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Claus Sterneck / Claus in Iceland
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Wolfgang Sterneck
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Pamela Allen:

DER FREIRAUM

Ich habe mich entschlossen, über eine Institution zu schreiben, die vor allem in der Frauenbewegung geschaffen worden ist - die Kleine Gruppe. Denn ich glaube, daß die kleine Gruppe besonders geeignet ist, Frauen zur Festigung einer eigenen Wahrnehmung der Realität und zu einem Denken zu befreien, das unabhängig ist von männlichen Werten. Sie ist ein Raum, in dem Frauen nicht nur zu dem Verständnis gelangen können, wie diese Gesellschaft funktioniert, um die Unterdrückung der Frauen aufrechtzuerhalten, sondern auch, wie man diese Unterdrückung psychologisch und gesellschaftlich bekämpfen und besiegen kann. Das nennen wir Freiraum.

Die Gruppe wird ungeheuer wichtig für unser Leben, wenn wir beginnen, uns aus der Abhängigkeit von männlichen Werten und Institutionen zu lösen. Die Gefahr dabei ist, daß wir unsere Identität auf die Gruppe übertragen und unser Denken von dem Gruppenkonsens bestimmen lassen, statt selber zu denken. Obwohl es ungewiß ist, ob totale. Autonomie eine realisierbare Möglichkeit ist, glauben wir, daß unsere Hoffnung in unserer Entwicklung zu Individuen liegt, die sich selbst, ihre eigenen Bedürfnisse, die Funktion unserer Gesellschaft und die Bedürfnisse anderer verstehen. Deshalb versuchen wir, der Verlockung zu widerstehen, unsere Identität mit der Gruppe zu verschmelzen und bemühen uns statt dessen darum, unsere eigenen Gefühle und Gedanken besser kennenzulernen. Freiheit ist ängstigend und es ist schwierig, mit ihr umzugehen. Wir bemühen uns ständig darum, den Vorteil des Freiraums, den wir uns geschaffen haben, zu nutzen.

Wir haben vier Gruppenprozesse erarbeitet, die uns in unseren Bemühungen, auf dem Gebiet des Denkens und Verhaltens autonom zu werden, behilflich sein sollen. Wir nennen diese Prozesse ”sich selbst darstellen”, ”Erfahrungen teilen”, ”analysieren” und ”abstrahieren”. Auf diese Weise bleiben wir mit unseren eigenen Emotionen in Kontakt, indem wir Erfahrungen, die wir gemacht haben; mitteilen, versuchen, die Bedeutung dieser Erfahrungen zu verstehen und schließlich dieses Verständnis in eine Konzeption der Realität unserer Gesellschaft einzuordnen - in die Entwicklung einer Theorie.

Die Gruppenprozesse werden nachstehend beschrieben. Es sollte klar sein, daß es keine völlig voneinander unterschiedenen Prozesse sind; sie gehen beständig ineinander über. Doch der Akzent liegt beim ”sich selbst darstellen” auf unseren Gefühlen, beim ”Erfahrungen teilen” auf unseren Erlebnissen, beim ”analysieren” auf unserem Denken und beim ”abstrahieren” auf unserer sich entwickelnden Theorie.

Die Gruppenprozesse, die in diesem Artikel beschrieben sind, wurden von der Gruppe diskutiert und definiert, nachdem wir uns über ein Jahr lang getroffen hatten. Das war eigentlich das erste Mal, daß wir unsere wachsenden Fähigkeiten, zu analysieren, auf uns selbst und auf unsere eigenen Tätigkeit richteten. Die Erfahrung, diese Konzeption gemeinsam zu erarbeiten, war für uns alle sehr aufregend. Manchem mögen diese Prozesse ein wenig zufällig und zu ”festgelegt” erscheinen, aber unsere Gruppe glaubt, daß sich zwar immer eine bestimmte Struktur entwickelt, daß es aber besser ist, bewußt eine Struktur zu wahren, die unsere Entwicklung fördert, als einfach darauf zu hoffen, daß sich schon irgendwas tun wird.

Wir sind zu dieser Auffassung gekommen, weil unsere ersten Aktivitäten bewußt unstrukturiert waren - und wir feststellten, daß den Dingen ihren Lauf zu lassen bedeutet, daß die willensstärksten Persönlichkeiten die Sitzungen immer unter Kontrolle hatten, und daß unter der Hand die schwierigsten Problembereiche in der Diskussion ausgespart wurden.

Das Funktionieren der hier beschriebenen Gruppenprozesse hängt nicht von einzelnen Personen ab und es ist garantiert, daß diejenigen unter uns, denen es schwer fällt, ihre Gefühle offen auszusprechen, dazu aufgefordert werden. Dasselbe trifft für Frauen zu, die die Analyse fürchten und lieber nur auf der subjektiven Ebene verbleiben werden. Das gesamte Verfahren ist nicht einfach, doch wir fühlen, daß jeder dieser Prozesse für das Verständnis menschlicher Erfahrungen wichtig ist. Wir meinen, daß Theorie und Analyse, die ihren Ursprung nicht in konkreter Erfahrung (Praxis) haben, nutzlos sind, aber wir vertreten den Standpunkt, daß man, um die konkreten alltäglichen Erfahrungen zu verstehen, sie den Prozessen der Analyse und der Abstraktion unterwerfen muß.

”Sich selbst darstellen”

”Sich selbst darstellen” ist wirklich ein Bedürfnis, das jeder hat: es ist notwendig für die Frauen, sich selbst darzustellen und über ihre Gefühle, sich selbst und ihr Leben zu sprechen. Zu Beginn einer Gruppenerfahrung ist die Selbstdarstellung der erste Versuch, menschlichen Kontakt zu anderen Frauen zu finden. Später bietet dieser Prozeß dann die Möglichkeit, mit anderen über seine eigenen subjektiven Gefühle, über die Gruppe, die Frauenbewegung und über das eigene Leben zu kommunizieren. Unsere Gesellschaft entfremdet uns von unseren eigenen Gefahlen. Das trifft jedoch weniger für Frauen als für Männer zu. Es ist von absoluter Notwendigkeit - für unser Selbstverständnis und für unser Bewußtsein, daß wir den Kontakt zu unseren Gefühlen aufrechterhalten und vertiefen. Wir sollten uns nicht in erster Linie Sorgen darüber machen, ob diese Gefühle gut oder schlecht sind, sondern darüber, was sie wirklich sind. Wir haben tatsächlich Gefühle - ihre Existenz verleugnen heißt nicht, sie auch los zu werden. Im Gegenteil, wir werden nur lernen, mit ihnen umzugehen, indem wir sie überhaupt zulassen. Der Prozeß des ”Sich-selbst-Darstellens” ist ein wesentlicher, aber schwieriger Prozeß für eine Gruppe. In ihrem Anfangsstadium begünstigt eine Gruppe gewöhnlich die Entwicklung eines Gefühls der Intimität und des Vertrauens, das Frauen die Freiheit gilt, über ihre Ängste und Probleme zu sprechen. Das ist der Fall, weil die meisten Frauen vorher isoliert und alleine waren, und weil sie in der Gruppe zum ersten Mal die Erfahrung machen, mit anderen zusammen zu sein, die wie sie selbst von ihrem Schicksal als Frau in dieser Gesellschaft frustriert sind. Jede Frau, die versucht hat, ihrem Mann gegenüber das Gefühl des ldentitätsverlustes zu artikulieren, kennt die Verzweiflung des Nichtverstandenseins. Jede Frau, die versucht hat, ihr starkes Bedürfnis nach einem selbständigem Leben zu erklären, sieht daß ihre Worte bei ihrer Familie und bei Freunden auf Unverständnis stoßen und kennt die Angst vor dem Alleinsein und die Angst davor, dann von den anderen als eine Art Monstrum angesehen zu werden. Jede Frau, die eingestanden hat, daß sie unglücklich und deprimiert ist, aber nicht erklären kann warum, kennt die Qual des Nichternstgenommenwerdens. Wenn eine Frau bei dem Versuch, ihre Gefühle aber ihren Zustand mitzuteilen, ständig negative Reaktionen erfährt, ist es wahrscheinlich, daß sie sich selbst anzweifelt und ihre Probleme als persönliche ansieht.

Die Gruppe ist für die Frauen ein Ort, wo die Reaktionen positiv sein werden. ”Ja, wir kennen das auch”,. ”Ja, wir verstehen Dich”. Es kommt dabei nicht so sehr auf die Worte an, mit denen die anderen reagieren, sondern auf die Tatsache, daß jemand einfach zuhört und sich nicht lustig macht, daß jemand zuhört und die Validität der Lebenserfahrungen einer anderen bestätigt. Das ist der Beginn von Frauensolidarität, der Beginn des Gefühls einer Frauengemeinschaft mit anderen und des Nicht-mehr-Allein-seins.

Die erste Gruppenerfahrung in der Abgeschlossenheit (auch ”Flitterwochen” genannt) ermöglicht es, die eigenen Gefühle sich selbst und seinem Leben gegenüber darzustellen. Doch wenn die Gruppe beginnt, auf einer langfristigen Basis zu arbeiten und die Mitglieder an Aktionen in der Frauenbewegung teilnehmen, wird es schwieriger, aufrichtig aber seine eigenen Gefühle zu sprechen, denn manchmal sind sie negativ und könnten eine andere Frau verletzen. Dennoch ist es unbedingt notwendig, so etwas zu artikulieren, wenn Vertrauen und Frauensolidarität langfristig Wirklichkeit werden sollen. Weder eine Gruppe noch eine Bewegung funktionieren, wenn latentes Mißtrauen und Feindseligkeit oder offenkundige Verleumdung weiterhin existieren. Hinzu kommt, daß die einzelne Frau nicht frei sein kann, sich selbst und anderen zu vertrauen, wenn sie Gefühle unterdrückt und sich diese Gefahle hinterrücks in ihrem Denken und Handeln durchsetzen.

Selbstdarstellung ist eine persönliche Notwendigkeit, die eigenen Gefühle - Freude wie auch Sorgen - zuzulassen und auch auszudrücken. Außerdem ist es eine Notwendigkeit für die Gruppe, da keine Gruppe, die sich nicht mit den Gefühlen ihrer Mitglieder beschäftigt, aber einen langen Zeitraum hinweg funktionieren kann. Solange die Frauen nicht über einen Freiraum verfügen, in dem sie sich, ohne die Gefahr verurteilt zu werden, aussprechen können, werden wir niemals die Kraft oder überhaupt die Fähigkeit zur Wahrnehmung unserer eigenen Ambivalenzen entwickeln. Es ist wesentlich, daß die Gruppe Vertrauen garantiert und daß wir wissen, daß unsere Gefahle nicht andernorts verraten oder gegen uns verwandt werden. Das ist eine Gruppenverpflichtung, ohne die Vertrauen niemals möglich ist

”Erfahrungen teilen”

Der Selbstdarstellungsprozeß zentriert sich um die expressiven Bedürfnisse der Einzelnen, und wenn er extrem betrieben wird, kann das zu einer Art Selbstbefriedigung werden. Es gibt jedoch eine andere Erfahrung, die in der Gruppe gemacht werden kann, der ersten ähnlich, aber dennoch unterschieden von ihr, da die Betonung hier darauf liegt, durch das Teilen von Erfahrungen wechselseitig zu lernen. Wir antworten nicht nur mit Anerkennung auf die Erzählungen anderer, sondern fegen Berichte aus unserer eigenen Biographie hinzu und erstellen somit eine Collage aus ähnlichen Erfahrungen aller anwesenden Frauen. Unsere Absicht dabei ist es, zu einem Verständnis der sozialen Bedingungen, unter denen.die Frauen leben, zu gelangen, indem man Beschreibungen der Formen der Unterdrückung, die das Leben jeder einzelnen betreffen, erarbeitet. Diese Einzelheiten zu offenbaren, kann sehr schmerzlich sein, aber die Berechtigung für das Aufwühlen dieser Probleme liegt nicht nur in der therapeutischen Funktion des Aufdeckens verborgener Bereiche. Durch gemeinsame Diskussion gelangt man zu der Einsicht, daß viele der beschriebenen Situationen keineswegs persönlicher Art sind und nicht auf individueller Unzulänglichkeit beruhen, sondern ihre Ursache in der gesellschaftlichen Ordnung haben. Was wir festgestellt haben ist, daß schmerzliche ”persönliche” Probleme für viele der Frauen alltäglich sind.

So führt Bewußtheit eher dazu, die wahren Ursachen dieser Probleme zu finden, als nur die eigene Unzulänglichkeit zu betonen. Fast jedes Thema kann in dem Prozeß des Teilens der Erfahrungen behandelt werden.

Aber Voraussetzung ist, daß die beteiligten Frauen auf diesem Gebiet Erfahrungen haben. Einige Themen, die wir in den Diskussionen behandelt haben, waren: Leben in der Kommune, Berufserfahrung, Erfahrungen in der Bürgerrechtsbewegung, dem SDS und der Anti-Kriegsbewegung, Beziehungen zu Männern, die sich auf Beispiele des männlichen Chauvinismus konzentrieren; Beziehungen zu Frauen, mit dem Hauptgewicht auf unseren Jugenderlebnissen, deren Einfluß auf unsere jetzigen Gefühle Frauen gegenüber; und auch die Vorstellungen, die wir von uns selbst haben, d.h. wie wir uns sehen und wie wir glauben, von anderen gesehen zu werden.

Wir glauben, daß Einigung aber ein Thema und das etwa einwöchige Vorbereiten der Diskussion Garantie für eine produktive Diskussion über unsere Erfahrungen sind. Dieser Prozeß hat uns gezeigt, daß die Lösung unserer Probleme in dem Zusammenschluß mit anderen Frauen gefunden werden wird, da viele unserer gemeinsamen Probleme auf der Tatsache beruhen, daß wir Frauen sind. Es war nicht nur die Teilnahme an den Geschichten unserer Kindheit, Schulzeit, Heirat und Berufserfahrung, die uns zu dieser Erkenntnis gebracht hat. Es waren auch die positiven Gefühle, die Wärme und Solidarität der kleinen Gruppe, die die Überzeugung bestärkten, daß die Lösung nur gemeinsam mit anderen Frauen - sowohl heute wie auch in Zukunft - gefunden werden kann. Die Praxis widerlegt die alten Stereotypen, die behaupten, daß Frauen unfähig seien, gemeinsam zu arbeiten, und daß sie sich nicht leiden können. Nach dem Prozeß des Erfahrungen-Teilens haben wir verstanden, daß Frauen innerhalb einer patriarchalischen Gesellschaft leiden, und daß männliche Vorherrschaft jeden Winkel unserer Existenz durchdringt, indem sie die Formen unserer Lebenshaltung und die Formen, in denen wir Befriedigung in persönlichen Beziehungen finden können, kontrolliert. Wir lernen, daß unsere geheimsten, unsere privatesten Probleme aus der Einstellung und dem Verhalten Frauen gegenüber und aus den den Frauen vorgeschriebenen Lebensformen resultieren. Isolation verwandelt Frustration in Zweifel an sich selbst. Die Gruppe dagegen gibt den Frauen eine Perspektive, die zum Handeln führen kann. Durch das Teilen von Erfahrungen lernen sie, daß sie beschissen worden sind und entwickeln jetzt eine kritische Einstellung gegenüber der Gesellschaft, die die Frauenrolle so hart definiert. Doch bevor sie ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen können, messen sie die objektive Lage der Frauen und die vielen Formen, in denen sich die Unterdrückung in ihrem Leben zeigt, verstehen lernen.

”Analysieren”

Nun beginnt eine dritte Phase innerhalb der Gruppe: die Erfahrung, Gründe und Ursachen der Frauenunterdrückung zu analysieren. Diese Analyse wird notwendig aufgrund der Fragen, die sich anhand der grundlegenden, noch unverarbeiteten Ergebnisse der beiden ersten Prozesse stellen. Sie ist eine völlig neue Art und Weise, die Lage der Frauen zu betrachten: Die Entwicklung einer Konzeption, die versucht, nicht mehr nur die ”Warums” und ”Wies” unserer Unterdrückung, sondern auch die Möglichkeiten zur Bekämpfung dieser Unterdrückung näher zu bestimmen. Da das ”Analysieren” nach der Auseinandersetzung mit individuellen Beispielen der Unterdrückung stattfindet, basiert es auf einem feministischen Verständnis der realen Lage der Frau. Diese Periode ist wichtig, weil wir in ihr beginnen, aber unsere persönlichen Erfahrungen hinauszugehen. Nachdem wir durch den Prozeß des Teilens eine Perspektive für unser Leben gewonnen haben, beginnen wir nun, die beschissene Lage der Frau mit mehr Objektivität zu betrachten. Diese neue Methode ist für viele von uns sehr schwierig, da wir als Frauen überwiegend im Bereich der Subjektivität existieren. Wir führen Aufgaben aus, doch selten sind wir ”Herren” der Situation, und wir verstehen nicht, wie und warum etwas funktioniert. Das ”Analysieren” ist ein neues und schwierig zu erlernendes Verfahren. Zum Beispiel bei der Analyse der Rolle, die die Gruppe in unserem Leben spielt, haben wir endlich verstanden, wie Frauen daran gehindert werden, Selbstwertgefühl zu entwickeln. Wir haben aber die Notwendigkeit, eine soziale Identität zu haben, und darüber, wie Frauen gehindert werden, sie zu erlangen, diskutiert. Wir haben die Rolle der Frau als Ehefrau und Mutter analysiert. Wir gelangten zu der Erkenntnis, daß Frauen in eine private Sphäre verwiesen und sowohl finanziell als auch psychisch von ihren Männern abhängig sind. Die Gruppe ist der erste Schritt des Ausbruchs aus der Isolation. Hier besteht - manchmal erstmalig in ihrem Leben - für eine Frau die Möglichkeit, eine von ihrem Mann unabhängige Identität zu entwickeln. Sie kann hier aktiv werden als denkender Mensch statt als Sexualobjekt, Dienerin, Ehefrau oder Mutter. Kurz gesagt, stellt die Gruppe einen sozialen Wert der beteiligten Frauen überhaupt erst her, eine Notwendigkeit, wenn Frauen sich selbst ernst nehmen sollen.

Wir waren gezwungen, uns realistisch mit unserer Unfähigkeit zu begrifflichem Denken auseinanderzusetzen. Diese Unfähigkeit resultiert daraus, daß wir immer wieder bestärkt werden, in der Privatsphäre zu bleiben und uns auf andere Menschen nur auf der personalen Ebene zu beziehen - auch wenn wir berufstätig sind.

Wir üben ein, über unsere subjektiven Reaktionsweisen hinauszugehen und unsere Realität mit anderen Augen anzusehen. Obwohl es nicht leicht für uns ist, sehen wir die absolute Notwendigkeit der Analyse, da unsere Unterdrückung sowohl offensichtliche wie auch subtile Formen annimmt, die sich je nach Klassenzugehörigkeit und Bildungsgrad unterscheiden.

Die Komplexität der Frauensituation erzwingt, daß wir Informationen, die ausserhalb unserer individuellen Erfahrung liegen, in unsere Analyse der Frauenunterdrückung einbeziehen. Das ist auch der Punkt, an dem Bücher und anderes Material wichtig werden.

Wir sind jedoch der Ansicht, daß diese Periode des Analysierens in der Reihenfolge hinter die Prozesse der Selbstdarstellung und des Teilens der Erfahrungen gehört, da die Begriffe, die wir erarbeiten, die Fragen beantworten müssen, die sich aus unseren Problemen als Frauen ergeben.

Es liegt nicht in unserem Interesse, Erfahrungen in eine vorgefaßte Theorie einzupassen, besonders dann nicht, wenn sie von Männern erdacht ist. Nicht nur, weil wir alles männliche Denken der Frauenverachtung verdächtigen müssen, sondern auch, weil wir lernen müssen, unabhängig zu denken. Unser Denken muß aus unseren Fragen erwachsen, wenn es unser eigenes sein soll, und weil wir ein Instrumentarium brauchen, mit Hilfe dessen wir neue Erfahrungen objektiv betrachten und korrekt analysieren können. So wird nach jeder neuen Erfahrung eine Phase des Analysierens folgen, die eine kontinuierlich anwachsende Theorie um neue Ideen bereichert.

”Abstrahieren”

Bevor Entscheidungen über Prioritäten von Problemen und Methoden getroffen werden können, muß eine Synthese der Analysen geleistet werden. Damit das geschehen kann, müssen wir eine gewisse Distanz gegenüber unseren Problemen entwickeln. Wenn wir uns selbst von Handlungszwängen befreien, sind wir fähig, die Begriffe und die Analyse, die wir entwickelt haben, zu gebrauchen und abstrakte Theorie zu diskutieren. Wir sind dann in der Lage, die Totalität der Bedingungen, unter denen wir leben, zu betrachten, wenn wir die Begriffe gebrauchen, die wir in den Diskussionen aber die Vielfalt unserer Unterdrückungsformen formuliert haben. Wir fangen an, eine Utopie (und bis zu einem gewissen Grade auch Erfahrungen davon) unseres menschlichen Potentials zu entwickeln. Das heißt nicht, daß wir wie Männer werden. Vielmehr werden wir zu dem Verständnis gelangen, was wir sein konnten, wenn wir befreit waren von gesellschaftlicher Unterdrückung. Die Erfahrung der Abstraktion sehen wir als die intensivste Form des Freiraums an. Wir beginnen erst jetzt, im Prozeß des Abstrahierens diesen Freiraum zu erfahren, nachdem wir ein Jahr lang uns selbst dargestellt, unsere Erfahrungen geteilt und analysiert haben. Wir erkennen langsam, daß bestimmte Institutionen der Erfüllung menschlicher Bedürfnisse entsprechen oder sie verhindern, wie sie zusammenarbeiten, und daß sie geändert werden messen. Wir entwickeln Vorstellungen darüber, wie die Frauenbewegung beschaffen sein muß, damit sie die Institutionen, die Frauen unterdrücken, abschaffen kann.

Konkret haben wir begonnen, ein Verständnis der Funktion zu entwickeln, die die kleine Gruppe in dieser sozialen Revolution spielen kann, und auch ein Verständnis dessen, was sie nicht leisten kann.

Wir wissen, daß die kleine Gruppe für sich genommen weder eine politische aktions-orientierte Organisation, noch ein Familienersatz sein kann. Aber wir entwickeln hier ein neues Bewußtsein. Und aus dieser erwachsenden Theorie wird ein Programm entstehen, basierend auf einem fundierten Verständnis der Situation der Frau, das seine Wurzeln in unseren eigenen Erfahrungen hat, aber nicht auf diese beschränkt bleibt. Von ihrer intellektuellen Seite her ist dies die spannendste Phase. Es macht Spaß, denken zu lernen und zu verstehen, was mit uns passiert. Unsere Ideen sind befreiende Erfahrungen, gleichzeitig geben sie uns den Rahmen für die Bestimmung unserer Aktionen.

Es ist wichtig, daß alle Prozesse nicht auf bestimmte Zeitabschnitte begrenzt sind. Die Prozesse sind nie vollständig abgeschlossen. Die Selbstdarstellung ist nicht begrenzt auf die Vergangenheit, und man arbeitet sich nicht durch die verschiedenen Prozesse ”hoch”, bis man beim Abstrahieren angelangt ist, um dann überhaupt nichts anderes mehr zu machen. Analysieren und Abstrahieren sind nur dann sinnvolle Prozesse, wenn sie immer rückgekoppelt sind an die aktuellen Erfahrungen und Gefühle der Teilnehmerinnen. Die Reihenfolge ist festgelegt, aber die Prozesse selber gehen weiter.

Der ganze Gruppenprozeß ist keine Therapie, weil wir versuchen, die gesellschaftlichen Ursachen der Erfahrungen, die wir machen, und mögliche Programme für die Abschaffung der ihnen zugrundeliegenden Bedingungen zu erarbeiten. Aber es gibt in der Tat die therapeutische Erfahrung, daß die einzelne Frau momentan entlastet wird von aller Verantwortlichkeit für ihre Situation, und das ist notwendig, damit Frauen selbständig handeln können.

(1970).



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