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Subcomandante Marcos:
DAS GLAS ZUR ANDEREN SEITE
Umgekehrt geschnitten, hört ein Spiegel auf, ein Spiegel zu sein
und wird zu Glas. Spiegel sind da, um auf diese Seite zu blicken,
Glas ist gemacht, um auf die andere Seite zu blicken.
Spiegel sind dazu da, geätzt zu werden.
Ein Glas ist da, um gebrochen zu werden... um auf die andere Seite
zu gelangen...
PS ... Jenes Bild des Realen oder Irrealen, das auf so vielen Spiegeln
ein Glas sucht, um es zu brechen.
.......
Dämmerung. Mexiko City. Durito durchstreift die an den Zocalo
angrenzenden Straßen. Mit einem kleinen trench coat und einem
schiefen Hut wie Humphrey Bogard in Casablanca gibt Durito vor, sich
unbemerkt zu bewegen. Seine Aufmachung und sein langsamer Gang sind
unnötig, insofern er die von riesigen Schaufenstern geworfenen
Schatten entlangwandert. Schatten des Schattens, leiser Gang, schiefer
Hut, den trench coat nachschleppend: so geht Durito in der Dämmerung
durch Mexiko City. Niemand bemerkt ihn. Sie sehen ihn nicht; nicht,
weil er gut verkleidet ist, oder wegen seines winzigen, don-quijottesken
Fünfzigerjahre-Detektivoutfits, oder weil er kaum von den Müllhügeln
zu unterscheiden wäre. Durito geht inmitten von Papieren, die
von jenen die Dämmerung Mexiko Citys bevölkernden Windstößen
hin und hergetragen werden. Aus dem einfachen Grund, daß in
dieser Stadt niemand jemanden sieht, sieht niemand Durito.
"Diese Stadt ist krank", schreibt mir Durito. "Sie
ist an Einsamkeit und Angst erkrankt. Sie ist ein großes Kollektiv
von Einsamkeiten. Sie ist eine Sammlung von Städten, eine für
jeden Bewohner, eine für jede Bewohnerin. Dies ist sie nicht
einer Summe von Kummer wegen (kennst du eine Einsamkeit ohne Kummer?),
sondern wegen einer Potenz; jede Einsamkeit wird mit der Anzahl einsamer
Menschen ringsum vervielfacht. Es ist, als ob die Einsamkeit jedes
und jeder Einzelnen ein Spiegelkabinett beträte, wie sie am Jahrmarkt
in der Provinz zu finden sind. Jede Einsamkeit ist ein Spiegel, der
eine andere Einsamkeit reflektiert und, wie ein Spiegel, mehr Einsamkeiten
weiterwirft."
Daß er in fremdem Gebiet ist, entdeckt Durito allmählich,
daß die Stadt nicht sein Platz ist. In seinem Herzen und in
dieser Dämmerung packt Durito seine Taschen. Als ob er alles
inventarisierte, geht er diese Straßen entlang, eine letzte
Zärtlichkeit, dem Liebenden ähnelnd, der um den Abschied
weiß. Bisweilen werden die Schritte leiser, und lauter wird
das Sirenengeheul, das Außenseiterinnen und Außenseitern
so unheimlich ist. Und Durito ist einer dieser Außenseiterinnen
und Außenseiter, und daher hält er an der Ecke, jedesmal
das rotblaue Blinklicht die Straßen überquert. Durito nützt
die Komplizität eines Eingangs, um guerillamäßig eine
Pfeife anzuzünden: ein winziger Funke, ein tiefer Zug, und Rauch
verschlingt sein Gesicht. Durito bleibt stehen. Er schaut und sieht.
Geradeaus fängt eine Auslage seinen Blick. Durito tritt näher
und sieht durch die große Glasscheibe hindurch, was jenseits
von ihr ist. Spiegel in allen Formen und Größen, Porzellan
und Glasfiguren, geschliffene Kristalle, kleine Spieluhren. "Hier
sind keine sprechenden Boxen", sagt sich Durito, ohne die langen
Jahre im Dschungel des mexikanischen Südostens zu vergessen.
Durito ist gekommen, um Abschied von Mexiko City zu nehmen, und er
hat beschlossen, dieser Stadt ein Geschenk zu machen, über das
sich alle beschweren und das doch niemand preisgibt. Ein Geschenk.
Das ist Durito, ein kleiner Käfer aus dem Lakandonischen Urwald
im Herzen von Mexiko City.
Mit einem Geschenk sagt Durito Lebewohl.
Eine elegante Magiergeste. Alles bleibt stehen. Die Lichter gehen
aus, wie eine Kerze, deren Docht von der Spucke auf einer Fingerkuppe
gelöscht wird. Eine weitere Geste, und ein Scheinwerfer beleuchtet
eine Spieluhr in der Auslage. Eine Ballerina in feinem lila Kostüm,
zum endlosen Standbild gefroren, die Hände überm Kopf verschränkt,
die Beine nebeneinander, auf Zehenspitzen balancierend. Durito versucht
die Position nachzuahmen, allein seine vielen Ärmchen verheddern
sich. Noch eine magische Geste, und ein Klavier so groß wie
eine Zigarettenschachtel erscheint. Durito sitzt am Klavier und stellt
eine Bierdose darauf wer weiß, woher er sie hat, aber
sie ist bereits halbleer. Er knackt und biegt seine Finger: digitale
Gymnastik, wie die Pianisten im Film. Dann dreht er sich zur Ballerina
und nickt. Die Ballerina rührt und verbeugt sich. Durito summt
eine unbekannte Melodie, trommelt einen Rhythmus mit seinen Beinchen
und beginnt sich zu wiegen.
Die ersten Noten. Durito spielt vierhändig. Auf der anderen Seite
der Scheibe beginnt die Ballerina zu wirbeln, und sanft hebt sie ihren
rechten Schenkel. Durito lehnt sich über die Klaviatur und spielt
wild drauflos. Die Ballerina vollführt ihre besten Schritte im
Gefängnis einer kleinen Spieluhr. Die Stadt verschwindet. Nichts
mehr, nur noch Durito an seinem Klavier und die Ballerina in ihrer
Spieluhr. Durito spielt, und die Ballerina tanzt. Die Stadt ist überrascht;
ihre Wangen erröten, wie wenn jemand ein unerwartetes Geschenk
erhält, eine angenehme Überraschung, gute Nachricht. Durito
gibt sein schönstes Geschenk: ein unzerstörbarer und ewiger
Spiegel, ein Lebewohl, das harmlos ist, das heilt, das reinigt. Das
Spektakel dauert nur wenige Augenblicke. Die letzten Noten verklingen,
während die Städte, die diese Stadt bevölkern, wieder
Kontur annehmen. Die Ballerina kehrt zu ihrer unangenehmen Bewegungslosigkeit
zurück; Durito schlägt den Kragen seines trench coats auf
und verbeugt sich leicht gegen die Auslage.
"Wirst du immer hinter der Glasscheibe sein?" fragt Durito
sie und sich. "Wirst du immer auf der anderen Seite von mir,
werde ich immer auf der anderen Seite von dir sein?"
Gesundheit und bis immer, meine geliebte Unzufriedene. Glück
ist wie ein Geschenk; es dauert einen Augenblick, und den ist es wert.
Durito überquert die Straße, richtet seinen Mantel und
geht weiter. Bevor er um die Ecke biegt, dreht er sich nach der Glasscheibe.
Ein gezackter Stern ziert das Glas. Sinnlos schrillt die Alarmanlage.
Hinter dem Fenster ist die Ballerina nicht mehr in der Spieluhr...
"Diese Stadt ist krank. Wenn ihre Krankheit zur Krise wird, wird
sie geheilt werden. Diese kollektive Einsamkeit, vervielfacht
und bevollmächtigt von Millionen, wird ein Ende haben, wenn sie
sich selbst und den Grund ihrer Ohnmacht findet. Dann, und nur dann,
wird diese Stadt ihr graues Kleid abwerfen und sich mit jenen hellbunten
Bändern schmücken, deren es soviele in den Provinzen gibt.
Diese Stadt lebt ein grausames Spiegelspiel, aber das Spiegelspiel
ist unnütz und steril, solange das Ziel nicht heißt, durchsichtiges
Glas zu finden. Es genügt, dies zu verstehen und, wie wer-weiß-wer
sagte, zu kämpfen und mit dem Glücklichsein zu beginnen...
Ich komme wieder. Bereite den Tabak und die Schlaflosigkeit vor. Ich
habe Dir viel zu erzählen, Sancho." So schließt Durito.
Es ist Morgen. Einige Klavierklänge begleiten den Tag, der kommt,
und Durito, der geht. Im Westen ist die Sonne wie ein Felsen, die
morgendliche Glasscheiben erschüttert...
Macht es wieder gut. Gesundheit für Euch, und überlaßt
leeren Spiegeln das Aufgeben...
El Sup, vom Klavier aufstehend und, verwirrt von so vielen Spiegeln,
nach der nächsten Tür Ausschau haltend... Oder ist das der
Eingang?
Aus den Bergen des mexikanischen Südostens - Subcomandante Insurgente
Marcos
(1995).
Auszug aus: Subcomandante
Insurgente Marcos / Drei Fabeln von Don Durito
In: Grundrisse
- zeitschrift für linke theorie & debatte - 7/2003
Reden und Texte von Subcomandante Marcos
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