Sinan:
DER INNERE FLUSS - TANZ UND TRANCE
Kulturen aller Zeiten haben Tanz und Musik im Rahmen von rituellen
Handlungen genutzt, um den Menschen zu ermöglichen in einen
Zustand der Trance zu gelangen und dadurch in andere Bewußtseinsstufen
überzutreten. Während des trancehaften Tanzes bewegt sich
der Körper weitgehend automatisch ohne Kontrolle durch das
Bewußtsein. Gleichzeitig lösen sich körperliche
und geistige Spannungen, zudem werden die sinnlichen Wahrnehmungen
intensiver. Im Anschluß an eine völlige Ekstase ist das
Erinnerungsvermögen weitgehend ausgeschaltet. Reisen ins tiefste
Innere sind genauso möglich, wie die Erfahrung kosmischer Unendlichkeit,
wobei in vielen Kulturen von einer Verbindung mit Göttern und
Göttinnen ausgegangen wird.
Beispielhaft sind Rituale des haitianischen Voodoo-Kultes bei denen
sich die TänzerInnen zu den Klängen monotoner Trommelrhythmen
in Trance versetzen. Dem rituellen Verständnis zufolge treten
dabei spirituelle Wesen in den Körper ein und ergreifen von
ihm für eine Zeit Besitz. Die ekstatischen Bewegungen der TänzerInnen,
die teilweise im Normalzustand von ihnen nicht auszuführen
sind und für Außenstehende völlig chaotisch wirken,
entsprechen den archetypischen Charakterzügen der einzelnen
Geistwesen.
In Indonesien finden an bestimmten Festtagen die traditionellen
Pferdchentänze statt, deren Ursprung unbekannt ist. Zu Trommel-
und Gongschlägen ahmen dabei mehrere Männer, die seit
ihrer Kindheit speziell für die Rituale ausgebildet wurden,
Pferde nach. Schon nach einigen Minuten treten die Tänzer in
einen Trance-Zustand und übernehmen völlig die Rolle des
Pferdes. Ekstatisch springen sie umher, geben Laute von sich und
essen Gras. Die bewußte Kontrolle über den eigenen Körper
ist dabei genauso ausgeschaltet, wie das Schmerzempfinden. Die Tänzer
reagieren weder auf Stiche noch auf Berührungen mit heißen
Gegenständen, vielmehr sind sie sogar in der Lage Glasscherben
zu schlucken ohne sich zu verletzen.
Eine wichtige Rolle nimmt die Trance auch in vielen schamanischen
Ritualen ein. Gezielt wird dabei die Freisetzung von zuvor ungenutzten
Energien, sowie der veränderte Zugang zum Unbewußten
zur Heilung von Krankheiten und Gebrechen genutzt. Teilweise werden
dadurch Ergebnisse erzielt die mit dem Wissen der westlichen Schulmedizin
nicht nachvollziehbar sind.
Als Wegbereiter für den Übergang in einen trancehaften
Zustand werden zumeist gleichmäßige, lang andauernde
Trommelrhythmen genutzt, deren Schwingungsfrequenzen im Gehirn Mechanismen
auslösen, die mit denen während der Meditation und des
traumhaften Schlafes verwandt sind. Zudem werden im Gehirn während
des Tanzes Endorphine freigesetzt, die wie Opiate wirken und ein
euphorisches Glücksgefühl, sowie zum Teil auch eine Unempfindlichkeit
gegenüber Schmerzen auslösen.
In der westlichen Kultur ist das Erleben tranceartiger Zustände,
die sich der Kontrolle durch den Verstand entziehen, weitgehend
tabuisiert. Die vielfältigen Traditionen von Tanz- und Trance-Ritualen,
wie sie auch in Europa lange bestanden, wurde von den christlichen
Kirchen als Ausdruck heidnischer Kulte und vermeintlich dämonischer
Mächte unterdrückt und weitgehend ausgelöscht.
Gegenwärtig läßt sich eine Verbindung von Tanz
und Trance nur in einigen subkulturellen Strömungen erkennen.
Eine besondere Rolle nimmt dabei die Techno-Kultur der neunziger
Jahre ein, deren Parties und Raves in einigen Fällen mit großen
Trance-Ritualen vergleichbar sind. Gerade in der betont rational
und funktionell ausgerichteten westlichen Kultur entspricht sie
der zumeist unerfüllten Sehnsucht nach ekstatischen Erfahrungen.
Den letztlich lustfeindlichen gesellschaftlichen Normen wurde zum
Teil ein verändertes Verhältnis zu Körper und Bewußtsein
entgegengesetzt, welches sich insbesondere im Tanz niederschlägt.
Wenn eine gute Party ihren Höhepunkt erlangt, dann wird der
Veranstaltungsort zu einem Energiefeld, das zwar nicht greifbar
oder sichtbar, aber dennoch sinnlich für alle Anwesenden spürbar
ist. Die Körper der TänzerInnen bewegen sich automatisch
zur monotonen Rhythmik der loopartigen Musik, während sich
die Wahrnehmung völlig auf dem Moment konzentriert. Im Innern
breitet sich eine positive Leere aus, die nur durch den Rhythmus
ausgefüllt wird. Ein Gefühl der Gemeinsamkeit und der
Verbindung bestimmt die Empfindungen. Die Musik und die Farben werden
zu einer Einheit. Überall wird ekstatisch getanzt, alles befindet
sich im Fluß, die Grenzen zwischen der Tanzfläche und
den übrigen Bereichen verschwinden.
|