorie wird ein Programm entstehen,
basierend auf einem fundierten Verständnis der Situation der
Frau, das seine Wurzeln in unseren eigenen Erfahrungen hat, aber
nicht auf diese beschränkt bleibt. Von ihrer intellektuellen
Seite her ist dies die spannendste Phase. Es macht Spaß, denken
zu lernen und zu verstehen, was mit uns passiert. Unsere Ideen sind
befreiende Erfahrungen, gleichzeitig geben sie uns den Rahmen für
die Bestimmung unserer Aktionen.
Es ist wichtig, daß alle Prozesse nicht auf bestimmte Zeitabschnitte
begrenzt sind. Die Prozesse sind nie vollständig abgeschlossen.
Die Selbstdarstellung ist nicht begrenzt auf die Vergangenheit,
und man arbeitet sich nicht durch die verschiedenen Prozesse hoch,
bis man beim Abstrahieren angelangt ist, um dann überhaupt
nichts anderes mehr zu machen. Analysieren und Abstrahieren sind
nur dann sinnvolle Prozesse, wenn sie immer rückgekoppelt sind
an die aktuellen Erfahrungen und Gefühle der Teilnehmerinnen.
Die Reihenfolge ist festgelegt, aber die Prozesse selber gehen weiter.
Der ganze Gruppenprozeß ist keine Therapie, weil wir versuchen,
die gesellschaftlichen Ursachen der Erfahrungen, die wir machen,
und mögliche Programme für die Abschaffung der ihnen zugrundeliegenden
Bedingungen zu erarbeiten. Aber es gibt in der Tat die therapeutische
Erfahrung, daß die einzelne Frau momentan entlastet wird von
aller Verantwortlichkeit für ihre Situation, und das ist notwendig,
damit Frauen selbständig handeln können.
(1970).
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