|
|
Wolfgang Sterneck:
DIE VERDRÄNGTE WIRKLICHKEIT
- DIE INDUSTRIAL CULTURE -
- Antonin Artaud und die Verdrängung -
- Bewusstsein und Information -
- Kunst und Aktion -
- Throbbing Gristle und die Todeskultur -
- S.P.K. und die psychische Veränderung -
- Adolf Wölfli und die Musique Brut -
- Rückschritt und Entwicklung -
Die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich tabuisierten Themen
wie Perversion, Gewalt und Tod gehörte zu den wesentlichen
Merkmalen der Industrial Culture, die Ende der siebziger Jahre als
avantgardistische Strömung gezielt vorgegebene künstlerische
Grenzen durchbrach. Die Darstellung einer verdrängten Wirklichkeit
wurde als Teil einer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen wie
auch mit inneren psychischen Strukturen verstanden, die sich letztlich
gegen die systemtragenden Mechanismen der medialen Manipulation
von Bewusstsein und Bedürfnissen richtete.
ANTONIN ARTAUD UND DIE VERDRÄNGUNG
Die Bands der Industrial Culture arbeiteten im Rahmen ihrer Musik
und Bühnenshows, wie auch in ihren Texten und Erklärungen
durchgängig mit gezielt provokativen und schockierenden Elementen.
Dabei ließen die MusikerInnen kaum ein Tabu aus, das Spektrum
reichte von psychischen Abnormalitäten, Folterszenen, Sezierungen
von Leichen, Hinrichtungen und Serienmorden bis zu extremen Sexualpraktiken,
körperlichen Modifikationen und Tierversuchen. Auch wenn die
Mittel in ihrerer Radikalität eine neue Etappe bildeten, so
lassen sich konzeptionell Parallelen zu einer Reihe von experimentellen
Strömungen des 20. Jahrhunderts erkennen.
Auffallend sind vor allem die inhaltlichen Überschneidungen
zu dem von Antonin Artaud entwickelten Théâtre de la
cruauté, dem Theater der Grausamkeit. Artaud zufolge kann
das Theater erst dann wieder es selbst werden, wenn es dem
Zuschauer der Wahrheit entsprechende Traumniederschläge liefert,
in denen sich sein Hang zum Verbrechen, seine erotischen Besessenheiten,
seine Wildheit, seine Trugbilder, sein utopischer Sinn für
das Leben und die Dinge, ja sogar sein Kannibalismus auf einer nicht
bloß angenommenen und trügerischen, sondern inneren Ebene
Luft machen. Das Theater muss durch alle Mittel ein Infragestellen
nicht nur aller Aspekte der objektiven Außenwelt, sondern
auch der inneren Welt erstreben.(1) Es bedarf nur eines
Austausches des Begriffs des Theaters mit dem der Musik und die
Ausführungen entsprächen einer charakteristischen Beschreibung
des Selbstverständnisses einer Industrialband.
Im Rahmen seines wegweisenden programmatischen Manifests über
die Aufgaben des zeitgenössischen Theaters äußerte
sich Artaud auch konkret zu seinen Vorstellungen einer entsprechenden
Musik: Außerdem regt die Notwendigkeit, durch die Organe
direkt und nachhaltig auf die Sensibilität einzuwirken vom
klanglichen Gesichtspunkt aus zur Suche nach völlig ungewohnten
Klangeigenschaften und Klangschwingungen an, nach Eigenschaften,
die den jetzigen Musikinstrumenten abgehen und die zum Rückgriff
auf alte, vergessene oder zur Erschaffung neuer Instrumente zwingen.
Sie zwingen auch dazu, außerhalb der Musik nach Instrumenten
und Geräten zu suchen, die neuen Umfang der Oktave erzielen,
sowie unerträgliche Klänge oder Geräusche hervorbringen
könnten, die einen verrückt machen.(2)
BEWUSSTSEIN UND INFORMATION
Wie bei Artauds Théâtre de la cruauté gehörte
auch innerhalb der Industrial Culture die Suche nach neuen Ausdrucksformen
zur prägenden Grundlage. Ausgang war dabei das Ziel einer Wiederbelebung
unterdrückter und verdrängter Empfindungen bzw. die unterschwellig
unablässig gegebene Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft.
Wegweisenden Projekten wie Throbbing Gristle, S.P.K. und Cabaret
Voltaire war gemeinsam, dass gräßliche, entsetzliche,
wahnhafte und ungerechte Dinge aus einem Blickwinkel des schwarzen
Humors angegangen werden und die Werte, Normen und Inhalte von einer
perversen, anarchischen Natur ausgehen, die auf einer Post-Holocaust-Moral
basiert.(3) Ihrem Verständnis zufolge sind die Darstellungen
von Gewalt, Zerstörung und Tod längst in Nachrichtensendungen
genauso wie in Spielfilmen als Instrumente einer scheinbar allgegenwärtigen
Bewusstseinsindustrie zu einer Normalität geworden, die bei
regelmäßiger Betrachtung kaum noch eine Gefühlsregung
bewirkt. Durch die ständige und oftmals völlig unreflektierte
mediale Darstellung erscheint Gewalt verfremdet und wird in ihrer
Negativität nicht mehr nachvollzogen, wie auch die gesellschaftlichen
Ursachen kaum in Frage gestellt und angegangen werden. Die Industrial
Culture versuchte diesen Zustand der Verdrängung aufzubrechen,
indem sie aus den Rahmen der ansonsten tolerierten Formen der Darstellung
heraustrat. Was wir tun, ist Gewalt wieder in ihrem eigenen
Kontext zu zeigen. Mit all ihren Schrecken. Dann wird es ungemütlich.
Sie ist nicht mehr etwas, über das man sich nebenbei bei einer
Tasse Kaffee unterhalten kann.(4)
Gezielt wurden bei den entsprechenden Auftritten und Veröffentlichungen
die Grenzen des vorgeblich guten Geschmacks immer wieder überschritten.
Im Grunde ist jedoch nicht die Aufführung von Filmen, die Gewalt
und Zerstörung uneingeschränkt zeigen, geschmacklos, sondern
die Tatsache, dass diese Erscheinungen in den verschiedensten Formen
ein zwangsläufiges Produkt der bestehenden Gesellschaftsordnung
sind und diese Tatsache gezielt verdrängt wird. Letztlich gibt
es keine Begrifflichkeit, die beispielsweise das Verhältnis
zwischen einem Werbespot für Hundefutter und verhungernden
Kindern in den ausgebeuteten Ländern der sogenannten Dritten
Welt ausdrückt. Kein Film und kein Musikstück kann dabei
geschmackloser sein als die alltägliche Realität.
Auch wenn die vorrangige Ausdrucksform der Industrial Culture eine
musikalische war, so verwiesen insbesondere die Mitglieder von Throbbing
Gristle auf den übergreifenden Kontext ihrer Veröffentlichungen
und Konzerte: Wir sind nicht an der Musik als solcher interessiert,
wir interessieren uns für Informationen. Die Macht über
diese Welt liegt im Grunde in den Händen derjenigen, die Zugang
zur größtmöglichen Information haben und diese Information
kontrollieren. All die Paranoia, die durch Politik ausgelöst
wird, resultiert fast ausschließlich aus der Frage, was denn
nun wirklich abläuft, was geheim bleibt, worüber man uns
nichts sagt...(5)
Der innerhalb der Industrial Culture angestrebte Prozess der Überwindung
von verinnerlichten repressiven Strukturen als Teil eines Krieges
um Information(6), der letztlich die Frage nach der Kontrolle
von Bewusstsein und Bedürfnissen einschließt, läßt
sich dabei in drei Phasen unterteilen. Die erste Phase ist bestimmt
von Elementen der Konfrontation, wobei entsprechende Texte, Sounds,
Motive und Filme gezielt provozierend und schockierend eingesetzt
werden. Sie erhalten dadurch den Charakter einer unterdrückten
Information, die nun zugänglich gemacht wird. Dabei steht jedoch
nicht nur die Verbreitung des Inhalts dieser Information im Vordergrund,
sondern insbesondere der weitgehend abgestumpfte Mechanismus der
Wahrnehmung. Diese Abstumpfung soll über eine direkte, besonders
extreme Konfrontation mit der verdrängten Wirklichkeit in all
ihren grausamen, ekelerregenden und unmenschlichen, aber gleichermaßen
alltäglichen Auswüchsen emotional aufgebrochen werden.
Dieser Aufbruch von Mustern des Denkens und Fühlens markiert
die zweite Phase. Das Aufzeigen von zuvor nicht wahrgenommenen Aspekten
der Realität führt dabei zu einer Dekodierung des gesellschaftlich
vorgegebenen manipulierten Bildes der Wirklichkeit. Darin wiederum
wurzelt eine befreiende Veränderung des Bewusstseins als dritte
und abschließende Phase dieses Prozeßes als Grundlage
einer weiterführenden individuellen Entwicklung bzw. als eine
Voraussetzung gesellschaftlicher Veränderung.
KUNST UND AKTION
Schon innerhalb der Performance-Kultur wurde in den späten
sechziger Jahren bei vielen KünstlerInnen eine Tendenz zur
Auseinandersetzungen mit extremen Ausdrucksformen deutlich verstärkt
sichtbar. Die Performance als theatralisch-symbolhafte Kunstform
hatte sich aus dem von John Cage inspirierten Happening entwickelt,
war aber stärker inhaltlich ausgerichtet und verzichtete auf
die Einbeziehung des Publikums. Zu den provozierensten Performance-Projekten
gehörte die 1969 in London gegründete Gruppe Coum Transmissions
zu der Cosey Fanni Tutti, Genesis P-Orridge und später auch
Peter Sleazy Christopherson gehörten. Die Vorführungen
der Gruppe waren gleichermaßen eine Auseinandersetzung mit
den Möglichkeiten der Selbstvermarktung im Rahmen gezielt schockierender
Aktionen wie auch eine Auseinandersetzung mit den eigenen inneren
Grenzen. Wir erforschten unsere eigenen Neurosen und stellten
sie in der Öffentlichkeit dar.(7)
So verspritzten während einer beispielhaften Performance in
einer Kunstgalerie in New York die nackt auftretenden P-Orridge
und Tutti ein Gemisch aus Blut, Milch und Urin im Raum, um es danach
vom Betonboden wieder aufzulecken. Auch das in Folge Erbrochene
nahmen beide wieder zu sich. Bei einem anderen Auftritt wurden Musikstücke
von Charles Manson abgespielt, die von cut-up-artigen Geräuschcollagen
unterbrochen wurden. P-Orridge war an ein Kreuz gebunden und wurde
ausgepeitscht. Tutti steckte sich währenddessen eine brennende
Kerze in die Vagina. Später bespuckten sich die Coum Mitglieder
und leckten sich dann gegenseitig den Körper und dabei insbesondere
die Genitalien ab.
Die Aufführungen von Coum standen in der Tradition des Wiener
Aktionismus, dessen Vertreter im Laufe der sechziger Jahren durch
ihre Aktionen und Manifeste die gesellschaftlichen Normen und speziell
die sexuellen und religiösen Tabus aufbrechen wollten. Darüber
hinaus sollten über eine Freisetzung unterdrückter Gefühle
neue Entfaltungsmöglichkeiten eröffnet werden. Als eine
bewusst mit extremen Ausdrucksformen arbeitende Randerscheinung
der Kunstszene wurde der Wiener Aktionismus in den sechziger Jahre
vehement angegriffen. Inzwischen ist er jedoch längst als anerkannte
Strömung in den Museen moderner Kunst vertreten. Otto Mühl,
einer der bekanntesten Vertreter des Wiener Aktionismus, löste
sich Anfang der siebziger Jahre von der Kunstszene und versuchte
im Rahmen der von ihm gegründeten AA-Kommune verschiedene Vorstellungen
eines befreiten Lebens bzw. eine wirkliche Einheit zwischen Kunst
und Leben zu verwirklichen. Wir leben hier in einem Kunstwerk,
das sich von aller bisherigen Kunst dadurch unterscheidet, dass
es eine wirklich revolutionäre Kunst ist, denn diese Kunst
lebt tatsächlich. Es ist das erste lebende Kunstwerk der Welt
überhaupt.(8) Die Kommune scheiterte aber letztlich
insbesondere an der patriarchalen Führungsrolle Mühls,
die entgegen der theoretischen Ansprüche unangetastet blieb.
THROBBING GRISTLE UND DIE TODESKULTUR
Throbbing Gristle entstand als ein Nachfolgeprojekt von Coum Transmissions.
Erstmals trat die Gruppe um Genesis P-Orridge zur Eröffnung
einer Ausstellung im Institute of Contemporary Arts in London auf,
die unter dem Titel Prostitution die Geschichte Coums
zusammenfaßte. Da es der Gruppe im Vorfeld gelungen war, die
Ausstellung als experimentelles Kulturprojekt staatlich fördern
zu lassen, griff in Folge insbesondere die Boulevardpresse und einige
konservative PolitikerInnen die angebliche Subvention von Obszönitäten
scharf an. Ganz im Sinne von Throbbing Gristle wurde dadurch ein
kontroverses Image etabliert und gleichzeitig die die Popularität
der Gruppe zu gesteigert. Die KünstlerInnen erweiterten die
Ausstellung fast täglich indem sie die neu erschienenen Artikel
einbezogen.
Ein wesentlicher Faktor für das große öffentliche
Interesse war die Tätigkeit des Throbbing-Gristle-Mitglieds
Cosey Fanni Tutti als Modell für pornographische Zeitschriften
und die Ausstellung entsprechender Fotos. Deutlich zum Ausdruck
kam dabei einmal mehr die Widersprüchlichkeit der bürgerlichen
Moralvorstellungen bzw. der wortführenden Medien, welche einerseits
die Nacktfotos aus dem inhaltlichen Zusammenhang der Ausstellung
rissen und verurteilten, andererseits aber gleichzeitig beständig
frauenverachtende Berichte, Anzeigen und Fotos veröffentlichen.
Tutti setzte sich selbst mehrfach in unterschiedlicher Form mit
der Pornoindustrie, den damit verbundenen Zusammenhängen und
ihrer eigenen Person auseinander. Unter anderem zeigte sie in einer
Ausstellung selbstaufgenommene Fotos auf denen sie leichtbekleidet
oder nackt zu sehen war. Während in den Pornozeitschriften
die Frau zum Objekt gemacht wird und sich ihre Darstellung nach
den Bedürfnissen der männlichen Käufer richtet, bestimmte
Tutti auf diesen Fotos selbst über ihre Haltung, ihre Tätigkeit
und ihren Ausdruck. Sie nahm sich dabei ihre Identität zurück
und wurde zum über sich selbst bestimmenden Subjekt.
1976 gründeten Throbbing Gristle unter dem Motto Industrial
music for industrial people das Label Industrial Records,
welches musikalisch und inhaltlich wegweisend für die Industrial
Culture wurde. Bei der Betonung des Einflusses der Band wird jedoch
oft unterschlagen, dass eine musikalische Entwicklung immer eine
Folge der bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen ist. So entsprach
auch die Industrial Culture einer Zeitströmung die in unterschiedlicher
Form einen Ausdruck fand. Charakteristisch für die Veröffentlichungen
der auf Industrial Records veröffentlichten Bands und insbesondere
für die frühen Aufnahmen von Throbbing Gristle waren elektronische,
verzerrte Grundrhythmen und Geräuschcollagen. Mehrfach wurden
dokumentarische Aufnahmen in den Stücken wiedergegeben. Als
erste Veröffentlichung von Throbbing Gristle erschien The
second annual report of Throbbing Gristle in einer Erstauflage
von 785 Stück. Die Aufnahmequalität der LP, die später
mehrfach wiederveröffentlicht wurde, war vergleichsweise schlecht,
bestärkte aber die betont bedrohliche Atmosphäre.
Die Texte des Reports bezogen sich insbesondere auf das Verhältnis
von psychischen Abnormalitäten und Gewalt. So wurde beispielsweise
in Slug Bait die Originalaufnahme eines Gesprächs
zwischen einem Psychiater und einem jugendlichen Serienmörder
dokumentiert und mit Musik unterlegt. In einer anderen Version von
Slug Bait wurden die Beschreibungen des Ritualmords
an der Schauspielerin Sharon Tate und eines äußerst sadistischen
Überfalls auf ein Ehepaar in Rhodesien textlich miteinander
verbunden und verfremdet wiedergegeben. Slug bait. Cant
wait. I crawl up the grass to your window and then open your room
very slow. I walk into your bedroom. Then I look at you with your
seven months pregnant womb. Slug bait. Cant, cant wait.
I get your husband to your front bedroom. I cut his balls off with
my knife. I make him eat them right there. Slug bait. Cant
wait. I look at your heavy stomach. Its already moving a little
bit with your baby. I use the carving knife from your kitchen. I
start to perform the operation. You say: No, no dont do that!
I say: I dont give a cats whiskers. Slug bait. Cant
wait. I pull out your baby. I chew his hand off with my teeth. I
lick him clean. Its obscene. As you bleed to death I kill
it. Im just a wicked boy. Slug bait. Cant, cant
wait. (...).(9)
Derartige Textpassagen von Throbbing Gristle wie auch ein zum Teil
unterschwelliger Zynismus wurzelten letztlich in einer Verzweiflung
gegenüber der scheinbaren Unfähigkeit der Menschen friedlich
zusammenzuleben. Deutlich zum Ausdruck kam diese Haltung in dem
Text von Can the world be as sad as it seems?, in dem
von einer Menschheit gesprochen wird, die sich durch Kriege und
Umweltzerstörungen einem selbstverschuldeten Untergang entgegenbewegt,
eine Rettung aber deshalb auch nicht verdient. Derartige Beschreibungen
ignorierten allerdings die veränderbaren systembedingten Zusammenhänge,
die zu derartigen Entwicklungen führen, wie auch viele andere
Texte oder die auf den Konzerten gezeigten Filme nur begrenzt direkt
Ursachen aufzeigten, sondern in ihrer eigentlichen gesellschaftskritischen
Aussage nur im Gesamtkontext der Industrial Culture zu verstehen
ist.
Anfang der achtziger Jahre schlugen die Mitglieder von Throbbing
Gristle neue Wege ein. Cosey Fanni Tutti und Chris Carter veröffentlichten
unter dem Namen Chris & Cosey mehrere vergleichsweise eingängige
LPs, während sich P-Orridge auf das Projekt Psychic TV und
Peter Sleazy Christopherson später auf die Band Coil konzentrierte.
Unter der Bezeichnung Temple Ov Psychick Youth initiierte P-Orridge
auch einen mit Psychic TV verbundenen kulthaften Zusammenschluß
zu dessen essentiellen Zielen der Aufbau eines Netzwerkes gehörte,
welches sich dem eigenen Verständnis zufolge der Entmystifizierung
von Magie und der Verbreitung von Information widmet. Durch
den gemeinsamen Austausch bildete sich eine Grauzone zwischen den
Polaritäten in der sich für die Teilhabenden eine grenzüberschreitende
Wahrheit kristallisierte. Gradwandelnd fusionierten wir Vergangenheit
und Zukunft, Wildnis und Zivilisation, Spirit und Technologie, Magie
und Wissenschaft.(10)
S.P.K. UND DIE PSYCHISCHE VERÄNDERUNG
Zu den ersten Bands, deren Aufnahmen auf Industrial Records veröffentlicht
wurden, gehörte S.P.K. Die drei Buchstaben wurden in den ersten
Jahren mit fast jeder neuen Veröffentlichung einer anderen
Bedeutung zugeführt, so unter anderem zu Surgical Penis Klinik,
System Planning Korporation und Sozialistisches Patienten Kollektiv.
Bei den späteren Veröffentlichungen wurde dieses Verfahren
aufgegeben und nur noch SPK als Bandname beibehalten. Das Projekt
wurde 1979 in Sydney von Ne/H/iL, einem Patienten einer psychiatrischen
Anstalt, und Graeme Revell, einem in der Einrichtung arbeitenden
Betreuer, gegründet. Entsprechend war auch der Bereich psychischer
Veränderungen in den ersten Jahren das zentrale Thema der Veröffentlichungen.
Der Grundgedanke des Projektes ist es, die Bedeutung verschiedener
psychopathologischer Zustände, insbesondere Schizophrenie,
manisch-depressive Psychose, mentale Retardationen und Paranoia
aufzuzeigen. S.P.K. versucht eine Stimme derer zu sein, die zu einem
langsamen Verfall in den psychiatrischen Krankenhäusern verdammt
sind, ohne sie zu einem Unterhaltungsprodukt zu machen. Unsere Veröffentlichungen
sollen mentale Erfahrungen über den Vermittler Sound nachvollziehbar
machen.(11)
Die musikalischen Ausdrucksformen basierten entsprechend auf einer
Verbindung von monotonen, elektronischen Rhythmen und Geräuschcollagen
in die verzerrte Stimmen und Schreie eingespielt wurden. Nach mehreren
Besetzungswechseln kam es in den achtziger Jahren zu einer Abkehr
von der ursprünglichen inhaltlichen Ausrichtung und zu einem
musikalischen Stilwechsel. Nachdem sich S.P.K. zeitweise dance-orientierten
Stilelementen zuwandte, kam es zu einer Öffnung gegenüber
musikalischen Einflüsse aus verschiedenen Kulturen und Epochen,
die zu mystisch anmutenden Stücken verbunden wurden.
Die Bezeichnung Sozialistisches Patienten Kollektiv nahm Bezug
auf die gleichnamige Organisation in der BRD, deren Mitglieder von
der Erkenntnis ausgingen, dass psychische und psychosomatische Veränderungen
bzw. Krankheiten in den zerstörenden Mechanismen des kapitalistischen
Systems wurzeln. Das Ziel lautete dementsprechend nicht, wie zumeist
in den bestehenden psychiatrischen Einrichtungen, die PatientInnen
soweit zu heilen, dass sie wieder in den kapitalistischen Verwertungsprozess
integriert werden können, sondern vielmehr die systembedingten
Ursachen der Krankheiten aufzuzeigen und anzugreifen. Der
Stein, den jemand in die Kommandozentralen des Kapitals wirft, und
der Nierenstein, an dem ein anderer leidet, sind austauschbar. Schützen
wir uns vor Nierensteinen!(12)
Die Band S.P.K. griff diese Theorien zwar teilweise auf, ging in
ihren Aktionen aber nie über einen theoretischen und musikalischen
Rahmen hinaus. Die Freitode zweier Bandmitglieder, darunter des
Gründungsmitglieds Ne/H/iL, zeigten, dass auch innerhalb der
Band keineswegs ein Klima gegeben war, welches die Probleme psychischer
Veränderungen auffing. Als Graeme Revell in einem Interview
auf die Ursachen angesprochen wurde, antwortete er in einer Weise,
die in ihrer äußerst zynischen Grundhaltung charakteristisch
für viele Projekte der Industrial Culture war und wohl das
skurrile Image der Band unterstreichen sollte: Ich kenne die
Gründe nicht. Sie haben es mir nicht verraten. Und sie haben
mir auch nichts in ihrem Testament vermacht, was ich wirklich ärgerlich
finde.(13)
ADOLF WÖLFLI UND DIE MUSIQUE BRUT
Der S.P.K.-Gründer Graeme Revell veröffentlichte 1986
eine Konzeptplatte mit Vertonungen von Kompositionen von Adolf Wölfli
und knüpfte damit wieder an seine anfängliche Auseinandersetzung
mit dem Bereich psychischer Veränderungen an, wenn auch nun
von einem kunsthistorisch orientierten Ansatz ausgehend. Bis zu
seinem Tod (1930) verbrachte Wölfli über die Hälfte
seines Lebens in der Irrenanstalt in Waldau bei Bern
in der Schweiz. Der äußeren Freiheit beraubt, entwickelte
er im Innern eine auf ihn selbst bezogene Welt voller eigentümlicher
Menschen, Pflanzen und Maschinen mit spezifischen Gesetzmäßigkeiten.
Diese dokumentierte er in einem äußerst umfangreichen
Werk von Zeichnungen, Collagen, Kompositionen und Texten. Allebrah,
du bist Musik. Allebrah, du bist Gott... Allebrah, nun ist Sommer.
Allebrah, du bist krank. Ich heiße Hinterpommer. Drum sende
ich den Schwank. Voll Wunden, Schmerz und Hiebe. Auf hartem Krankenbett
ist Gott ja voller Triebe. Drum wird er heut nicht fett.(14)
In vielen Zeichnungen von Wölfli lassen sich eingebunden in
Ornamenten und Figuren Kompositionen in Form traditioneller sowie
vielfach auch abgewandelter Musiknoten erkennen. In anderen Zeichnungen
bediente sich Wölfli verschiedener Wortsilben und Symbole,
die von ihm kreiert wurden, um einzelne Kompositionen darzustellen.
In schriftlicher Form gab er dazu Anweisungen wie die Musikstücke
im einzelnen aufzuführen seien. Ihm selbst standen als Instrumente
nur einige selbstgebaute Papiertrompeten zur Verfügung, auf
denen er teilweise mehrere Stunden ununterbrochen in seiner Zelle
spielte.
Für das musikalische Werk Wölflis wurde der Begriff der
Musique Brut geprägt. Er ist abgeleitet von der Theorie der
Art Brut, die der französische Maler Jean Dubuffet um 1945
entwickelte. Dubuffet lehnte die gesellschaftlich anerkannten Kunstgattungen
grundsätzlich ab und sah im Gegensatz zu diesen in den Gestaltungen
von Kindern und psychisch Veränderten die eigentliche Kunst,
da diese aus dem Innern heraus spontan, unreflektiert und weitgehend
unmanipuliert entsteht. Dubuffet selbst veröffentlichte mehrere
Aufnahmen improvisierter Musikstücke, die in den frühen
sechziger Jahren in Zusammenarbeit mit dem dänischen Maler
Asgar Jorn entstanden. Ohne besondere musikalische Fähigkeiten
und ohne Kenntnisse über die Entwicklungen der musikalischen
Avantgarde benutzten die beiden Künstler unterschiedlichste
Instrumente, denen sie neue, bisher ungeahnte Töne entlocken
wollten. Die Ergebnisse zeichnete Dubuffet mit einem vergleichsweise
einfachen Tonbandgerät auf. Man nennt eine Aufnahme gut,
wenn die Töne klar und deutlich sind. Doch in der Alltagswelt
unseres Ohres gibt es nicht nur diese Töne, sondern auch -
und sogar in einem weit größerem Maße - sehr unreine,
undeutliche und verwaschene Töne, die von weit herkommen und
mehr oder weniger schlecht zu verstehen sind. Wenn man sich dafür
entscheidet, sie zu ignorieren, dann führt das zu einer Schein-Kunst,
die nur eine bestimmte Kategorie von Tönen zuläßt.
Mein Ziel dagegen war eine Musik, die sich nicht auf eine Auswahl
gründet, sondern die alle Töne einbezieht - und vor allem
die Töne, die man fast unbewusst hört. (...)(15)
Gerade an Adolf Wölfli wird deutlich wie sehr die Charakterisierung
einer Person als Genie oder Wahnsinniger von der jeweiligen Gesellschaft
und dem Herrschaftssytem abhängig ist. Während Wölfli
selbst über die Hälfte seines Lebens von der Gesellschaft
verstoßen in der Psychiatrie verbrachte, wurde er zweiundvierzig
Jahre nach seinem Tod auf der Documenta, der weltweit bedeutendsten
Ausstellung moderner Kunst, als ein Vorläufer der avantgardistischen
Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts gewürdigt und seine
Zelle originalgetreu nachgebaut. Zudem widmeten mehrere KomponistInnen
einzelne Stücke Wölfli oder vertonten wie Revell dessen
musikalische Aufzeichnungen. Deutlich wird an der Person Wölflis
aber auch, dass es neben den öffentlich anerkannten Kunst-
und Musikstilen eine Vielzahl von Entwicklungen gibt, die auf ihre
Weise mindestens ebenso bedeutend sind, aber nie einen größeren
Bekanntheitsgrad erlangen, weil sie keine Möglichkeit haben
ein interessiertes Publikum zu erreichen oder sich der Kulturindustrie
mit ihren Verwertungsmechanismen entziehen.
RÜCKSCHRITT UND ENTWICKLUNG
Auch wenn der Industrial Culture auf Grund ihrer kontroversen Stilmittel
und Aussagen, sowie ihrer in vielfacher Hinsicht schweren Zugänglichkeit
weitgehend eine angemessene Anerkennung als avantgardistische Strömung
versagt blieb, so ist bis heute ihr Einfluß auf zahlreiche
Projekte im Bereich der experimentellen Musik immens. Nur wenige
Post-Industrial-MusikerInnen beabsichtigten allerdings bewusst im
Sinne der ursprünglichen Zielsetzungen von Gruppen wie Throbbing
Gristle abgestumpfte und unterdrückte Empfindungen aufzubrechen.
Die Darstellung von Gewalt verkommt dabei oftmals zum Selbstzweck
und wird zum extremen Ausdruck einer von Konkurrenz bestimmten Gesellschaft
ohne sie in Frage zu stellen. Nicht zuletzt erklärt sich die
augenfällige Dominanz von Männern in den Projekten wie
auch in der Szene in diesem Zusammenhang auch aus dem sozialisationsbedingt
unterschiedlichen Verhältnis zur Gewalt von Frauen und Männern.
Beispielhaft für einen völlig unreflektierten Umgang
mit dem Stilmittel der Provokation sind die Veröffentlichungen
und Konzerte der englischen Band Grey Wolves und ihrer Nebenprojekte.
Die Gruppe greift blasphemisch christliche Themen auf, beschreibt
individuellen Terror als Kunstform und setzt gezielt eine faschistische
Symbolik ein. Unabhängig von der Frage, inwieweit dem tatsächlich
eine faschistische Grundhaltung oder eine vorrangig am Ziel der
Provokation ausgerichtete künstlerische Position zu Grunde
liegt, entspricht eine derartige Praxis letztlich einer stumpfsinnigen
Verhöhnung der Opfer des Faschismus, welche aber auch gleichzeitig
reaktionäre Tendenzen innerhalb der Szene bestärkt.
Die gezielte Provokation der Industrial Culture verkam bei vielen
Bands, die der ersten Generation folgten, zu einer zu einer Ästhetisierung
des Schreckens. Oftmals ging es dabei nur um eine möglichst
abstoßende und schockierende Wirkung, sowie in diesem Zusammenhang
um eine Steigerung der eigenen Popularität. Für viele
HörerInnen bildeten entsprechende Aufnahmen gleichzeitig einen
Soundtrack für eigene regressive Bedürfnisse, ohne jedoch
zu einer Auseinandersetzung mit diesen anzuregen. Letztlich in ihr
Gegenteil gewendet wurde die Zielsetzung der ursprünglichen
Industrial Culture hinsichtlich einer wirklichen Dekodierung manipulativer Erscheinungen
auf dem Weg des Aufbruchs repressiver innerer und äußerer
Strukturen.
Anmerkungen:
(1) Artaud, Antonin / Das Theater der Grausamkeit (Erstes Manifest).
(1932). In: Artaud, Antonin / Das Theater und sein Double. (S. Fischer).
Frankfurt am Main, 1969.
(2) Siehe (1).
(3) Vale, V. und Juno, Andrea (Hrsg.) / Industrial Culture Handbook.
(Re/Search). San Francisco, 1990.
(4) Cosey Fanni Tutti zitiert in: Hartmann, Walter / Show me the
bunker darling. In: Hartmann, Walter und Pott, Gregor (Hrsg.) /
Rock Session 6 - Konsequenz und Rhythmik. (Rowohlt). Reinbeck, 1982.
(5) P-Orridge, Genesis / Die Verbreitung von Information. In: Maeck,
Klaus und Hartmann, Walter (Hrsg.) / Decoder Handbuch. (Trikont
Duisburg). Duisburg,1984.
(6) P-Orridge, Genesis / Der Einsturz des Kontrollsystems. In: Sterneck,
Wolfgang (Hrsg.) / Cybertribe-Visionen. (KomistA / Nachtschatten).
Hanau / Solothurn, 1999.
(7) Coum Transmission / Annihilating Reality. In: Bronson, A. A.
und Gale, Peggy (Hrsg.) / Performance by artists. (Art Metropole).
Toronto, 1979.
(8) Aussage von Otto Mühl in einem TV-Interview; ca. 1972.
(9) Throbbing Gristle / Slug Bait. Auf der LP: The second
annual report of Throbbing Gristle (Industrial). 1976.
(10) Thee Temple Ov Psychick Youth / Der Temple. In: Sterneck, Wolfgang
(Hrsg.) / Cybertribe-Visionen. (KomistA / Nachtschatten). Hanau,
1996.
(11) S.P.K. / Dokument One. (Flugblatt). London, 1981.
(12) Sozialistisches Patienten Kollektiv / Aus der Krankheit eine
Waffe machen. (Trikont). München, 1972.
(13) Aus einem Interview mit Operator in: Chainsaw Magazine Nr.
11. London, 1981.
(14) Adolf Wölfli zitiert auf der LP: Verschiedene / Necropolis,
Amphibians and Reptiles - IV Interpretations of music by Adolf Wölfli.
(Musique Brut). 1986.
(15) Dubuffet, Jean / Musikalische Erfahrungen. (1961). In: Block,
Ursula und Glasmeier, Michael (Hrsg.) / Broken Music - Artists
Recordwork. (DAAD & Gelbe Musik). Berlin, 1989.
Aus dem Buch:
Wolfgang Sterneck:
Der Kampf um die Träume - Musik und Gesellschaft. (1998).
|