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Claus Sterneck / Claus in Iceland
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Wolfgang Sterneck
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Subcomandante Marcos:

DAS GLAS ZUR ANDEREN SEITE

Umgekehrt geschnitten, hört ein Spiegel auf, ein Spiegel zu sein und wird zu Glas. Spiegel sind da, um auf diese Seite zu blicken, Glas ist gemacht, um auf die andere Seite zu blicken.

Spiegel sind dazu da, geätzt zu werden.

Ein Glas ist da, um gebrochen zu werden... um auf die andere Seite zu gelangen...

PS ... Jenes Bild des Realen oder Irrealen, das auf so vielen Spiegeln ein Glas sucht, um es zu brechen.

.......

Dämmerung. Mexiko City. Durito durchstreift die an den Zocalo angrenzenden Straßen. Mit einem kleinen trench coat und einem schiefen Hut wie Humphrey Bogard in Casablanca gibt Durito vor, sich unbemerkt zu bewegen. Seine Aufmachung und sein langsamer Gang sind unnötig, insofern er die von riesigen Schaufenstern geworfenen Schatten entlangwandert. Schatten des Schattens, leiser Gang, schiefer Hut, den trench coat nachschleppend: so geht Durito in der Dämmerung durch Mexiko City. Niemand bemerkt ihn. Sie sehen ihn nicht; nicht, weil er gut verkleidet ist, oder wegen seines winzigen, don-quijottesken Fünfzigerjahre-Detektivoutfits, oder weil er kaum von den Müllhügeln zu unterscheiden wäre. Durito geht inmitten von Papieren, die von jenen die Dämmerung Mexiko Citys bevölkernden Windstößen hin und hergetragen werden. Aus dem einfachen Grund, daß in dieser Stadt niemand jemanden sieht, sieht niemand Durito.

"Diese Stadt ist krank", schreibt mir Durito. "Sie ist an Einsamkeit und Angst erkrankt. Sie ist ein großes Kollektiv von Einsamkeiten. Sie ist eine Sammlung von Städten, eine für jeden Bewohner, eine für jede Bewohnerin. Dies ist sie nicht einer Summe von Kummer wegen (kennst du eine Einsamkeit ohne Kummer?), sondern wegen einer Potenz; jede Einsamkeit wird mit der Anzahl einsamer Menschen ringsum vervielfacht. Es ist, als ob die Einsamkeit jedes und jeder Einzelnen ein Spiegelkabinett beträte, wie sie am Jahrmarkt in der Provinz zu finden sind. Jede Einsamkeit ist ein Spiegel, der eine andere Einsamkeit reflektiert und, wie ein Spiegel, mehr Einsamkeiten weiterwirft."

Daß er in fremdem Gebiet ist, entdeckt Durito allmählich, daß die Stadt nicht sein Platz ist. In seinem Herzen und in dieser Dämmerung packt Durito seine Taschen. Als ob er alles inventarisierte, geht er diese Straßen entlang, eine letzte Zärtlichkeit, dem Liebenden ähnelnd, der um den Abschied weiß. Bisweilen werden die Schritte leiser, und lauter wird das Sirenengeheul, das Außenseiterinnen und Außenseitern so unheimlich ist. Und Durito ist einer dieser Außenseiterinnen und Außenseiter, und daher hält er an der Ecke, jedesmal das rotblaue Blinklicht die Straßen überquert. Durito nützt die Komplizität eines Eingangs, um guerillamäßig eine Pfeife anzuzünden: ein winziger Funke, ein tiefer Zug, und Rauch verschlingt sein Gesicht. Durito bleibt stehen. Er schaut und sieht. Geradeaus fängt eine Auslage seinen Blick. Durito tritt näher und sieht durch die große Glasscheibe hindurch, was jenseits von ihr ist. Spiegel in allen Formen und Größen, Porzellan und Glasfiguren, geschliffene Kristalle, kleine Spieluhren. "Hier sind keine sprechenden Boxen", sagt sich Durito, ohne die langen Jahre im Dschungel des mexikanischen Südostens zu vergessen.

Durito ist gekommen, um Abschied von Mexiko City zu nehmen, und er hat beschlossen, dieser Stadt ein Geschenk zu machen, über das sich alle beschweren und das doch niemand preisgibt. Ein Geschenk. Das ist Durito, ein kleiner Käfer aus dem Lakandonischen Urwald im Herzen von Mexiko City.

Mit einem Geschenk sagt Durito Lebewohl.

Eine elegante Magiergeste. Alles bleibt stehen. Die Lichter gehen aus, wie eine Kerze, deren Docht von der Spucke auf einer Fingerkuppe gelöscht wird. Eine weitere Geste, und ein Scheinwerfer beleuchtet eine Spieluhr in der Auslage. Eine Ballerina in feinem lila Kostüm, zum endlosen Standbild gefroren, die Hände überm Kopf verschränkt, die Beine nebeneinander, auf Zehenspitzen balancierend. Durito versucht die Position nachzuahmen, allein seine vielen Ärmchen verheddern sich. Noch eine magische Geste, und ein Klavier so groß wie eine Zigarettenschachtel erscheint. Durito sitzt am Klavier und stellt eine Bierdose darauf – wer weiß, woher er sie hat, aber sie ist bereits halbleer. Er knackt und biegt seine Finger: digitale Gymnastik, wie die Pianisten im Film. Dann dreht er sich zur Ballerina und nickt. Die Ballerina rührt und verbeugt sich. Durito summt eine unbekannte Melodie, trommelt einen Rhythmus mit seinen Beinchen und beginnt sich zu wiegen.

Die ersten Noten. Durito spielt vierhändig. Auf der anderen Seite der Scheibe beginnt die Ballerina zu wirbeln, und sanft hebt sie ihren rechten Schenkel. Durito lehnt sich über die Klaviatur und spielt wild drauflos. Die Ballerina vollführt ihre besten Schritte im Gefängnis einer kleinen Spieluhr. Die Stadt verschwindet. Nichts mehr, nur noch Durito an seinem Klavier und die Ballerina in ihrer Spieluhr. Durito spielt, und die Ballerina tanzt. Die Stadt ist überrascht; ihre Wangen erröten, wie wenn jemand ein unerwartetes Geschenk erhält, eine angenehme Überraschung, gute Nachricht. Durito gibt sein schönstes Geschenk: ein unzerstörbarer und ewiger Spiegel, ein Lebewohl, das harmlos ist, das heilt, das reinigt. Das Spektakel dauert nur wenige Augenblicke. Die letzten Noten verklingen, während die Städte, die diese Stadt bevölkern, wieder Kontur annehmen. Die Ballerina kehrt zu ihrer unangenehmen Bewegungslosigkeit zurück; Durito schlägt den Kragen seines trench coats auf und verbeugt sich leicht gegen die Auslage.

"Wirst du immer hinter der Glasscheibe sein?" fragt Durito sie und sich. "Wirst du immer auf der anderen Seite von mir, werde ich immer auf der anderen Seite von dir sein?"

Gesundheit und bis immer, meine geliebte Unzufriedene. Glück ist wie ein Geschenk; es dauert einen Augenblick, und den ist es wert.

Durito überquert die Straße, richtet seinen Mantel und geht weiter. Bevor er um die Ecke biegt, dreht er sich nach der Glasscheibe. Ein gezackter Stern ziert das Glas. Sinnlos schrillt die Alarmanlage. Hinter dem Fenster ist die Ballerina nicht mehr in der Spieluhr...

"Diese Stadt ist krank. Wenn ihre Krankheit zur Krise wird, wird sie geheilt werden.  Diese kollektive Einsamkeit, vervielfacht und bevollmächtigt von Millionen, wird ein Ende haben, wenn sie sich selbst und den Grund ihrer Ohnmacht findet. Dann, und nur dann, wird diese Stadt ihr graues Kleid abwerfen und sich mit jenen hellbunten Bändern schmücken, deren es soviele in den Provinzen gibt.

Diese Stadt lebt ein grausames Spiegelspiel, aber das Spiegelspiel ist unnütz und steril, solange das Ziel nicht heißt, durchsichtiges Glas zu finden. Es genügt, dies zu verstehen und, wie wer-weiß-wer sagte, zu kämpfen und mit dem Glücklichsein zu beginnen...

Ich komme wieder. Bereite den Tabak und die Schlaflosigkeit vor. Ich habe Dir viel zu erzählen, Sancho." So schließt Durito.

Es ist Morgen. Einige Klavierklänge begleiten den Tag, der kommt, und Durito, der geht. Im Westen ist die Sonne wie ein Felsen, die morgendliche Glasscheiben erschüttert...

Macht es wieder gut. Gesundheit für Euch, und überlaßt leeren Spiegeln das Aufgeben...

El Sup, vom Klavier aufstehend und, verwirrt von so vielen Spiegeln, nach der nächsten Tür Ausschau haltend... Oder ist das der Eingang?


Aus den Bergen des mexikanischen Südostens - Subcomandante Insurgente Marcos
(1995).

Auszug aus: Subcomandante Insurgente Marcos / Drei Fabeln von Don Durito
In: Grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte - 7/2003

Reden und Texte von Subcomandante Marcos


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