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Herrmann Cropp:
HIPPIE-ANGEL
Beim Flower-Power-Festival in Freiberg, Sachsen, werden Blumen
als Eintrittskarten verteilt (zusätzlich zum Bändel an
der Hand), jeder kann sich eine rote, gelbe oder rosa Rose aussuchen,
langstielige Gerbera, Sonnenblumen oder die berauschend duftenden
Studentenblumen - das ist doch eine nette Geste, oder? Am Stadtrand
von Freiberg, an der Straße nach Dresden liegt die Wiese,
hier geht es nicht in erster Linie um die Bands, sondern um das
friedliche und kreative Miteinander - sagt Zausel, einer der Organisatoren,
und er hätte am liebsten viel Regen und Matsch, damit nur die
harten und echten Hippies kommen, und nicht die Fratzen, die bloß saufen und Weiber glotzen.
Im ansonsten nicht so hippie-esken Freiberg gehört die
Kunst dem Volke, sofern das Volk sich auf erlesene 300 Theaterbesucher
(der Plätze wegen) beschränkt - eine entsprechende Parole
aus besseren Zeiten steht an der Fassade des Theaters, für
heute jedoch gilt das neoliberale Credo, daß Kunst mehr damit
zu tun hat, was man sich leisten kann. Zwar rühmt sich Freiberg
des ältesten Stadttheaters der Welt, plus 47 Museen, 48 Bibliotheken
und 240 Kulturvereine, die durch gemeinsames Marketing die
Lebensqualität der Bürger verbessern und sogar die
Stadt als kulturelle Botschafter nach außen vertreten
sollen, aber wenn die Behörden und Etablissements 50-80% Personalkosten
produzieren, bleibt für Kultur nicht mehr viel übrig.
Soll auch nicht, das Funktionärswesen gedeiht im Kapitalismus
mit 50% Staatsquote ebenso gut wie im Kommunismus, sodaß diese
kulturbewußte Stadt Freiberg logischerweise auf das private
Engagement ihrer Bürger setzen muß. Es ist auch gar kein
Problem die den Hippies zugesagten Fördermittel wieder zurückzuziehen,
dadurch kann sich ihre Lebenslust und Lebensqualität in diesem
unreglementierten Raum um so besser entfalten. Find ich. Mit Alex
aus Jena versuchte ich beim Flower-Power-Festival etwas zur Kreativität
und Bewußtseinserweiterung beizutragen, und erfuhr dann selbst
eine unerwartete Erweiterung meines Bewußtseins.
.......DER EINGANG DER SIESTABAUM
Ja, Blumen hellen die Gemüter auf, irgendwie leben und geben
sich die Menschen anders, wenn Hunderte und jeder eine Blume in
der Hand, im Haar oder an der Kleidung trägt, sie bewegen sich
sorgsamer und sprechen bedächtiger, um die Blumen nicht durch
Grobheiten zu erschüttern, die Gesichter klaren auf, und was
sie denken und sagen wird lichter. Es besteht überhaupt kein
Zweifel an der transzendierenden Wirkung der Blumen auf den Charakter,
die Blumen sozialisieren uns und kultivieren unsere Umgangsformen,
vielleicht sollten wir in das Pantheon der Weltverbesserer neben
Baudelaire, Jimi Hendrix und Franz Marc, neben Dichter, Maler, Musiker
und andere Revolutionäre auch die Maiglöckchen, Sonnenblumen
und den Flieder aufnehmen ... und die Vanille nicht zu vergessen,
denn ich habe in der Nacht den Duft eines schlanken Halses eingeatmet
- Du riechst so gut! - Nach Vanille - Oh!
.......SIESTA-BAUM, GOA-STRAND TANZ AM STRAND
In dieser Nacht überfiel mich eine Hippie-Agentin mit subversiven
Zärtlichkeiten, übertriebenem Lachen und einer nicht endenwollenden
Redseligkeit und hat mich damit sehr in Verlegenheit gebracht. Erst
war es mir natürlich vor Alex peinlich, daß er mir meine
Unerfahrenheit in solchen Dingen anmerken könnte, dann fürchtete
ich aber auch, sie könnte begreifen, wie naiv und unbedarft
und unfähig ihre Herzlichkeiten zu erwidern ich bin, und schließlich
meinte ich, daß jeder, der vorbeikam, mir meine Hilflosigkeit
sofort ansehen müßte. Aber zwischendurch kam ich mir
auch sehr mutig von, weil ich blieb statt wegzulaufen, obwohl das
nur dieser Kaninchenreflex ist, sich steif zu stellen, wenn die
Hunde bellen. Es gibt sicher mutigere Männer als mich, obwohl,
es wurde trotz allem das spannendste Gespräch, das ich seit
langem hatte. Außerdem wurde ich ja nicht angebellt, sondern,
ja, als würde ich behext, vor allem ihr Lachen ohne Ende, das
machte mir bewußt, daß mich hundert Jahre Einsamkeit
von den weiblichen Stimmen trennen, ich wußte gar nicht mehr,
wie es ist, wenn in meiner nächsten Nähe gelacht wird,
und daß so ein Lachen nicht nur in den Ohren stattfindet,
sondern das ganze Daseinsgefühl ergreift, indem es mich zB.
mit ihr zu einer besseren Gemeinschaft verbindet. Ich hab in den
vergangenen hundert Jahren, um die Entbehrung solcher Stimmen in
mir etwas auszugleichen und mir die Illusion einer weicheren Umgebung
zu verschaffen, schon auf Musikkonserven zurückgegriffen, auf
Laurie Anderson, Björk, Anne Clark oder Cassandra Wilson, ich
wollte nicht ganz verlernen, wie die Stimmen in den höheren
Lagen klingen. Sowas ist albern, weiß ich wohl, aber es schützt
mich vor andern Albernheiten, oder wie soll ich das nennen, wenn
ich den Glauben an zarte Empfindungen ganz verlöre ... außerdem
war sie beschwipst oder tat wenigstens so, um ihrer Kühnheit
mildernde Umstände zu geben, und sie war ja ganz im Recht damit,
meine abgedrehte Stimmung, in der ich mich trotz der vielen Blumenkinder
befand, aufzuhellen.
Es wurden einige Stunden daraus, in denen wir über die Ideen
und Verrücktheiten der Hippies sprachen, über die Hippiebewegung,
die Musik, die Träume, die Gemeinschaft, über Alleinsein
ohne gleich den existenzialistischen Horror zu kriegen, und über
die Menschen hier und ihren schönen stolzen Gang mit zurückgeworfenen
Schultern, denn das zersetzende Nirvana-Feeling war soeben außer
Kraft gesetzt. Irgendwie schien es, als hätten alle ihre Grunge-
und Punk-Klamotten farbig aufgepeppt, vor allem die Mädchen,
sonst ist in Sachsen nämlich mehr Untergangsstimmung, gedeckte
Farben und zerrissene Jeans angesagt, aber die Hippies von Freiberg
sind schon einen Schritt weiter, aufs graue Unterhemd wird ein Blümchen
genäht, ein in abenteuerlichen Farben selbst gebatiktes Hemd
überdeckt die in Kniehöhe abgeschnittene und ausgefranste
Hose, barfuß kleidet besser als Adidas - so haben die Hippies
in den 60er Jahren ausgesehn, als sie von zu Haus weggelaufen keine
Unterstützung von ihren Eltern bekamen, betteln mußten,
hungerten, Volxküchen organisierten (Digger hieß das
damals) und buchstäblich aus Lumpen die spacigsten Gewänder
fertigten. Suzanne is wearing rags and feathers from Salvation Army
counters, sie zeigt dir, wohin du sehn mußt zwischen Müll
und Blumen, und du willst mit ihr ziehen, du willst ihr blind folgen
(Cohen).
Hast du die Kinder gesehen mit ihren Blumenkränzen auf dem
Kopf? (children in the morning - they are leaning out for love)
ich hörte, wie ein Kind sich beklagte, keine Blume bekommen
zu haben, weil Kinder ja umsonst reindürfen. Und dann haben
sie dem Kind einen ganzen Kranz gepflückt ... und dann wollten
die andern Kinder auch.
.......KLEINE BÜHNE - MENSCHLICHE NÄHE
Es ist ein Gefühl wie Moody Blues und nights in white satin,
never reaching the end, letters are written, never meaning to send
... weil ich ja gar nicht weiß, wo sie in Leipzig wohnt, nur
daß sie Katja heißt, weiß ich. Katja, die Antagonistin
der Anna Karenina - oh nein, das bin ich nicht, ich glaub, mir geht
es eher wie der Anna (natürlich lacht sie dabei) - du kennst
ihre Geschichte? Und dann erzählte ich ihr von Tolstois Flucht,
und wie er auf einer Bahnstation gestorben ist. Seiner Frau, die
ihm nachgereist war, erlaubte er nicht in sein Zimmer zu kommen,
sodaß sie draußem vorm Fenster, und es war Winter, stehen
mußte und sah, wie er starb. Das ist ja noch tragischer ...
Katja zögert. Tragischer als was? Als die Liebe der Hippies,
bei denen nur der Augenblick gilt - wegen ihrer vorangegangenen
Lustigkeit muß sie sich einen Moment lang überwinden
- nichts wird festgehalten, keine Regeln und kein Gesetz, hat er
gesagt (ich frage nicht dazwischen, wer er ist, ich versteh auch
nicht immer, was sie meint), und dabei schwebt er in seiner Musik
wie in indischen Düften. Vielleicht hat es mit Hinduismus oder
Buddhismus zu tun, doch ich glaub eigentlich nicht, es waren nur
lauter verrückte Ideen, ständig was Neues, aber nicht
wie die Esoteriker, sondern so ausgeflippt, verstehst du den Unterschied?
Die Esoteriker sind bierernste Spinner, aber die Hippies sind ausgeflippte
Poeten, die barfuß über Land ziehen, einen Stein vor
sich herrollen oder eine irische Harfe auf dem Rücken mitschleppen,
ein paar abgewetzte Notizbücher im Rucksack, worein sie ihre
großen und kleinen Weisheiten notieren. Und einer kennt die
Bibel auswendig, ein andrer den Koran, und noch einer das Grüne
Buch von Gaddhafi, aber sie spielen mit allem, sie meinen nichts
ernst, auch nicht mit dem Geld, und schon gar nicht in der Liebe,
da wird experimentiert und mitleidlos ausprobiert, Herzen werden
gebrochen für einen höheren ästhetischen Zweck oder
um irgendeine Erfahrung zu machen. Hip heißt ja sowas wie
erfahren sein, aber es geht natürlich um psychedelische Erfahrungen.
Die Esoteriker dagegen verprassen ihre Erbschaft für Kurse
in buddhistischer Erleuchtung oder in anthroposophischer Lodenmantelträgerei,
oder sie machen Tantra in einer Sexkommune, Prostitution für
Intellektuelle, wo man nicht pro Viertelstunde sondern fürs
Wochenende zahlt. Man kann sich auch für viel Geld coachen
lassen oder feldenkraistherapieren - das hab ich nämlich mal
gemacht.
Von der Bühne kommt in der Umbaupause das Stück der Moody
Blues, und ich erinnere mich an ein paar schmerzliche Harmoniewechsel
und Stimmungsumschwünge, obwohl, der Schmerz ist erträglich,
man kann sich sogar danach sehnen, und jetzt baut mein Unterbewußtsein
noch Katja in diese Melodien hinein, Hippiesehnsucht - wonach? Sie
habe sich von ihm gelöst, oder erst er von ihr, kann auch sein.
Jetzt sei sie hier beim Flower Power Festival in Freiberg, um nachträglich
besser zu verstehen, wen sie eigentlich geliebt habe - eine Seele
als Kunstwerk, Hingabe im Hier und Jetzt, aber bloß keine
Ewigkeit, komplexe innerliche Utopie, spirituelle Liebe statt Leistungsschau.
Und die Arbeitslosigkeit? versuche ich trotz der späten Stunde
und trotz ihrer elektrisierenden Hand auf meinem Arm mal ganz vernünftig
- hier im Osten nüscht Neues (klingt es sächselnd und
abgeklärt), verhungern muß keiner, bloß daß
soviel Jungendliche mit der vielen Freiheit, mit der sie sich allein
gelassen fühlen, nichts anfangen können und bei den Rechten
Halt suchen. Zugegeben, das ist nicht das wichtigste Thema, einige
der Hippiebands singen zwar gegen Rassismus und Rechtsextremismus,
aber wichtiger als Kritik ist der Bereich des Schönen, die
Sehnsucht nach positiven Zukunftsentwürfen, nach der Blauen
Blume der Romantik (Novalis).
Wie hast du mich gefunden? Ich habe irgendwas gesucht, was, weiß
ich nicht, vielleicht eine blaue Blume, ich bin nur so herumgelaufen,
und als ich dich sah, stand ich schon neben dir und legte meine
Hand auf deinen Arm, um mich zu überzeugen, daß du es
bist, oder nein, daß du echt bist. Hast du mich erkannt? Obwohl
ich dich nie gesehen habe. Du wußtest nicht, wer ich bin,
noch was ich denken und sprechen würde. Mich hat etwas geführt,
vielleicht meine Hand, es ist ja Nacht, da hält man instinktiv
die Hand vor, und Hände sehen anders, sie sehen Schwingungen
- sie lacht - vielleicht habe ich deine Stimme schon in meinen Fingern
gespürt, oder soetwas ähnliches. Und wenn du dir das nur
einbildest? Du kränkst mich damit, weißt du das? Ja.
Ich hab gar nicht nachgedacht, vielleicht war es, weil du ein Buch
last. Du bist der einzige, der hier ein Buch liest. Das ist Herders
Ideengeschichte. Whow! Das paßt, das paßt ganz genau!
Das war eine ganz große Zeit, wo viel Wichtiges gedacht und
geschrieben wurde. Weißt du, bevor ich zu diesem Festival
gefahren bin, das war wie eine Erlösung, da hab ich etwas von
Lessing gelesen, wie durch das Schreiben, durch das Dichten etwas
Neues geschaffen wird. Erst sind es Einsichten, und dann leben die
Menschen danach. Aber sag jetzt nicht Aufklärung, fügt
sie schnell hinzu, so banal mag ich es nicht. Es hat mir solchen
Mut gemacht, mir schien mein eigenes Leben von Grund auf verändert,
weil ich es nun verstehe! Aber Lessing mußte sich schließlich
an einen Fürsten verkaufen, ein unabhängiger Geist im
Dienst der Macht, das ist nicht besser als die aufgeblasenen Journalisten
heute im Dienst von Springer und Augstein, außer daß
von denen keiner einen Nathan geschrieben hat. Aber sie fühlen
sich so wichtig wie die Auflage ihrer Zeitung. Und wie die Spesen,
die sie machen. Und wie die gekrönten Häupter, über
die sie klatschen dürfen ... wunder dich nicht, das ist mein
Haßthema. Flower Power und Haß, wie paßt das zusammen?
Sie lacht mich aus. Och, es gibt auch eine Nachtseite im Menschen,
wie bei Charles Manson oder Jim Morrison. Übrigens lacht sie
dauernd dazwischen, sowohl wenn sie selbst redet, als auch bei mir.
Und - ich bin nicht betrunken - versucht sie mehr als einmal meine
Unsicherheit zu zerstreuen. Ja, wenn ich es mir recht überlege,
muß diese Nacht ein Hippietraum sein, aus dem ich nur Angst
habe aufzuwachen. - Vielleicht wundert sich der Leser dieser Story,
daß mir etwas die Bodenhaftung fehlt, aber ich kann das erklären:
wir sind nun mal nicht zwei Holzklötze mit Konferenzschaltung,
irgendwie passieren uns Menschen, auch wenn wir eigentlich ganz
sachlich sein wollen, so Geschichten wie Porzellanvasen umwerfen
oder ne unmotivierte Verlegenheit, und überhaupt geht nebenher
soviel ab, was zwar lästig ist, aber wir können es nicht
lassen unsere 5-10 Prozent reine Sachkommunikation mit bis zu 95%
Gesten, Tonfall, Schwitzen, Augenrollen usw zu begleiten. Und bei
mir kommt noch dazu, daß ich immer soweit aushole und es nicht
schaffe bei einem einfachen Thema zu bleiben um auf elegante Art
darüber zu plaudern. Dabei bin ich so in Eile, als könnte
ich was verpassen. Ich will nicht weniger als über alles
sprechen, kaum daß ich einen Gedanken zuende habe, drängt
sich der nächste dazwischen, und eine theoretische Extase zwingt
mich von Musik, Literatur, Soziologie und der ganzen Weltgeschichte
zugleich zu sprechen. Das klappt sogar manchmal.
...........LUST AUF SPIELEN
Einigemal kam Katjas Freundin von irgendwo aus dem Dunkel der Festivalwiese,
grüßte auch mich, aber kurz und unsicher, und während
sie mit ihr etwas besprach, das ich nicht verstand, schien sich
Katjas Lächeln wie eine allerdings schlechte Kopie auf ihr
Gesicht zu übertragen, und etwas Anzügliches oder Verschwörerisches
lag darin. Nein, das hab ich überhaupt nicht verstanden und
wollte es eigentlich auch nicht wahrhaben, wie ich trotz meiner
Skepsis oder eben deshalb nicht dran denken wollte, daß ich
einer Agentin der Gegenseite in die Hände gefallen war. Am
andern Tag sah ich Katja übrigens nicht mehr, ich wüßte
sowieso nicht, woran ich sie wiedererkennen könnte. Vielleicht
flog sie kurz an mir vorbei im Arm eines andern, ich weiß
nicht, lieber überschlag ich mich in Toleranz und Verzicht
und fühle mich eigenartig erleichtert.
Ich hab auch immer nicht verstanden, was sie an mir fand, meine
ganze Selbstachtung war dahin, und wenn ich mich dabei ertappte
von mir selbst zu reden, fühlte ich mich wegen meiner Angeberei
doppelt beschissen. Ich gab mir dann Mühe ihr Lachen als Spott
zu deuten, und was andres hätte ich nicht verdient, obwohl
sie sagte, es sei in Ordnung, wenn ich von mir spräche. Nein,
ich schäme mich vor dir, und deine Nachsicht macht mich noch
verlegener, gestand ich. Mir ist ja bekannt, daß Männer
beim Flirten zur Selbstbeweihräucherung neigen, und sei es
nur als große Frauenversteher der feministischen Sorte, weshalb
ich mich schon bemühe, das Gegenteil alles mir Denkbaren zu
tun. Verflucht kompliziert ist das, wie die unerbittliche Denksucht
am laufenden Band Skrupel produziert, die Skrupel machen Verlierertypen,
und die Verlierertypen begreifen nicht, wenn eine schöne Frau
mit ihnen spricht, sondern fürchten den nachfolgenden Spott,
die Blamage, und daß sie so nichtig und klein gemacht werden,
wie sie sich ohnehin fühlen. Aber muß man das dann noch
gesagt kriegen, zu spüren kriegen?
Ich weiß nicht, warum ich es nicht glauben kann, eigentlich
sollte ich froh sein, aber plötzlich krieg ich Angst vor dir,
und daß es nicht wahr ist. Ich erschrecke förmlich, wenn
ich dran denke, daß ich gleich aufwache und sehe, daß
ich mich getäuscht habe - du bist so unerwartet gekommen, und
dann gleich so nah. Das geht mir doch genauso, ich würde auch
erschrecken, wenn es so schnell geht, aber jetzt nicht, ich bin
es sozusagen nicht selbst. Youre the spirit of music, haha!
Weißt du, was der Hippie-Engel zu Bob Geldof gesagt hat? Love
ist all around, its coming up from under the ground. Liebe
für dich und mich, Liebe für alle die nicht geliebt werden
Liebe für ganze Europa, Liebe für Freiberg und Utopia.
Auf Englisch klingts glaub ich etwas anders, aber schön, nicht?
Um in Dialekt zu bleiben, müßte ich eigentlich ständig
mit einem fragenden sächsischen No antworten, aber
das bringt mich aus dem Konzept wie bei den Griechen, wenn sie den
Kopf schütteln und Ja meinen. Bei meiner neunundzwanzigsten
Verlegenheitspause schüttelt sie dann ihren griechischen Kopf
und ihre ausgebleichten Rastalocken - ich will noch nicht gehen,
ich bin noch nicht müde. Sodann legt sie ihren Kopf auf meine
Schulter und fragt, bist du ein Hippie? Was meinst du, ist dies
Festival nicht der beste Grund auszusteigen und lauter ausgeflippte
Sachen zu machen? Ich hab doch grad erst angefangen mit Studieren,
gibt sie zu bedenken. Aber sag erst, bist du ein Hippie? Hippies
sind Aussteiger und alle ein bißchen verrückt, aber ich
find mich nicht verrückt. Oder doch? Doch, sehr, ich weiß
nur nicht, wie ich das sagen soll. Na gut, und an eurer Uni in Leipzig
kann etwas Hipness auch nicht schaden. Weißt du, ich glaub,
die die dies Festival organisieren, wollen wirklich dem Geist der
Hippies zum Durchbruch verhelfen. Ich hab mit einigen von ihnen
gesprochen, Kiehnchen hat vor 10 Jahren die erste Hippieparty hier
veranstaltet, es war in einem Klub, und 600 Leute sind gekommen.
Diesmal sind 3000 hier. Kiehnchen hab ich gefragt, was denn der
Geist der Hippies wär, und irgendwie hat er sich wohl geniert,
eine schlaue Antwort zu geben (was verständlich ist, denn sonst
hätt ich sie jetzt hier hingeschrieben). Aber er ist ja selbst
ein Hippie und Indienfahrer, das reicht. Soviel weiß ich jedenfalls,
daß Kiehnchen hier keine Kirmes machen will mit einer Freßbude
nach der andern, und auch keine Stände von Drum, Red Bull oder
Marlborough, die alles an sich reißen, viel Platz beanspruchen
und natürlich Geld bringen. Geld?
Weißt du warum die Menschen sich hier so wohl fühlen?
Besser als in Burg Herzberg und jedem Umsonst&Draußen
Festival? Weil sie hier Freiheit finden, die Bühne ist klein,
und der Platz ist groß und abwechslungsreich. Denn je größer
die Bühne und je teurer die Band, desto schlimmer ist der Kulturdogmatismus,
aber hier wird an allen Ecken und Enden was gemacht, Musik, Frisbee,
Trommeln am Lagerfeuer, Meditation im Wigwam, Inspiration im Bambusdome,
Diskutieren an Infoständen, Kennenlernen im Chaishop, oder
ein guter Yogitee mit Energiekugeln - das hat was. Nichts ist hier
das wichtigste, alles ergänzt sich, und umgekehrt spürt
man, daß hier keiner unwichtig ist, das ist nämlich Demokratie
- und das ist das Geheimnis! Und auf die Preise an den Ständen
achten die Veranstalter auch, damit es kein Konsumtrip wird. Das
merken die Leute nämlich sofort, wenn ihnen das Geld aus der
Tasche gezogen wird, irgendwann sind sie so frustriert, daß
sie sich nur noch besaufen, Pillen einwerfen und ... naja, krepieren
wohl nicht, Sanitäter sind ja bei jedem Festival. Die Stars
auf den großen Bühnen sind zu blöd das zu merken,
oder finden, das muß so. Und dann schwafeln sie was von Unterdrückung,
Gerechtigkeit, Liebe, und lassen sich von der Security abriegeln.Viele
Festivals waren ursprünglich mal ganz gut, wie Vlotho oder
Burg Herzberg, nee, ich vermute mal, auch Fusion geht noch bergab.
Man behauptet, die Dinger würden zu groß, und dann käm
die kommerzielle Unterdrückung von selbst, aber das stimmt
nicht, Woodstock war auch nicht zu groß, oder Vlotho in der
besten Zeit, als sie noch auf der Autobahn campiert und gefeiert
haben, alle Straßen warn verstopft, kein Durchkommen, das
war lustig. Nein, nicht die Größe ist es, sondern der
Größenwahn, darüber sollte mal diskutiert werden,
zB mit denen hier von Freiberg, mit Eule von Fusion, Annette und
Heinz von Stemwede, Lars, Lothar, Wolfgang und alle von Vlotho,
Manni Neumeier, Wolfgang Sterneck, Ralle und die Leute aus Halle,
Harvey, Olli, Kalle Becker, Hartmut und Ralf aus Würzburg -
ich glaub, einige haben da sehr gute Ideen, aber der Größenwahn
packt die Leute, wenn erstmal die Stars auf der Bühne stehen.
Und damit der Größenwahn auch beim Konsumenten ankommt,
gibts Alk und Ex und Koks, der kleine Bürohengst aus Osnabrück
hat ja den Schotter für einen kompletten Drogenmix, haut aufn
Putz, und dann geht alles den Bach runter.
Kultur kann es nur geben, wenn es unsere Kultur ist, und dazu müssen
wir alle beitragen, beziehungsweise müssen auch durch so einfache
Mittel wie die Gestaltung des Platzes die Möglichkeiten schaffen,
daß alle sich einbringen können. Zentralismus ist Unkultur,
das können wir getrost dem ZDF überlassen, den Kulturbürokraten,
den literarischen Obergurus, den Medienkapitalisten und Narren wie
Stuckrad-Barre. Die Arbeit eines Künstlers zu verstehen, und
daß er sich verstanden fühlt, hat nichts mit der Gage
zu tun, sondern mit Liebe und Gemeinschaft - die zu schaffen ist
das wichtigste bei unsern selbstorganisierten Festivals. Und das
Geheimnis des Flower-Power-Festivals ist wie gesagt eine wohldurchdachte
Gleichwertigkeit und Harmonie aller Beteiligten bis hin zu den türkischen
Gyrosbäckern, die übrigens linke Genossen sind. Holger
hat alle Stände persönlich ausgesucht, sie auf andern
Festivals kennengelernt und eingeladen, wenn er meinte, daß
sie zur Idee des Festivals passen. Sie haben die Alternative zwischen
good vibrations oder Abzocke, und ob sie durch überhöhte
Preise dem ganzen eher schaden oder fair und konstruktiv mitmachen,
im positiven Fall tragen diese Marockoreisenden und Morgenlandfahrer
(Hesse) einen bedeutenden Teil zum Spirit und zur Hipness bei.
Von manchen selbstorganisierten Festivals weiß ich leider,
daß die Räucherstäbchenverkäufer bloß
als Kühe zum Melken angesehn werden, die Standgebühren
werden hochgezogen, und den Druck geben sie dann mit hohen Preisen
weiter. Die Organisatoren sind bloß geil drauf mit Künstlern
auf der Bühne zu stehen, und das Partyvolk brauchen sie für
ihren Ruhm, ansonsten verschanzen sie sich backstage, mißtrauen
den Groopies und streiten mit ihnen um Catering oder andre Vergünstigungen,
und vor allem haben sie Angst, daß sie bei Regen draufzahlen
müssen. Zum Glück gibt es noch ein paar astreine Goaparties,
weit weg in der Pampa, kein Ibiza-Pop, sondern fachkundige Elektroschrauber,
liebevolle Landschaftsdekoration ... apropos, in Freiberg haben
etwa 50 Mädchen in 2 Tagen einige hundert Stoffbahnen geschneidert
und mit bunten Motiven benäht, mit denen alle Bauzäune
verhängt wurden (denn so nah an der Stadt geht es nicht ohne
Zäune.) Für den Goaplatz haben sie einen LKW Sand angefahren,
und um den so geschaffenen Strand diese netten Holzliegestühle
mit gestreiften Stoffbahnen gestellt. Ach, und die Stringartplastik
dadrüber hat Kiehnchen fabriziert. Insgesamt sind es dreihundert
Freunde und Freunde von Freunden aus Freiberg und von weiter her,
die mitmachen, niemand bekommt Geld dafür, nur die Gemeinschaftsverpflegung,
und es sind sogar 14- und 15-Jährige, die mithelfen. 2 Wochen
vorher haben sie angefangen, das alles hier zu gestalten, anstatt
daß sie Urlaub machen, und Holger meinte, das sei wohl das
entspannteste Festival, das sie bisher erlebt hätten. Es wird
schon überlegt, die Zäune wegzulassen wie bei little Woodstock
in Freiburg, wo immerhin die Hälfte der Besucher freiwillig
Eintritt zahlen, oder die Security unsichtbar zu machen wie bei
Fusion, aber dann müßte es weiter weg von Freiberg sein
... über das alles unterhalten wir uns in der Nacht, es ist
erstaunlich, wieviel man sich in ein paar Stunden erzählen
kann.
.....
Ich glaub, die meisten Leute wissen nicht, was Hippie ist, sie
haben bloß ein Klischee im Kopf von friedlich und ein bißchen
doof, und Blumen natürlich, aber daß es die schärfste
Widerstandsbewegung des 20. Jahrhunderts war, das wird auf arrogante
neoliberale Art beiseite gewischt. Bezeichnenderweise waren es nämlich
Rambo, Reagan, Thatcher und die neoliberale Entfesselung der Ökonomie,
die die Kulturrevolution der Hippies abgewürgt haben - vorerst!.
Aus einer ahnungsloseren Perspektiven sollen es zwar die APO, die
Befreiungsbewegungen der Dritten Welt, Che, Leila Chalid, die RAF
oder der Superterrorist Carlos gewesen sein, die in den 60er bis
80er Jahren die fortschrittlichsten politischen Kräfte waren,
und es gab sogar welche, die die Heimat aller Werktätigen,
die Sowjetunion für die entscheidende Befreiungskraft gehalten
haben, aber der tiefgreifende soziale und kulturelle Wandel, der
zutreffend nur als Kulturrevolution bezeichnet werden kann, wurde
von solchen Bewegungen und Gruppen weder angestrebt noch betrieben.
Subjekt der Kulturrevolution ist das ganze Spektrum der neuen Subkultur,
der Hippies im weitesten Sinne, ihrer Musik ganz besonders, aber
auch des unkonventionellen Lebensstils und der Lebensauffassung,
an der sich Eltern, Lehrer und Politiker die Zähne ausgebissen
haben. Das war die totale Antithese gegen die westliche Zivilisation
- was wir heute mit Bin Laden und den Islamisten erleben, sind dagegen
Peanuts. Und um auch das klarzustellen, Punk, Sex Pistols und McLaren
waren ebenso wie Neil Young und Nirvana nur Strömungen und
Ableger dieser großen kulturellen Umwälzung. Für
sich allein steht weder Punk noch Grunge noch die vielen kleineren
Stile alsetwas Umwälzendes, und die altbekannte Konkurrenz
zwischen Hip und Punk bedeutet nicht etwa eine gleichwertige Gegenthese,
zumal sich Elemente wie die kulturelle Verweigerung und Umwertung
zu sehr gleichen, sondern nur eine Erneuerung dieser Verweigerung,
was ja auch für den Grunge kennzeichnend ist. Der authentische
Techno bezieht sich übrigens wieder ausdrücklich auf die
Hippiekultur (wie auch die Chemical Brothers).
Übrigens bin ich fast der einzige, der diese Theorie der Kulturrevolution
vertritt (Leary sieht es etwas ähnlich), jedoch verzage ich
deshalb nicht und hoffe sogar, daß diese optimistische Geschichtsauffassung
irgendwann Anklang findet, und die Leute davon gut draufkommen.
Bei den Hippies des neuen Jahrtausends bestehen da gute Aussichten,
die Stimmung wird immer besser, die Hippies der 60er und 70er waren
ja nur Vorstufe, wie Hermann Hesse es nennen würde, und er
selbst war auch Vorstufe, ebenso wie die Wandervögel. Pessimisten
sind ja der Meinung, die Weltkriege seien die bedeutendsten Ereignisse
des letzten Jahrhunderts, weil Kriege alles neu ordnen, alte Verhältnisse
beseitigen und neue installieren, aber dieser Vater aller
Dinge (Heraklit) ist primär ein Zerstörer (zB von
Athen und Sparta). Dagegen stelle ich mir das Befruchtende doch
eher als positiven Akt vor, entscheidend ist ja nicht, wo es rückwärts
geht, sondern was uns weiter bringt. Sicher hat die Kulturrevolution
viele alte Strukturen beseitigt, doch dazu bedurfte es keiner Zerstörung,
anders machen reicht, die Umwertung aller Werte (Marcuse) ist der
entscheidende Neuerungsprozeß im letzten Jahrhundert. Bakunin
mit seiner schöpferischen Lust an der Zerstörung hätte
sich bestimmt gewundert, daß es auch so geht.
Und dann kam Katjas Frage nach meinem Alter, wobei ich vielleicht
an den Steppenwolf denken sollte - sie das junge Ding mitten im
Leben, in Blüte und Kraft, und ich am Rand dieses Vergnügungsparks
und überhaupt am Rand, am Rand der Existenz, der Anteilnahme
und wohl auch der Berechtigung am Glasperlenspiel der Lebensfreude
teilzunehmen. Aber ich kann diese Ausgrenzungsgründe nicht
akzeptieren, weder bring ich es über mich, Katja oder sonst
wen von oben herab zu behandeln, sondern möchte mich eher unterordnen,
noch bin ich bereit mich wegen irgendeines mir anhaftenden Mangels
stigmatisieren zu lassen. Nein, das mit dem Steppenwolf ist Hesses
heroischer Fatalismus, sowas liegt mir nicht. Aber darum geht es
mir nicht besser, denn wie zum Spott scheint sich ein Mißverständnis
zwischen uns zu drängen, wenn sie ihr aufreizendes Lachen lacht,
das mir gefällt, und überhaupt gefällt mir alles
an ihr, aber es ist eine einzige Frage, die mich quält: woher
kommt mir das, meint sie mich, kennt sie mich denn? Ja, sie meint
mich und beschwichtigt mich, sie verringert den Abstand des Verstehens,
wie um durch die Haut zu sehen, wie eine psychedelische Brücke
ohne sprachliche Umwege. Sie sei wirklich nicht betrunken und ich
soll nicht so erschrocken sein, deshalb gebe sie mir doch ihre Hand,
ob ich das nicht spüre? Ich spüre, mir fehlt nur der Glaube.
Wo muß ich meine Hand hinlegen, um deinen Glauben zu stärken?
Keine Ahnung, aber ich bin einige Stunden glücklich verwirrt
, und unbegreifliche, gute Hände verselbständigen und
vervielfachen sichwie Blätter eines Baumes, unter dem icham
Vortag mit meinem Herder gesessen habe. Es läßt sich
nicht so gut unterscheiden, was noch zum Augenblick gehört,
und was vorher war, manchmal wenn sie lacht und redet, höre
ich nicht mehr einzelne Worte, sondern der Klang ihrer Stimme dehnt
sich wie eine Wolke oder wie eine Aura aus und umschließt
mich. Einen Moment glaubte ich sogar diese Aura zu sehen, sie ging
nicht von ihrem Mund oder Gesicht aus, sondern von den Armen, von
der Brust, vielleicht sogar vom Rücken. Ich fühle mich
von deiner Sprache umarmt. Es wäre mir lieb, wenn du nicht
mehr aufhörtest zu reden, und auch nicht zu lachen.
Ich mag mein Lachen nicht.
Weil du es nicht beherrschen kannst.
Es platzt ja so raus, ich versuch dann hinterher zu rennen und es
einzuholen ... aber es ist wohl besser, wenn ich das nie schaffe.
Außerdem mag ich lieber so eine dunkle Stimme, die sich nach
was Festem anfühlt wie Erde oder ein Baum, auf den ich mich
stützen kann. Und dann lehnt sie sich wieder an meine Schulter.
Versprichst du mir, daß es wahr ist, daß die Liebe überall
ist?
Wie kann man dergleichen versprechen?
Versprichst du mir lauter ausgeflippte Sachen zu machen?
Ja, ich werde immer dabei an dich denken.
Sie löst ein dünnes Kaufhauskettchen mit einem Tierkreiszeichen
von ihrem Vanillehals und hängt es mir um ... jetzt stehen
wir in kosmischer Verbindung. Wir dürfen uns nicht zähmen
lassen, von niemand, nicht von der Schule, vom Staat, von der Kirche,
von der Existenzangst, vom Bankkonto und auch nicht von dem, den
wir lieben. Das ist wie Born to be wild von Steppenwolf. Fühlst
du dich so, born to be wild? Ein bißchen schon, jedenfalls
wenn du es fragst. Born to be wild heißt ja wohl, daß man sich nirgends unterordnet, nee, das tu ich bestimmt nicht.
Aber Katjas Hals duftet nach Vanille, und ich verscheuche einen
zarten Gedanken, indem ich mich mit Gewissensbissen quäle:
letztes Wochenende war ich beim Burg Herzbergfestival, einem riesigen
Hippietreffen mit zigtausen Freaks. Aber wirklich gut ist es da
nicht, und der der das organisiert hat (ich beginne unangenehm zu
lachen) hat einen Herzinfarkt bekommen. Und er hats aber überlebt
- weißt du, ich find das elend von mir bei sowas zu lachen,
das sieht wie Schadenfreude aus, aber eigentlich ist es mir nur
peinlich, meine Gefühle zu verraten, denn es ist doch grausam,
daß jemand, der so ein friedliches und schöpferisches
Zeltlager mit Musik und Kultur organisiert, beinah mit dem Tod bestraft
wird. Und das kommt bloß vom Geld, von der Kommerzialisierung,
immer teurere Bands, die Security usw, das hat er ja selbst gesagt,
von der Bühne hat er es geschrien, kurz bevor er umgefallen
ist. Da hängt soviel dran, die Eifersüchteleien der Künstler
zum Beispiel ... wovon ich auch nicht frei bin, ich mach gerne viel
umsonst, aber wenn es Gage gibt, möchte ich nicht unfair behandelt
werden und weniger als andre kriegen. So schaffe ich es eine zeitlang
die zarten Gedanken zu verscheuchen, und wenn ich mich wieder dran
erinner, ärger ich mich über meine Unaufrichtigkeit und
... hälst du das eigentlich noch aus, wenn ich soviel kreuz
und quer rede?
Sie nickt eifrig und fängt dann plötzlich, indem sie
mir die Hände auf die Brust legt, in sprudelndem Ausbruch etwas
an zu erzählen, von ihren Eltern, ihrem Bruder, von Lessing,
von der Literatur oder von einem Hippietraum, wie die Menschen besser
gemacht werden können, und ich wünschte, daß das
alle auf diesem Festival hören können, und Burg Herzberg
dazu, und auch Kalle Becker im Krankenhaus. Es ist nicht super logisch
und konsequent und widerspruchsfrei, was sie sagt, bei Hippies darf
das auch nicht, aber ein warmes mitreißendes Gefühl,
das in gewisser Weise - ich muß es gestehen - sexuell ist,
sexuell nicht im sportlichen Sinne oder als Konsum, sondern wie
man eine ganze Welt umarmen möchte.
Ich weiß ja nicht, ob noch mehr Menschen bei diesem Festival
so eine Befreiung ihrer Gefühle erlebt haben (übrigens,
wer es noch nicht weiß, Sex findet im Kopf statt, spirituell!),
aber wenn es auch nur eine Wochenendutopie ist, gibt es den Menschen
wenigstens Ausblicke auf eine mögliche Harmonie, auf Selbstverwirklichung,
Gemeinschaft, Toleranz und Buntheit, Einfachheit und spontane Begeisterung
für die Mitmenschen - am liebsten hätte ich mir von allen
ein Foto gemacht, aber das trau ich mich denn doch nicht, wahrscheinlich
weil zu der Begeisterung füreinander gewissermaßen als
Bedingung eine besondere Rücksicht dazugehört. Mit den
Blumen haben wir das üben können, und einige haben ihre
sorgsam gehüteten Blumen sogar mit nach Hause genommen- naja,
ich will nicht zu romantisch werden: als wir aufbrachen, nahm Alex
unsre zwei Studentenblumen und fragte, was machen wir mit denen?
Mitnehmen? Laß mal riechen. Er hält sie mir vor die Nase
- die riechen aber ziemlich verqualmt! Und er verlegen, daß er mit der Hand wohl schon etliche Zigaretten heute geraucht habe.
Die stinknormale Wirklichkeit hat uns also wieder.
Herrmann Cropp
www.packpapier-verlag.de
www.flowerpowerfestival.de
Dank an Herrmann Cropp.
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