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Claus Sterneck / Claus in Iceland
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Wolfgang Sterneck
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Wolfgang Sterneck:

DIE VERDRÄNGTE WIRKLICHKEIT
- DIE INDUSTRIAL CULTURE -

- Antonin Artaud und die Verdrängung -
- Bewusstsein und Information -
- Kunst und Aktion -
- Throbbing Gristle und die Todeskultur -
- S.P.K. und die psychische Veränderung -
- Adolf Wölfli und die Musique Brut -
- Rückschritt und Entwicklung -

Die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich tabuisierten Themen wie Perversion, Gewalt und Tod gehörte zu den wesentlichen Merkmalen der Industrial Culture, die Ende der siebziger Jahre als avantgardistische Strömung gezielt vorgegebene künstlerische Grenzen durchbrach. Die Darstellung einer verdrängten Wirklichkeit wurde als Teil einer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen wie auch mit inneren psychischen Strukturen verstanden, die sich letztlich gegen die systemtragenden Mechanismen der medialen Manipulation von Bewusstsein und Bedürfnissen richtete.

ANTONIN ARTAUD UND DIE VERDRÄNGUNG

Die Bands der Industrial Culture arbeiteten im Rahmen ihrer Musik und Bühnenshows, wie auch in ihren Texten und Erklärungen durchgängig mit gezielt provokativen und schockierenden Elementen. Dabei ließen die MusikerInnen kaum ein Tabu aus, das Spektrum reichte von psychischen Abnormalitäten, Folterszenen, Sezierungen von Leichen, Hinrichtungen und Serienmorden bis zu extremen Sexualpraktiken, körperlichen Modifikationen und Tierversuchen. Auch wenn die Mittel in ihrerer Radikalität eine neue Etappe bildeten, so lassen sich konzeptionell Parallelen zu einer Reihe von experimentellen Strömungen des 20. Jahrhunderts erkennen.

Auffallend sind vor allem die inhaltlichen Überschneidungen zu dem von Antonin Artaud entwickelten Théâtre de la cruauté, dem Theater der Grausamkeit. Artaud zufolge kann das Theater ”erst dann wieder es selbst werden, wenn es dem Zuschauer der Wahrheit entsprechende Traumniederschläge liefert, in denen sich sein Hang zum Verbrechen, seine erotischen Besessenheiten, seine Wildheit, seine Trugbilder, sein utopischer Sinn für das Leben und die Dinge, ja sogar sein Kannibalismus auf einer nicht bloß angenommenen und trügerischen, sondern inneren Ebene Luft machen. Das Theater muss durch alle Mittel ein Infragestellen nicht nur aller Aspekte der objektiven Außenwelt, sondern auch der inneren Welt erstreben.”(1) Es bedarf nur eines Austausches des Begriffs des Theaters mit dem der Musik und die Ausführungen entsprächen einer charakteristischen Beschreibung des Selbstverständnisses einer Industrialband.

Im Rahmen seines wegweisenden programmatischen Manifests über die Aufgaben des zeitgenössischen Theaters äußerte sich Artaud auch konkret zu seinen Vorstellungen einer entsprechenden Musik: ”Außerdem regt die Notwendigkeit, durch die Organe direkt und nachhaltig auf die Sensibilität einzuwirken vom klanglichen Gesichtspunkt aus zur Suche nach völlig ungewohnten Klangeigenschaften und Klangschwingungen an, nach Eigenschaften, die den jetzigen Musikinstrumenten abgehen und die zum Rückgriff auf alte, vergessene oder zur Erschaffung neuer Instrumente zwingen. Sie zwingen auch dazu, außerhalb der Musik nach Instrumenten und Geräten zu suchen, die neuen Umfang der Oktave erzielen, sowie unerträgliche Klänge oder Geräusche hervorbringen könnten, die einen verrückt machen.”(2)

BEWUSSTSEIN UND INFORMATION

Wie bei Artauds Théâtre de la cruauté gehörte auch innerhalb der Industrial Culture die Suche nach neuen Ausdrucksformen zur prägenden Grundlage. Ausgang war dabei das Ziel einer Wiederbelebung unterdrückter und verdrängter Empfindungen bzw. die unterschwellig unablässig gegebene Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft. Wegweisenden Projekten wie Throbbing Gristle, S.P.K. und Cabaret Voltaire war gemeinsam, dass ”gräßliche, entsetzliche, wahnhafte und ungerechte Dinge aus einem Blickwinkel des schwarzen Humors angegangen werden und die Werte, Normen und Inhalte von einer perversen, anarchischen Natur ausgehen, die auf einer Post-Holocaust-Moral basiert.”(3) Ihrem Verständnis zufolge sind die Darstellungen von Gewalt, Zerstörung und Tod längst in Nachrichtensendungen genauso wie in Spielfilmen als Instrumente einer scheinbar allgegenwärtigen Bewusstseinsindustrie zu einer Normalität geworden, die bei regelmäßiger Betrachtung kaum noch eine Gefühlsregung bewirkt. Durch die ständige und oftmals völlig unreflektierte mediale Darstellung erscheint Gewalt verfremdet und wird in ihrer Negativität nicht mehr nachvollzogen, wie auch die gesellschaftlichen Ursachen kaum in Frage gestellt und angegangen werden. Die Industrial Culture versuchte diesen Zustand der Verdrängung aufzubrechen, indem sie aus den Rahmen der ansonsten tolerierten Formen der Darstellung heraustrat. ”Was wir tun, ist Gewalt wieder in ihrem eigenen Kontext zu zeigen. Mit all ihren Schrecken. Dann wird es ungemütlich. Sie ist nicht mehr etwas, über das man sich nebenbei bei einer Tasse Kaffee unterhalten kann.”(4)

Gezielt wurden bei den entsprechenden Auftritten und Veröffentlichungen die Grenzen des vorgeblich guten Geschmacks immer wieder überschritten. Im Grunde ist jedoch nicht die Aufführung von Filmen, die Gewalt und Zerstörung uneingeschränkt zeigen, geschmacklos, sondern die Tatsache, dass diese Erscheinungen in den verschiedensten Formen ein zwangsläufiges Produkt der bestehenden Gesellschaftsordnung sind und diese Tatsache gezielt verdrängt wird. Letztlich gibt es keine Begrifflichkeit, die beispielsweise das Verhältnis zwischen einem Werbespot für Hundefutter und verhungernden Kindern in den ausgebeuteten Ländern der sogenannten Dritten Welt ausdrückt. Kein Film und kein Musikstück kann dabei geschmackloser sein als die alltägliche Realität.

Auch wenn die vorrangige Ausdrucksform der Industrial Culture eine musikalische war, so verwiesen insbesondere die Mitglieder von Throbbing Gristle auf den übergreifenden Kontext ihrer Veröffentlichungen und Konzerte: ”Wir sind nicht an der Musik als solcher interessiert, wir interessieren uns für Informationen. Die Macht über diese Welt liegt im Grunde in den Händen derjenigen, die Zugang zur größtmöglichen Information haben und diese Information kontrollieren. All die Paranoia, die durch Politik ausgelöst wird, resultiert fast ausschließlich aus der Frage, was denn nun wirklich abläuft, was geheim bleibt, worüber man uns nichts sagt...”(5)

Der innerhalb der Industrial Culture angestrebte Prozess der Überwindung von verinnerlichten repressiven Strukturen als Teil eines ”Krieges um Information”(6), der letztlich die Frage nach der Kontrolle von Bewusstsein und Bedürfnissen einschließt, läßt sich dabei in drei Phasen unterteilen. Die erste Phase ist bestimmt von Elementen der Konfrontation, wobei entsprechende Texte, Sounds, Motive und Filme gezielt provozierend und schockierend eingesetzt werden. Sie erhalten dadurch den Charakter einer unterdrückten Information, die nun zugänglich gemacht wird. Dabei steht jedoch nicht nur die Verbreitung des Inhalts dieser Information im Vordergrund, sondern insbesondere der weitgehend abgestumpfte Mechanismus der Wahrnehmung. Diese Abstumpfung soll über eine direkte, besonders extreme Konfrontation mit der verdrängten Wirklichkeit in all ihren grausamen, ekelerregenden und unmenschlichen, aber gleichermaßen alltäglichen Auswüchsen emotional aufgebrochen werden. Dieser Aufbruch von Mustern des Denkens und Fühlens markiert die zweite Phase. Das Aufzeigen von zuvor nicht wahrgenommenen Aspekten der Realität führt dabei zu einer Dekodierung des gesellschaftlich vorgegebenen manipulierten Bildes der Wirklichkeit. Darin wiederum wurzelt eine befreiende Veränderung des Bewusstseins als dritte und abschließende Phase dieses Prozeßes als Grundlage einer weiterführenden individuellen Entwicklung bzw. als eine Voraussetzung gesellschaftlicher Veränderung.

KUNST UND AKTION

Schon innerhalb der Performance-Kultur wurde in den späten sechziger Jahren bei vielen KünstlerInnen eine Tendenz zur Auseinandersetzungen mit extremen Ausdrucksformen deutlich verstärkt sichtbar. Die Performance als theatralisch-symbolhafte Kunstform hatte sich aus dem von John Cage inspirierten Happening entwickelt, war aber stärker inhaltlich ausgerichtet und verzichtete auf die Einbeziehung des Publikums. Zu den provozierensten Performance-Projekten gehörte die 1969 in London gegründete Gruppe Coum Transmissions zu der Cosey Fanni Tutti, Genesis P-Orridge und später auch Peter Sleazy Christopherson gehörten. Die Vorführungen der Gruppe waren gleichermaßen eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Selbstvermarktung im Rahmen gezielt schockierender Aktionen wie auch eine Auseinandersetzung mit den eigenen inneren Grenzen. ”Wir erforschten unsere eigenen Neurosen und stellten sie in der Öffentlichkeit dar.”(7)

So verspritzten während einer beispielhaften Performance in einer Kunstgalerie in New York die nackt auftretenden P-Orridge und Tutti ein Gemisch aus Blut, Milch und Urin im Raum, um es danach vom Betonboden wieder aufzulecken. Auch das in Folge Erbrochene nahmen beide wieder zu sich. Bei einem anderen Auftritt wurden Musikstücke von Charles Manson abgespielt, die von cut-up-artigen Geräuschcollagen unterbrochen wurden. P-Orridge war an ein Kreuz gebunden und wurde ausgepeitscht. Tutti steckte sich währenddessen eine brennende Kerze in die Vagina. Später bespuckten sich die Coum Mitglieder und leckten sich dann gegenseitig den Körper und dabei insbesondere die Genitalien ab.

Die Aufführungen von Coum standen in der Tradition des Wiener Aktionismus, dessen Vertreter im Laufe der sechziger Jahren durch ihre Aktionen und Manifeste die gesellschaftlichen Normen und speziell die sexuellen und religiösen Tabus aufbrechen wollten. Darüber hinaus sollten über eine Freisetzung unterdrückter Gefühle neue Entfaltungsmöglichkeiten eröffnet werden. Als eine bewusst mit extremen Ausdrucksformen arbeitende Randerscheinung der Kunstszene wurde der Wiener Aktionismus in den sechziger Jahre vehement angegriffen. Inzwischen ist er jedoch längst als anerkannte Strömung in den Museen moderner Kunst vertreten. Otto Mühl, einer der bekanntesten Vertreter des Wiener Aktionismus, löste sich Anfang der siebziger Jahre von der Kunstszene und versuchte im Rahmen der von ihm gegründeten AA-Kommune verschiedene Vorstellungen eines befreiten Lebens bzw. eine wirkliche Einheit zwischen Kunst und Leben zu verwirklichen. ”Wir leben hier in einem Kunstwerk, das sich von aller bisherigen Kunst dadurch unterscheidet, dass es eine wirklich revolutionäre Kunst ist, denn diese Kunst lebt tatsächlich. Es ist das erste lebende Kunstwerk der Welt überhaupt.”(8) Die Kommune scheiterte aber letztlich insbesondere an der patriarchalen Führungsrolle Mühls, die entgegen der theoretischen Ansprüche unangetastet blieb.

THROBBING GRISTLE UND DIE TODESKULTUR

Throbbing Gristle entstand als ein Nachfolgeprojekt von Coum Transmissions. Erstmals trat die Gruppe um Genesis P-Orridge zur Eröffnung einer Ausstellung im Institute of Contemporary Arts in London auf, die unter dem Titel ”Prostitution” die Geschichte Coums zusammenfaßte. Da es der Gruppe im Vorfeld gelungen war, die Ausstellung als experimentelles Kulturprojekt staatlich fördern zu lassen, griff in Folge insbesondere die Boulevardpresse und einige konservative PolitikerInnen die angebliche Subvention von Obszönitäten scharf an. Ganz im Sinne von Throbbing Gristle wurde dadurch ein kontroverses Image etabliert und gleichzeitig die die Popularität der Gruppe zu gesteigert. Die KünstlerInnen erweiterten die Ausstellung fast täglich indem sie die neu erschienenen Artikel einbezogen.

Ein wesentlicher Faktor für das große öffentliche Interesse war die Tätigkeit des Throbbing-Gristle-Mitglieds Cosey Fanni Tutti als Modell für pornographische Zeitschriften und die Ausstellung entsprechender Fotos. Deutlich zum Ausdruck kam dabei einmal mehr die Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Moralvorstellungen bzw. der wortführenden Medien, welche einerseits die Nacktfotos aus dem inhaltlichen Zusammenhang der Ausstellung rissen und verurteilten, andererseits aber gleichzeitig beständig frauenverachtende Berichte, Anzeigen und Fotos veröffentlichen. Tutti setzte sich selbst mehrfach in unterschiedlicher Form mit der Pornoindustrie, den damit verbundenen Zusammenhängen und ihrer eigenen Person auseinander. Unter anderem zeigte sie in einer Ausstellung selbstaufgenommene Fotos auf denen sie leichtbekleidet oder nackt zu sehen war. Während in den Pornozeitschriften die Frau zum Objekt gemacht wird und sich ihre Darstellung nach den Bedürfnissen der männlichen Käufer richtet, bestimmte Tutti auf diesen Fotos selbst über ihre Haltung, ihre Tätigkeit und ihren Ausdruck. Sie nahm sich dabei ihre Identität zurück und wurde zum über sich selbst bestimmenden Subjekt.

1976 gründeten Throbbing Gristle unter dem Motto ”Industrial music for industrial people” das Label Industrial Records, welches musikalisch und inhaltlich wegweisend für die Industrial Culture wurde. Bei der Betonung des Einflusses der Band wird jedoch oft unterschlagen, dass eine musikalische Entwicklung immer eine Folge der bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen ist. So entsprach auch die Industrial Culture einer Zeitströmung die in unterschiedlicher Form einen Ausdruck fand. Charakteristisch für die Veröffentlichungen der auf Industrial Records veröffentlichten Bands und insbesondere für die frühen Aufnahmen von Throbbing Gristle waren elektronische, verzerrte Grundrhythmen und Geräuschcollagen. Mehrfach wurden dokumentarische Aufnahmen in den Stücken wiedergegeben. Als erste Veröffentlichung von Throbbing Gristle erschien ”The second annual report of Throbbing Gristle” in einer Erstauflage von 785 Stück. Die Aufnahmequalität der LP, die später mehrfach wiederveröffentlicht wurde, war vergleichsweise schlecht, bestärkte aber die betont bedrohliche Atmosphäre.

Die Texte des Reports bezogen sich insbesondere auf das Verhältnis von psychischen Abnormalitäten und Gewalt. So wurde beispielsweise in ”Slug Bait” die Originalaufnahme eines Gesprächs zwischen einem Psychiater und einem jugendlichen Serienmörder dokumentiert und mit Musik unterlegt. In einer anderen Version von ”Slug Bait” wurden die Beschreibungen des Ritualmords an der Schauspielerin Sharon Tate und eines äußerst sadistischen Überfalls auf ein Ehepaar in Rhodesien textlich miteinander verbunden und verfremdet wiedergegeben. ”Slug bait. Can’t wait. I crawl up the grass to your window and then open your room very slow. I walk into your bedroom. Then I look at you with your seven months pregnant womb. Slug bait. Can’t, can’t wait. I get your husband to your front bedroom. I cut his balls off with my knife. I make him eat them right there. Slug bait. Can’t wait. I look at your heavy stomach. It’s already moving a little bit with your baby. I use the carving knife from your kitchen. I start to perform the operation. You say: No, no don’t do that! I say: I don’t give a cats whiskers. Slug bait. Can’t wait. I pull out your baby. I chew his hand off with my teeth. I lick him clean. It’s obscene. As you bleed to death I kill it. I’m just a wicked boy. Slug bait. Can’t, can’t wait. (...).”(9)

Derartige Textpassagen von Throbbing Gristle wie auch ein zum Teil unterschwelliger Zynismus wurzelten letztlich in einer Verzweiflung gegenüber der scheinbaren Unfähigkeit der Menschen friedlich zusammenzuleben. Deutlich zum Ausdruck kam diese Haltung in dem Text von ”Can the world be as sad as it seems?”, in dem von einer Menschheit gesprochen wird, die sich durch Kriege und Umweltzerstörungen einem selbstverschuldeten Untergang entgegenbewegt, eine Rettung aber deshalb auch nicht verdient. Derartige Beschreibungen ignorierten allerdings die veränderbaren systembedingten Zusammenhänge, die zu derartigen Entwicklungen führen, wie auch viele andere Texte oder die auf den Konzerten gezeigten Filme nur begrenzt direkt Ursachen aufzeigten, sondern in ihrer eigentlichen gesellschaftskritischen Aussage nur im Gesamtkontext der Industrial Culture zu verstehen ist.

Anfang der achtziger Jahre schlugen die Mitglieder von Throbbing Gristle neue Wege ein. Cosey Fanni Tutti und Chris Carter veröffentlichten unter dem Namen Chris & Cosey mehrere vergleichsweise eingängige LPs, während sich P-Orridge auf das Projekt Psychic TV und Peter Sleazy Christopherson später auf die Band Coil konzentrierte. Unter der Bezeichnung Temple Ov Psychick Youth initiierte P-Orridge auch einen mit Psychic TV verbundenen kulthaften Zusammenschluß zu dessen essentiellen Zielen der Aufbau eines Netzwerkes gehörte, welches sich dem eigenen Verständnis zufolge der Entmystifizierung von Magie und der Verbreitung von Information widmet. ”Durch den gemeinsamen Austausch bildete sich eine Grauzone zwischen den Polaritäten in der sich für die Teilhabenden eine grenzüberschreitende Wahrheit kristallisierte. Gradwandelnd fusionierten wir Vergangenheit und Zukunft, Wildnis und Zivilisation, Spirit und Technologie, Magie und Wissenschaft.”(10)

S.P.K. UND DIE PSYCHISCHE VERÄNDERUNG

Zu den ersten Bands, deren Aufnahmen auf Industrial Records veröffentlicht wurden, gehörte S.P.K. Die drei Buchstaben wurden in den ersten Jahren mit fast jeder neuen Veröffentlichung einer anderen Bedeutung zugeführt, so unter anderem zu Surgical Penis Klinik, System Planning Korporation und Sozialistisches Patienten Kollektiv. Bei den späteren Veröffentlichungen wurde dieses Verfahren aufgegeben und nur noch SPK als Bandname beibehalten. Das Projekt wurde 1979 in Sydney von Ne/H/iL, einem Patienten einer psychiatrischen Anstalt, und Graeme Revell, einem in der Einrichtung arbeitenden Betreuer, gegründet. Entsprechend war auch der Bereich psychischer Veränderungen in den ersten Jahren das zentrale Thema der Veröffentlichungen. ”Der Grundgedanke des Projektes ist es, die Bedeutung verschiedener psychopathologischer Zustände, insbesondere Schizophrenie, manisch-depressive Psychose, mentale Retardationen und Paranoia aufzuzeigen. S.P.K. versucht eine Stimme derer zu sein, die zu einem langsamen Verfall in den psychiatrischen Krankenhäusern verdammt sind, ohne sie zu einem Unterhaltungsprodukt zu machen. Unsere Veröffentlichungen sollen mentale Erfahrungen über den Vermittler Sound nachvollziehbar machen.”(11)

Die musikalischen Ausdrucksformen basierten entsprechend auf einer Verbindung von monotonen, elektronischen Rhythmen und Geräuschcollagen in die verzerrte Stimmen und Schreie eingespielt wurden. Nach mehreren Besetzungswechseln kam es in den achtziger Jahren zu einer Abkehr von der ursprünglichen inhaltlichen Ausrichtung und zu einem musikalischen Stilwechsel. Nachdem sich S.P.K. zeitweise dance-orientierten Stilelementen zuwandte, kam es zu einer Öffnung gegenüber musikalischen Einflüsse aus verschiedenen Kulturen und Epochen, die zu mystisch anmutenden Stücken verbunden wurden.

Die Bezeichnung Sozialistisches Patienten Kollektiv nahm Bezug auf die gleichnamige Organisation in der BRD, deren Mitglieder von der Erkenntnis ausgingen, dass psychische und psychosomatische Veränderungen bzw. Krankheiten in den zerstörenden Mechanismen des kapitalistischen Systems wurzeln. Das Ziel lautete dementsprechend nicht, wie zumeist in den bestehenden psychiatrischen Einrichtungen, die PatientInnen soweit zu heilen, dass sie wieder in den kapitalistischen Verwertungsprozess integriert werden können, sondern vielmehr die systembedingten Ursachen der Krankheiten aufzuzeigen und anzugreifen. ”Der Stein, den jemand in die Kommandozentralen des Kapitals wirft, und der Nierenstein, an dem ein anderer leidet, sind austauschbar. Schützen wir uns vor Nierensteinen!”(12)

Die Band S.P.K. griff diese Theorien zwar teilweise auf, ging in ihren Aktionen aber nie über einen theoretischen und musikalischen Rahmen hinaus. Die Freitode zweier Bandmitglieder, darunter des Gründungsmitglieds Ne/H/iL, zeigten, dass auch innerhalb der Band keineswegs ein Klima gegeben war, welches die Probleme psychischer Veränderungen auffing. Als Graeme Revell in einem Interview auf die Ursachen angesprochen wurde, antwortete er in einer Weise, die in ihrer äußerst zynischen Grundhaltung charakteristisch für viele Projekte der Industrial Culture war und wohl das skurrile Image der Band unterstreichen sollte: ”Ich kenne die Gründe nicht. Sie haben es mir nicht verraten. Und sie haben mir auch nichts in ihrem Testament vermacht, was ich wirklich ärgerlich finde.”(13)

ADOLF WÖLFLI UND DIE MUSIQUE BRUT

Der S.P.K.-Gründer Graeme Revell veröffentlichte 1986 eine Konzeptplatte mit Vertonungen von Kompositionen von Adolf Wölfli und knüpfte damit wieder an seine anfängliche Auseinandersetzung mit dem Bereich psychischer Veränderungen an, wenn auch nun von einem kunsthistorisch orientierten Ansatz ausgehend. Bis zu seinem Tod (1930) verbrachte Wölfli über die Hälfte seines Lebens in der ”Irrenanstalt” in Waldau bei Bern in der Schweiz. Der äußeren Freiheit beraubt, entwickelte er im Innern eine auf ihn selbst bezogene Welt voller eigentümlicher Menschen, Pflanzen und Maschinen mit spezifischen Gesetzmäßigkeiten. Diese dokumentierte er in einem äußerst umfangreichen Werk von Zeichnungen, Collagen, Kompositionen und Texten. ”Allebrah, du bist Musik. Allebrah, du bist Gott... Allebrah, nun ist Sommer. Allebrah, du bist krank. Ich heiße Hinterpommer. Drum sende ich den Schwank. Voll Wunden, Schmerz und Hiebe. Auf hartem Krankenbett ist Gott ja voller Triebe. Drum wird er heut nicht fett.”(14)

In vielen Zeichnungen von Wölfli lassen sich eingebunden in Ornamenten und Figuren Kompositionen in Form traditioneller sowie vielfach auch abgewandelter Musiknoten erkennen. In anderen Zeichnungen bediente sich Wölfli verschiedener Wortsilben und Symbole, die von ihm kreiert wurden, um einzelne Kompositionen darzustellen. In schriftlicher Form gab er dazu Anweisungen wie die Musikstücke im einzelnen aufzuführen seien. Ihm selbst standen als Instrumente nur einige selbstgebaute Papiertrompeten zur Verfügung, auf denen er teilweise mehrere Stunden ununterbrochen in seiner Zelle spielte.

Für das musikalische Werk Wölflis wurde der Begriff der Musique Brut geprägt. Er ist abgeleitet von der Theorie der Art Brut, die der französische Maler Jean Dubuffet um 1945 entwickelte. Dubuffet lehnte die gesellschaftlich anerkannten Kunstgattungen grundsätzlich ab und sah im Gegensatz zu diesen in den Gestaltungen von Kindern und psychisch Veränderten die eigentliche Kunst, da diese aus dem Innern heraus spontan, unreflektiert und weitgehend unmanipuliert entsteht. Dubuffet selbst veröffentlichte mehrere Aufnahmen improvisierter Musikstücke, die in den frühen sechziger Jahren in Zusammenarbeit mit dem dänischen Maler Asgar Jorn entstanden. Ohne besondere musikalische Fähigkeiten und ohne Kenntnisse über die Entwicklungen der musikalischen Avantgarde benutzten die beiden Künstler unterschiedlichste Instrumente, denen sie ”neue, bisher ungeahnte Töne entlocken” wollten. Die Ergebnisse zeichnete Dubuffet mit einem vergleichsweise einfachen Tonbandgerät auf. ”Man nennt eine Aufnahme gut, wenn die Töne klar und deutlich sind. Doch in der Alltagswelt unseres Ohres gibt es nicht nur diese Töne, sondern auch - und sogar in einem weit größerem Maße - sehr unreine, undeutliche und verwaschene Töne, die von weit herkommen und mehr oder weniger schlecht zu verstehen sind. Wenn man sich dafür entscheidet, sie zu ignorieren, dann führt das zu einer Schein-Kunst, die nur eine bestimmte Kategorie von Tönen zuläßt. Mein Ziel dagegen war eine Musik, die sich nicht auf eine Auswahl gründet, sondern die alle Töne einbezieht - und vor allem die Töne, die man fast unbewusst hört. (...)”(15)

Gerade an Adolf Wölfli wird deutlich wie sehr die Charakterisierung einer Person als Genie oder Wahnsinniger von der jeweiligen Gesellschaft und dem Herrschaftssytem abhängig ist. Während Wölfli selbst über die Hälfte seines Lebens von der Gesellschaft verstoßen in der Psychiatrie verbrachte, wurde er zweiundvierzig Jahre nach seinem Tod auf der Documenta, der weltweit bedeutendsten Ausstellung moderner Kunst, als ein Vorläufer der avantgardistischen Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts gewürdigt und seine Zelle originalgetreu nachgebaut. Zudem widmeten mehrere KomponistInnen einzelne Stücke Wölfli oder vertonten wie Revell dessen musikalische Aufzeichnungen. Deutlich wird an der Person Wölflis aber auch, dass es neben den öffentlich anerkannten Kunst- und Musikstilen eine Vielzahl von Entwicklungen gibt, die auf ihre Weise mindestens ebenso bedeutend sind, aber nie einen größeren Bekanntheitsgrad erlangen, weil sie keine Möglichkeit haben ein interessiertes Publikum zu erreichen oder sich der Kulturindustrie mit ihren Verwertungsmechanismen entziehen.

RÜCKSCHRITT UND ENTWICKLUNG

Auch wenn der Industrial Culture auf Grund ihrer kontroversen Stilmittel und Aussagen, sowie ihrer in vielfacher Hinsicht schweren Zugänglichkeit weitgehend eine angemessene Anerkennung als avantgardistische Strömung versagt blieb, so ist bis heute ihr Einfluß auf zahlreiche Projekte im Bereich der experimentellen Musik immens. Nur wenige Post-Industrial-MusikerInnen beabsichtigten allerdings bewusst im Sinne der ursprünglichen Zielsetzungen von Gruppen wie Throbbing Gristle abgestumpfte und unterdrückte Empfindungen aufzubrechen. Die Darstellung von Gewalt verkommt dabei oftmals zum Selbstzweck und wird zum extremen Ausdruck einer von Konkurrenz bestimmten Gesellschaft ohne sie in Frage zu stellen. Nicht zuletzt erklärt sich die augenfällige Dominanz von Männern in den Projekten wie auch in der Szene in diesem Zusammenhang auch aus dem sozialisationsbedingt unterschiedlichen Verhältnis zur Gewalt von Frauen und Männern.

Beispielhaft für einen völlig unreflektierten Umgang mit dem Stilmittel der Provokation sind die Veröffentlichungen und Konzerte der englischen Band Grey Wolves und ihrer Nebenprojekte. Die Gruppe greift blasphemisch christliche Themen auf, beschreibt individuellen Terror als Kunstform und setzt gezielt eine faschistische Symbolik ein. Unabhängig von der Frage, inwieweit dem tatsächlich eine faschistische Grundhaltung oder eine vorrangig am Ziel der Provokation ausgerichtete künstlerische Position zu Grunde liegt, entspricht eine derartige Praxis letztlich einer stumpfsinnigen Verhöhnung der Opfer des Faschismus, welche aber auch gleichzeitig reaktionäre Tendenzen innerhalb der Szene bestärkt.

Die gezielte Provokation der Industrial Culture verkam bei vielen Bands, die der ersten Generation folgten, zu einer zu einer Ästhetisierung des Schreckens. Oftmals ging es dabei nur um eine möglichst abstoßende und schockierende Wirkung, sowie in diesem Zusammenhang um eine Steigerung der eigenen Popularität. Für viele HörerInnen bildeten entsprechende Aufnahmen gleichzeitig einen Soundtrack für eigene regressive Bedürfnisse, ohne jedoch zu einer Auseinandersetzung mit diesen anzuregen. Letztlich in ihr Gegenteil gewendet wurde die Zielsetzung der ursprünglichen Industrial Culture hinsichtlich einer wirklichen Dekodierung manipulativer Erscheinungen auf dem Weg des Aufbruchs repressiver innerer und äußerer Strukturen.

Anmerkungen:
(1) Artaud, Antonin / Das Theater der Grausamkeit (Erstes Manifest). (1932). In: Artaud, Antonin / Das Theater und sein Double. (S. Fischer). Frankfurt am Main, 1969.
(2) Siehe (1).
(3) Vale, V. und Juno, Andrea (Hrsg.) / Industrial Culture Handbook. (Re/Search). San Francisco, 1990.
(4) Cosey Fanni Tutti zitiert in: Hartmann, Walter / Show me the bunker darling. In: Hartmann, Walter und Pott, Gregor (Hrsg.) / Rock Session 6 - Konsequenz und Rhythmik. (Rowohlt). Reinbeck, 1982.
(5) P-Orridge, Genesis / Die Verbreitung von Information. In: Maeck, Klaus und Hartmann, Walter (Hrsg.) / Decoder Handbuch. (Trikont Duisburg). Duisburg,1984.
(6) P-Orridge, Genesis / Der Einsturz des Kontrollsystems. In: Sterneck, Wolfgang (Hrsg.) / Cybertribe-Visionen. (KomistA / Nachtschatten). Hanau / Solothurn, 1999.
(7) Coum Transmission / Annihilating Reality. In: Bronson, A. A. und Gale, Peggy (Hrsg.) / Performance by artists. (Art Metropole). Toronto, 1979.
(8) Aussage von Otto Mühl in einem TV-Interview; ca. 1972.
(9) Throbbing Gristle / Slug Bait. Auf der LP: ”The second annual report of Throbbing Gristle” (Industrial). 1976.
(10) Thee Temple Ov Psychick Youth / Der Temple. In: Sterneck, Wolfgang (Hrsg.) / Cybertribe-Visionen. (KomistA / Nachtschatten). Hanau, 1996.
(11) S.P.K. / Dokument One. (Flugblatt). London, 1981.
(12) Sozialistisches Patienten Kollektiv / Aus der Krankheit eine Waffe machen. (Trikont). München, 1972.
(13) Aus einem Interview mit Operator in: Chainsaw Magazine Nr. 11. London, 1981.
(14) Adolf Wölfli zitiert auf der LP: Verschiedene / Necropolis, Amphibians and Reptiles - IV Interpretations of music by Adolf Wölfli. (Musique Brut). 1986.
(15) Dubuffet, Jean / Musikalische Erfahrungen. (1961). In: Block, Ursula und Glasmeier, Michael (Hrsg.) / Broken Music - Artists’ Recordwork. (DAAD & Gelbe Musik). Berlin, 1989.

Aus dem Buch:
Wolfgang Sterneck:
Der Kampf um die Träume - Musik und Gesellschaft. (1998).



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