|
|
Autorenkollektiv:
AGGRESSION UND SEXUALITÄT
Die psychoanalytische Triebtheorie ist zweiseitig bestimmt. Jeder
Trieb hat seinen entsprechenden Gegentrieb. Sigmund Freud teilt
sie in zwei Grundtriebe ein, Lebens- und Todestrieb:Nach langem
Zögern und Schwanken haben wir uns entschlossen, nur zwei Grundtriebe
anzunehmen, den Eros und den Destruktionstrieb. (...) Das Ziel des
ersten ist, immer größere Einheiten herzustellen und
so zu erhalten, also Bindung, das Ziel des anderen im Gegenteil,
Zusammenhänge aufzulösen und so die Dinge zu zerstören.
Beim Destruktionstrieb können wir daran denken, daß als
sein letztes Ziel erscheint, das Lebende in den anorganischen Zustand
zu überführen. Wir heißen ihn darum auch Todestrieb.(1)
Diese Einteilung führte zu der irrigen Annahme, daß
der Todestrieb, der von Freud auch Destruktions- und Aggressionstrieb
genannt wurde, als biologisch gegeben unabänderbar sei. Beim
aufmerksamen Studium der Schriften Freuds finden sich jedoch genügend
Hinweise, wie Freud selbst diese Triebtheorie verstanden hatte.
Es soll hier nicht mit Freud der Aggressionsforschung ins Wort geredet
werden, vielmehr scheint es wichtig, jene, die Freud so interpretieren,
als ob er nur schematisch von der biologischen Bedingtheit der Aggression
ausginge, darauf hinzuweisen, daß Freud selbst die inneren
psychischen Faktoren in den äußeren Gegebenheiten determiniert
sah.(2) Diese wechselseitige Abhängigkeit von inneren psychischen
und äußeren kulturellen Bedingungen gilt es zu begreifen.
Wilhelm Reich formulierte deutlicher: Wir können an
Hand unserer Fälle, wie auch jedes anderen, den wir genügend
tief analysieren feststellen, daß am Grunde sämtlicher
Reaktionen nicht etwa der Gegensatz: Liebe und Haß, gewiß
auch nicht der: Eros und Todestrieb steht, sondern der Gegensatz
von Ich (Person, Es=Lust-Ich) und Außenwelt.(3)
Die Wissenschaft hat inzwischen mit dem Vorurteil aufgeräumt,
daß der Mensch von Natur aus böse sei, vielmehr hat sich
durchgesetzt, daß jede menschliche Tätigkeit und Regung
zu erklären ist in ihrer dialektischen Abhängigkeit, und
ihren Ursprung in der sozialen Realität und den gesellschaftlichen,
ökonomischen Bedingungen hat.
So hat der Todes-, Destruktions- oder Aggressionstrieb seinen Ursprung
in einem äußeren Faktor, der die Befriedigung irgendeines
Bedürfnisses verhinderte.
Es muß unterschieden werden zwischen der primären äußeren
Abhängigkeit der Aggression von der Außenwelt und der
sekundären inneren Abhängigkeit des Zerstörungstriebes
von nicht befriedigten Bedürfnissen.
Aggression ist zu verstehen als zerstörerisches Zugreifen,
das nicht primär zur Befriedigung eines Bedürfnisses dienst,
sondern der Abreaktion von erlebter Versagung oder Unterdrückung.
S. Freuds unumstrittener Verdienst ist es, die Dynamik der Triebkräfte,
deren Verschiebung und ersatzweise Abreaktion verdeutlicht und auf
die hervorragende Bedeutung der Unterdrückung und des sexuellen
Triebaufschubes für das sadistische, masochistische und aggressive
Verhalten hingewiesen zu haben. Die von ihm und seinen Schülern
vertretene Dualismustheorie stimmt mit den Erkenntnissen der modernen
Psychoanalyse überein und wird durch die Funktion der Sexualunterdrückung
für das kapitalistische System bestätigt.
Im 16., 17. und 18. Jahrhundert begann in den meisten europäischen
Staaten der Prozeß der ursprünglichen kapitalistischen
Akkumulation.(4) Die Voraussetzungen für diesen Prozeß
waren nicht nur technische Neuerungen wie Maschinen und Fabriken,
sondern vor allem der historische Scheidungsprozeß von Produzenten
und Produktionsmitteln. Um diesen Prozeß in Gang zu halten,
bedurfte es auch eines veränderten Sozialcharakters.
Zum äußeren Zwang, wie Gefängnisse, Arbeitshäuser
und Folterungen, mußte ein innerer Zwang hinzukommen, der
die Erinnerung an die relativ größere Bedürfnisbefriedigung
der vorhergehenden Wirtschaftsform, in der die Produktion zum direkten
Verbrauch bestimmt war und genügte, verdrängte. Die herrschende
Moral (die Moral der Herrschenden) beurteilte alles, auch menschliche
Tätigkeiten und Qualitäten nach ihrer Verwertbarkeit im
Produktionsprozeß oder setzt sie dazu in Beziehung, rechnet
sie auf ihre Tauschrelation um.
So wird die Selbstverständlichkeit der Arbeit zur Notwendigkeit
die notwendigerweise Anstrengung, Not, Elend, Verzicht und Konsumaufschub
bedingt. Konsum, Freizeit und Geschlechtsverkehr werden zur Entlohnung.
Der Sexualbereich ist damit aus dem Produktionsprozeß herausgenommen,
gleichzeitig aber in unmittelbare Bedingtheit zu ihm gestellt. Die
Familie wird zum Mittel zur Erhaltung der Arbeitskraft, der Geschlechtsverkehr
zum Mittel der Zeugung und damit zur Auffrischung des Arbeitskraftpotentials
bestimmt.
Die Verbindung von äußerem und innerem Zwang schafft
den Sozialcharakter, der sich auszeichnet durch ein starres Über-Ich
und die Verfügbarkeit im Produktionsprozeß. Der von Freud
beschriebene Zwangstypus ist das Ergebnis dieses langen
Umerziehungsprozesses. Er zeichnet sich durch die Vorherrschaft
der Über-Ichs aus, das sich unter hoher Spannung vom Ich absondert.
Er wird von Gewissensangst beherrscht an Stelle der Angst vor dem
Liebesverlust, zeigt eine sozusagen innere Abhängigkeit anstatt
der äußeren, entfaltet ein hohes Maß von Selbständigkeit
und wird sozial zum eigentlichen, vorwiegend konservativen Träger
der Kultur."(5)
Allein die äußeren Bedingungen der damals entstehenden
Produktionsweise verlangen im Gegensatz zur vorher herrschenden
handwerklichen Produktionsweise einen erheblich stärkeren Formalismus,
der das Entstehen einer zwanghaften Ordnung begünstigt. Die
Auswirkungen dehnen sich von den obersten bis zu den untersten Schichten
aus und erfassen zuletzt die zu gesellschaftsfähigen Menschen
zu erziehenden Kinder.
Am sozialisationsunfähigsten muß den Eltern das Kind
an dem Punkt erscheinen, wo es seine Bedürfnisse und Triebe
zum erstenmal und am heftigsten durchzusetzen versucht. Je sauberer
ein Kind erzogen wird, um so hartnäckiger wird es versuchen
seine analen Freuden durchzusetzen, um so getroffener werden die
Eltern reagieren. Wegen der tatsächlichen Übermacht der
Erzieher, wird der Widerstand endlich gebrochen, die Analbedürfnisse
werden vom entstehenden Über-Ich verdrängt, später
im Unterbewußtsein mit den Verboten der prägenitalen
und genitalen Phase verbunden, wodurch gleichzeitig die Verbindung
von Sexualität und Schmutz hergestellt ist.
Der so entstandene Anal- oder Zwangscharakter wird im Kapitalismus
zum vorherrschenden Typus.
Die aus der Verdrängung aufsteigenden sadistischen Äußerungen
und Verhaltensweisen werden für die Ziele des um sich greifenden
Kapitalismus eingesetzt, wie Eroberungskriege, Rassendiskriminierung
usw. Die der kapitalistischen Produktionsweise immanenten Widersprüche
führen zu Absatzschwierigkeiten, einmal dadurch, daß
produziert wird, was Profit bringt, nicht, was benötigt wird,
zum anderen durch fortschreitende Rationalisierung und Technisierung
und die damit verbundene Über- und Fehlproduktion. Der Konsument
muß seine Ansprüche und Bedürfnisse dem Zwang der
Produktion anpassen. Die Manipulation des Marktes ist der Versuch
des Kapitalismus, diesen Widerspruch zu beseitigen.
Gleichzeitig entstanden im Spät- und Monopolkapitalismus neue
sublime Herrschaftstechniken, die entgegen den Emanzipationsbestrebungen
der unterdrückten Mehrheit des Volkes die bestehende Gesellschaftsordnung
absicherten.
So mußte die bislang starre Trieb- und Sexualunterdrückung
ein Stück weit freigegeben werden. Allerdings bot sich hierbei
gleichzeitig die Möglichkeit, die anstehenden Konsumprobleme
zu lösen.
Sexualität als Ware und Profitbringer gestattete gleichzeitig
eine als Befreiung deklarierte Verschiebung der kollektiven
Norm als auch die Garantie für das Fortbestehen des Zwangs-
und Analcharakters. Das Ursprüngliche der Sexualität,
Lust, Zärtlichkeit und Befriedigung werden zu zweitrangigen
Faktoren. Liebe wird noch mehr auf ihre Waren- und Tauschrelation
reduziert, wodurch die heute praktizierte Befreiung
in Schulen und Werbekampagnen hinlänglich denunziert wäre.
Die Unterdrückung der sexuellen Bedürfnisse ist so oder
so gewährleistet. Sie werden wie eh und je (weil nicht der
herrschenden Norm entsprechend) ins Unterbewußtsein verdrängt.
Die nicht aufhebbare Triebenergie entfernt sich von ihrem ursprünglichen
Objekt und erscheint wieder in vornehmlich aggressiven, sadistischen
oder masochistischen Reaktionen. Für den nicht mit der Psychoanalyse
Vertrauten sind diese verschobenen sexuellen Äußerungen
nur schwer als solche zu erkennen, was ihn um so mehr verleitet,
die aufgelockerte Moral als echten Fortschritt zu begreifen.
Es soll deshalb hier versucht werden, die Dynamik und die verschobenen
Äußerungen der sexuellen Bedürfnisse zu skizzieren.
Ein Bedürfnis ist zielgerichtet. Der Antrieb zu diesem Bedürfnis
ist libidinöse Energie. Stellt sich der Bedürfnisbefriedigung
ein Hindernis, ein Verbot oder Tabu in den Weg, so ist die nichtbefriedigte
Person enttäuscht. Die libidinöse Energie wird im günstigsten
Fall zur Hilfe genommen, um das Hindernis zu umgehen oder zu beseitigen,
um doch noch zur Bedürfnisbefriedigung zu kommen. Die durch
den Triebaufschub erlebte Frustration äußert sich durch
Aggression gegen die Ursache des Hindernisses, z. B. gegen die ein
Verbot aussprechenden Eltern.
Stellt sich nun dieser Aggression wiederum ein Hindernis oder ein
Verbot in den Weg, so kann die libidinöse Energie zweierlei
Wege nehmen:
1. Die Energie wird auf ein Ersatzziel gelenkt. Der ursprüngliche
Trieb wird sublimiert. Zum Beispiel wenn das Kind mit seinem Kot
spielen möchte, bietet man ihm an, mit Fingerfarben zu malen.
Diese ersatzweise Abreaktion bedingt jedoch gleichzeitig durch die
Objektverschiebung eine Verdrängung des ursprünglichen
Triebanspruches in das Unterbewußte, der an anderer Stelle
wieder zutage tritt.
2. Der frustrierten Person wird keine Möglichkeit der Sublimierung
geboten, die Triebenergie entlädt sich in ihrer vollen Stärke
in der Aggression, die um so irrationaler und heftiger ist, je weniger
ihr erlaubt ist, sich am verbotenen Objekt abzureagieren.
Je grausamer und raffinierter versucht wird, das Verbot durchzusetzen,
je mehr der Moralkodex mit diesen Verboten in Verbindung steht,
um so mächtiger gebietet das Ich über die Instanz des
Über-Ichs, das Triebobjekt und schließlich den Trieb
selbst aus dem Bewußtsein in das Unterbewußtsein zu
verdrängen. Das Ich, das sich ständig eine Entsagung seiner
Ansprüche gefallen lassen muß, bildet sich unter dieser
enormen Belastung eine Realität, die nicht mehr seinen Bedürfnissen
und Wünschen entspricht, sondern den Notwendigkeiten einer
Gesellschaftsform, die aus dieser Realitätsflucht ihren Nutzen
zu ziehen weiß. Je größer die Spannung ist zwischen
verbietendem Über-lch, in diesem Fall identisch mit der herrschenden
Norm oder der Triebbefriedigung Einhalt gebietenden Instanz, und
den verdrängten Triebansprüchen des Es, um so mehr versucht
das Ich dieser Spannung einerseits durch Veränderung der Realität
in seinem Bewußtsein und andererseits durch neurotische und
psychotische Reaktionen Luft zu machen.
Es scheint, daß gerade die neurotischen und psychotischen
Reaktionen zum kollektiven Merkmal des Sozialcharakters geworden
sind, die es dem Kapitalismus ermöglichen, seine profitorientierte
Warenproduktion durch Anknüpfung an die verdrängten Triebansprüche,
an den Mann zu bringen. So sind Sexualsymbole und unterschwellige
Appelle an die Potenz und die Lust zum festen Bestandteil der modernen
Werbung geworden.
Die repressive Entsublimierung(6) findet ihren Niederschlag
in der Produktion, im Konsum- und Freizeitbereich. Die Triebenergie
wird zwar so ihrer für den Kapitalismus gefährlichen Spitze
beraubt, der Rest allerdings behauptet sich weiter und sucht andere
Wege der Entladung.
Dem Teil der nicht sublimierten Energie und dem verdrängten
Triebanspruch öffnen sich nun wieder zwei verschiedene Wege
der Aggressionsabfuhr. Sie kann sich gegen das eigene Ich richten,
oder sie wendet sich gegen ebenfalls Unterdrückte, drückt
sich aus in der Beteiligung an der Unterdrückung von Randgruppen
der Gesellschaft durch die Herrschenden oder gegen einen angebotenen
äußeren oder inneren Feind, wie zum Beispiel die Kommunisten.
Die extremste Form der auf die eigene Person gerichteten Aggression,
der Selbstmord, offenbart sich aber auch oft in selbstverschuldeten
Unfällen oder in unabsichtlichen Sich-selbst-Schmerz-zufügen.
Alkoholismus und Rauschgiftsucht sind ein Ausdruck dieses Selbstzerstörungstriebes.
Diese Verhaltensweisen werden als neurotisch bezeichnet.
Die psychotische Komponente der ersatzweisen Abreaktion hat als
hervorstechendes Merkmal die Voraussetzung, daß die Realität
im Bewußtsein des Ichs bereits eine Veränderung erfahren
hat. Sie drückt sich aus in der Phantasie, in sadistischen
Vorstellungen, in Träumen, Tagträumen, manchmal durch
Abreaktion durch brutale Sprache, in der Kunst und in der Literatur,
durch Identifikation mit aggressiv und autoritär handelnden
Personen, oder durch bewußtes oder unbewußtes Nachvollziehen
ihrer Handlungen.
(1971).
Anmerkungen:
(1) Sigmund Freud / Abriß der Psychoanalyse.
(2) Siehe Sigmund Freud / Das Unbehagen in der Kultur.
(3) Wilhelm Reich / Charakteranalyse. (1933).
(4) Siehe Karl Marx / Kapital, I.
(5) Sigmund Freud / Über libidinöse Typen.
(6) Herbert Marcuse / Der eindimensionale Mensch.
|