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Wolfgang Sterneck:
DIE TIEFERE BEDEUTUNG
- DADA, HAPPENING UND FLUXUS -
- Dada und die neue Sprache -
- Das Happening und die fließenden Grenzen -
- Fluxus und die Ereignismusik -
In seiner Ablehnung der bürgelichen Kultur suchte der Dadaismus
nach neuen Ausdrucksformen und stellte mit skurrilen und scheinbar
absurden Aktionen die Bedeutung von Sinn und Unsinn grundsätzlich
in Frage. Jahrzehnte später nahmen die Happening- und Fluxus-Bewegungen
Elemente des Dadaismus auf und entwickelten sie eigenständig
weiter.
DADA UND DIE NEUE SPRACHE
Im krassen Gegensatz zum italienischen Futurismus entstand Dada
aus der Ablehnung des ersten Weltkrieges und der gesellschaftlichen
Strukturen, welche diesen verursachten. Insbesondere aus Deutschland
flüchteten viele KriegsgegnerInnen nach Zürich, der Hauptstadt
der neutralen Schweiz. Dort gründete der Dichter Hugo Ball
im Frühjahr 1916 mit dem Cabaret Voltaire ein Veranstaltungslokal,
das zum Ausgangspunkt der dadaistischen Bewegung wurde.
Eine kleine, allerdings schnell anwachsende Gruppe von EmigrantInnen,
zu der unter anderem Hans Arp, Emmy Hennings, Richard Huelsenbeck
und Tristian Tzara gehörten, nutzte den neugeschaffenen Freiraum.
Bald überboten sie sich in der scheinbaren Sinnlosigkeit und
Absurdität ihrer Auftritte, in deren Mittelpunkt vielfach der
Vortrag sogenannter phonetischer Gedichte stand, mit denen die Medien
Sprache und Musik miteinander verbunden wurden. Über die völlige
Abstrahierung von Lauten wollten die DadaistInnen bewußt auf
eine Sprache verzichten, die ihrer Meinung nach verdorben
und unmöglich(1) geworden war. So trat beispielsweise
Hugo Ball in einem bizarren und unförmigen Kostüm aus
Pappe und Karton auf und trug mit feierlicher Stimme das Gedicht
karawane vor, dessen Text auf einem Notenständer
befestigt war: bosso fataka / ü üü ü /
schampa wulla wussa olobo / hej tatta gorem / eschige zunbada /
wulubu ssubudu uluw ssubudu....(2)
Die Vorträge der Lautgedichte, die im Rahmen simultanistischer
Gedichte ausgeweitet und für den gleichzeitigen Vortrag mehrerer
Personen konzipiert wurden, waren zumeist von einer musikalischen
Geräuschkulisse begleitet: Klingeln, Trommeln, Kuhglocken,
Schläge auf den Tisch oder auf leere Kisten belebten die wilde
Forderung der neuen Sprache in der neuen Form und erregten rein
physisch ein Publikum, das anfänglich völlig benommen
hinter seinen Biergläsern saß.(3) Gezielt stellten
die DadaistInnen über solche Gedichte und Darbietungen, wie
auch über Collagen, Zeichnungen und Skulpturen, die Definitionen
von Sinn und Unsinn in Frage und fügten sie einer neuen Bedeutung
zu. In einer Zeit, in der widersinniges Morden zur höchsten
Vernunft erklärt wurde, gingen die DadaistInnen den einzig
konsequenten Weg, indem sie die herrschende Kultur und die darin
wurzelnden Kunstformen radikal verneinten.
Dada war wie alle kulturellen Strömungen eine Folge gesellschaftlicher
Verhältnisse und Entwicklungen. Entsprechend war die Bewegung
nicht auf Zürich und die dort aktiven Personen beschränkt,
auch wenn der Begriff Dada dort geprägt wurde. Ähnliche
Ansätze entstanden in New York und etwas zeitversetzt unter
anderem in Paris, Berlin und Köln. Verbindend war das Verständnis
von Dada als Wiederbelebung der in der bürgerlichen Gesellschaft
unterdrückten Kreativität und Spontanität. Darüber
hinaus spiegelte Dada die grundlegende Erkenntnis, daß jeder
Mensch ein Künstler bzw. eine Künstlerin ist.
Während in Zürich die politische Aussage Dadas vorrangig
in der Ausdrucksform und in dem damit verbundenen Bruch mit dem
Vorgegebenen zum Ausdruck kam, unterstützten die Berliner DadaistInnen
zeitweise offen kommunistische Zielsetzungen. In einem Manifest
forderte der Dadaistische Revolutionäre Zentralrat 1919 unter
anderem die internationale revolutionäre Vereinigung
aller schöpferischen und geistigen Menschen der ganzen Welt
auf dem Boden des radikalen Kommunismus. Darüber hinaus
trat der Zentralrat für die Verpflichtung der Geistlichen
und Lehrer auf die dadaistischen Glaubenssätze; die Einführung
des simultanistischen Gedichtes als kommunistisches Staatsgebet
und die sofortige Regelung aller Sexualbeziehungen im international
dadaistischen Sinne(4) ein. Bei aller Ironie basierten
die Aussagen auf der Forderung nach grundlegenden Veränderungen
in der Kunst und darüber hinaus in allen Bereichen der Gesellschaft.
Innerhalb der dadaistischen Bewegung nahm die Musik gegenüber
der Dichtung und den bildnerischen Werken eine untergeordnete Bedeutung
ein. Zumeist hatten musikalische Mittel eine begleitende und untermalende
Funktion, nur in wenigen Fällen experimentierten einzelne DadaistInnen
gezielt mit neuen musikalischen Ausdrucksformen. Trotz dieser Gewichtung
übte Dada langfristig auch auf die Entwicklung der Musik einen
großen Einfluß aus. Direkte Bezüge zum Dadaismus
lassen sich beispielsweise in den Kompositionen John Cages, in der
Musik der Fluxus-Bewegung und der Sound Culture erkennen. Entscheidend
hierfür waren, neben dem grundlegenden Selbstverständnis
Dadas, insbesondere einzelne Methoden wie die Collagentechnik, die
Erklärung beliebiger Gegenstände zu Kunstwerken (Ready-mades)
und die Verwendung des Zufallsprinzips.
Zu den DadaistInnen, die sich zumindest kurzzeitig auf den Bereich
der Musik einließen, gehörte Marcel Duchamp. Schon 1913
komponierte er zusammen mit seinen Schwestern Magdeleine und Yvonne
Duchamp mit Erratum Musical ein zufallsbedingtes Musikstück.
Die Geschwister beschrifteten Papierstücke mit Noten, mischten
diese in einem Hut und notierten die Reihenfolge, in der sie die
Noten zogen. Um einen Text für die Komposition zu erhalten
deutete Marcel Duchamp in ein Lexikon und stieß auf die Beschreibung
des Wortes imprimer (drucken). Später
nahm Duchamp die zufallsbedingte Methode des Komponierens wieder
auf und verfeinerte sie, indem er mit Noten beschriftete Bälle
in die Wagen einer Spielzeugeisenbahn fallen ließ. Auch hier
ergab die entstandene Reihenfolge der Noten ein Musikstück.
Kurt Schwitters orientierte sich insbesondere im Zusammenhang mit
der Ursonate, einem phonetischen Lautgedicht, in einer
freien Weise an musikalischen Gestaltungsprinzipien. So unterteilte
er die Ursonate in vier Sätze: einer Einleitung, einem
Schluß und einer Kadenz im vierten Satz(5) und faßte
seine rhythmischen Vorstellungen auch im Rahmen des gängigen
Notensystems zusammen. Der Text des ungewöhnlich langen Gedichts
basiert im wesentlichen auf Variationen verschiedener Laute: böwörötääzääUu
pögiff fümms böwötääzääUu
pögiff fümmes bö wö tää zää
Uu pögiff kwiiee kwiiee kwiiee.... Zum Charakter des
Vortrages schrieb Schwitters: Natürlich ist in der Schrift
nur eine sehr lückenhafte Angabe der gesprochenen Sonate zu
geben. Wie bei jeder Notenschrift sind viele Auslegungen möglich.
Man muß wie bei jedem lesen Fantasie haben, wenn man richtig
lesen will.(6)
Zu den wenigen MusikerInnen, die sich der dadaistischen Bewegung
anschlossen und versuchten eine entsprechende Musik zu entwickeln,
gehörte Jefim Golyscheff. Seine 1919 in Berlin aufgeführte
Antisymphonie, deren Notenmaterial, sofern überhaupt
schriftliche Aufzeichnungen des Stückes bestanden, verschollen
ist, wurde von Raoul Hausmann als ein Sammelsurium von Tönen,
die nicht mehr Harmonien sein wollen, die einfach Dada sind(7)
beschrieben. Golyscheff kündigte das Stück selbst an:
Man spielt Ihnen: Die Antisymphonie in drei Teilen (Die Kriegsguillotine):
a) Die provokante Spritze b) Die chaotische Mundhöhle c) Das
biegsame super F A. - Eh, eh, Herr Johann Sebastian Bach, Ihre wohltemperierte
Unordnung erlebt den Krach mit der dodekaistischen Antisymphonie!
Aus und vorbei mit dem tönernden Zopf einer, ach so herrlich
begründeten Tradition! Dada siegt auch in Tönen! Meine
Herrschaften, Ihre eingerosteten Ohren klingen? Lassen Sie sie durch
die musikalische Kreissäge zersägen! Spülen Sie die
Reste Ihrer Stimme mit Golyscheff aus Ihrer chaotischen Mundhöhle!(8)
Elemente einer dem Dadaismus verwandten Grundhaltung ließen
sich zudem bei Erik Satie erkennen, der allerdings trotz verschiedener
Bezüge nicht zum Kreis der DadaistInnen gehörte. Charakteristisch
für die Stücke Saties waren insbesondere ironisch-parodistische
und absurde Aspekte. So muß seiner Anweisung entsprechend
die Melodie des Stückes Vexations achthundertvierzig
mal wiederholt werden. Ein anderes Stück gestaltete er in Form
einer Birne, um dem oftmals an ihn gerichteten Vorwurf der Formlosigkeit
entgegenzutreten. Wegweisend wurde insbesondere das von Satie entwickelte
und für die damalige Zeit völlig neuartige Konzept der
Musique dAmeublement (Möbelmusik), das die Grundprinzipien
der Muzak und der Ambient Music vorwegnahm. Im Gegensatz zur herkömmlichen
Konzertmusik soll die Möbelmusik nicht im Vordergrund stehen,
sondern vorrangig zur Untermalung von Ereignissen und zur Bildung
einer bestimmten Atmosphäre dienen, ohne daß dies von
den HörerInnen bewußt wahrgenommen wird. Humorvoll entwarf
Satie mehrere Slogans, mit denen er für die Möbelmusik
warb. So forderte er beispielsweise: Betreten Sie kein Haus,
das nicht Möbelmusik benutzt.(9)
DAS HAPPENING UND DIE FLIESSENDEN GRENZEN
In vielen Projekten und Kompositionen des amerikanischen Komponisten
John Cage lassen sich Bezüge zum Dadaismus finden. Gemäß
seiner Vorstellung von verbindenden Zusammenhängen zwischen
scheinbar bezugslosen Ereignissen auf einer grundlegenden Ebene
konzipierte John Cage 1952 eine Aufführung am Black Mountain
Collage in deren Rahmen mehrere Kunstgattungen miteinander verknüpft
wurden. Wie viele seiner Kompositionen hatte die titellose Veranstaltung,
die rückblickend als das erste Happening gilt, einen offenen
Charakter. Im Vorfeld gab Cage nur einige allgemeine Richtlinien
vor, deren konkrete Umsetzung im einzelnen den beteiligten Personen
überlassen blieb. Er selbst trug während der Veranstaltung
einen zen-buddhistischen Text vor, den er durch Phasen des Schweigens
ergänzte. Robert Rauschenberg, von dem einige aus einer weißen
Fläche bestehende Gemälde im Raum ausgestellt waren, bediente
ein altes Grammophon und David Tudor spielte an dem von Cage entwickelten
Präparierten Klavier. Gleichzeitig tanzte Merce Cunningham
im Publikumsbereich und Mary Richards zitierte verschiedene Gedichte.
1958 knüpfte Allan Kaprow mit seinem Stück 18 Happenings
in 6 parts an die Veranstaltung in Black Mountain an. In einem
Loft, einem ehemaligen Lagerraum, inszenierte Kaprow in drei abgegrenzten
Bereichen gleichzeitig verschiedene, scheinbar zusammenhangslose
Vorgänge. So preßte eine Frau Orangen aus, eine andere
warf ständig einen Ball an die Wand und ein Mann zündete
neunzehn Streichhölzer an, um sie sofort wieder auszublasen.
Daneben musizierten und malten einige Personen, Filme wurden abgespielt
und Texte vorgetragen. Das Publikum, das in den Anweisungen ausdrücklich
als Mitspieler aufgeführt wurde, konnte jeweils nur einen Bereich
einsehen.
Einige Jahre später faßte Kaprow die Grundregeln des
Happenings zusammen: a) Die Grenzen zwischen Kunst und Leben
sollen so fließend wie möglich gehalten werden. b) Der
Ursprung der Themen, Materialien, Aktionen und die Beziehung zwischen
ihnen können aus jedem Ort und jeder Zeit stammen, der außerhalb
des Bereichs der KünstlerInnen liegen. c) Die Aufführung
eines Happenings soll an verschiedenen, weitverteilten Orten stattfinden,
die teilweise wechseln. d) Die Zeit sollte variabel sein. e) Happenings
sollten nur einmal aufgeführt werden. f) Die Rolle des Publikums
soll aufgelöst werden. g) Die Komposition eines Happenings
ist eine Collage aus zeitlichen und räumlichen Gegebenheiten.(10)
Neben der Aufführung von Kaprow, der nach Cage zumeist als
Begründer des Happenings angeführt wird, gab es nahezu
zeitgleich unabhängig voneinander mehrere ähnliche Projekte
in West-Europa und Japan. In Osaka arbeitete die Gutai-Gruppe unter
der Leitung von Jiro Yoshihara schon seit 1955 mit experimentellen
Ausdrucksformen, die dem Happening verwand waren. So wälzte
sich das Gutai-Mitglied Kazuo Shiraga bei einigen seiner Vorführungen
in einer schlammartigen Masse, Shuzo Mukai bemalte bei seinen Aktionen
große Holzbretter mit Kreisen, Kreuzen und Strichen und Saburo
Murakami durchsprang Papierleinwände.
In der Bundesrepublik Deutschland inszenierte insbesondere Wolf
Vostell Happenings mit einigen ausgeprägt akustischen Elementen.
Im Rahmen des rund sieben Stunden dauernden In Ulm, um Ulm
und um Ulm herum (1964) ließ er ein williges Publikum
mit Bussen an verschiedene Orte fahren, an denen die einzelnen Personen
mit Handlungsanweisungen konfrontiert und in vorher festgelegte
Abläufe integriert wurden. Neben einer Autowaschanlage, einem
Freibad und einem Ackerfeld bildete auch ein als Konzertsaal definierter
Militärflughafen eine Station des Happenings. Vostell schrieb
dazu: 16.00-16.15 Flugplatz / Publikumsanweisung: Bewundern
sie das Flugzeug! / Stuhlreihen sind von 3 Seiten um 3 Düsenmaschinen
gestellt. / Publikum nimmt Platz. / Die Piloten lassen 10 Minuten
ununterbrochen die Düsentriebwerke auf verschiedenen Stufen
arbeiten.(11)
FLUXUS UND DIE EREIGNISMUSIK
In einem engen Bezug zur aufbrechenden Praxis des Happenings entstand
in den frühen sechziger Jahren die Fluxus-Bewegung. Ausgehend
von der Erkenntnis, daß letztlich jede Schwingung ein musikalischer
Vorgang ist, wurden von den Fluxus-KünstlerInnen gleichermaßen
alltägliche Abläufe wie auch scheinbar absurde Handlungen
zu musikalischen Partituren erklärt. Der Kompositionsvorgang,
der zumeist vorrangig auf einem bewußten Definitionsprozeß
basierte, führte jedoch entgegen einer vielgeäußerten
Kritik keineswegs zwangsläufig zu einer grenzenlosen Beliebigkeit,
sondern basierte vielmehr auf einem veränderten Verhältnis
zu akustischen Vorgängen und auf einem erweiterten Verständnis
von Musik.
Wie schon im Bereich des Happenings gingen auch im Zusammenhang
mit der Entwicklung der Fluxus-Bewegung entscheidende Impulse von
John Cage aus. Cage hatte in den vierziger und fünfziger Jahren
unter anderem über die Verwendung des Zufallsprinzips, die
Integration des Geräusches in die Musik und die Definition
alltäglicher Vorgänge als Musik wesentliche Grundlagen
für die Fluxus-Kompositionen geschaffen. Bezeichnender Weise
nahmen eine Reihe bedeutender Happening- und Fluxus-KünstlerInnen,
wie zum Beispiel George Brecht, Dick Higgins und Allan Kaprow an
den von Cage geleiteten Kursen in der New School for Social Research
in New York teil. Rückblickend beschrieb Higgins den Einfluß
von Cage einmal wie folgt: Das Beste was in Cages Kurs passierte,
war, daß er uns ein Sinn dafür vermittelte, daß
alles geht - wenigstens potentiell.(12)
Ab 1962 setzte sich der von George Maciunas eingeführte Begriff
Fluxus, der sich im allgemeinen auf einen fließenden Zustand
bezieht, gegenüber der zuvor gängigen Bezeichnung Neo-Dadaismus
für die musikalischen Experimente der Cage-SchülerInnen
und ähnlich eingestellter KünstlerInnen durch. Maciunas
gehörte selbst zu den wichtigsten Vertretern der Strömung
und trug über die Organisation verschiedener Festivals in West-Europa,
sowie über den Versuch eine theoretische Grundlage der Fluxus-Bewegung
zu schaffen, entscheidend zur Verbreitung der entsprechenden Ideen
bei.
Im Gegensatz zu den meisten anderen VertreterInnen der Fluxus-Bewegung
vertrat Maciunas klare politische Positionen, die in seiner Definition
der Ziele von Fluxus deutlich zum Ausdruck kamen: Die Fluxus-Ziele
sind soziale (nicht ästhetische). Sie stehen ideologisch in
Verbindung mit denen der LEF-Gruppe - 1929 in der Sowjetunion -
und richten sich auf die stufenweise Eliminierung der schönen
Künste (Musik, Theater, Poesie, Prosadichtung, Malerei, Bildhauerei,
etc. etc.). Dies motiviert der Wunsch mit der Verschwendung von
Material und menschlichen Fähigkeiten aufzuhören und dieses
Material und diese Fähigkeiten auf sozial konstruktive Ziele
zu richten. So ist Fluxus strikt gegen das Kunst-Objekt als funktionslose
Ware, die nur dazu bestimmt ist, verkauft zu werden und dem Künstler
den Lebensunterhalt zu geben...(13)
Der Bezug zu den Positionen der Linken Front der Künste (LEF)
entsprach jedoch bestenfalls ansatzweise den tatsächlichen
Gegebenheiten. Er verdeutlichte vielmehr die für viele Fluxus-KünstlerInnen
charakteristische Selbstüberschätzung. Abgesehen von einigen
wenigen Projekten einzelner KünstlerInnen vertrat Fluxus als
Bewegung nur eingeschränkt sozial-revolutionäre Positionen
und hatte darüber hinaus zu keinem Zeitpunkt einen gesellschaftlichen
Einfluß, der mit dem der LEF-Gruppe vergleichbar gewesen wäre.
Auch von dem durch Maciunas propagierten Ziel des Anti-Individualismus
war Fluxus weit entfernt. Maciunas selbst wurde als leitende Persönlichkeit
der Strömung ein autoritäres Verhalten gegenüber
anderen KünstlerInnen vorgeworfen, das bis zur Festlegung reichte,
welche Personen Fluxus angehörten und auf den Festivals auftreten
durften. Darüber hinaus dienten viele Fluxus-Veranstaltungen
vorrangig zur Selbstdarstellung und Profilierung der KünstlerInnen,
anstatt den vorgeblichen Anspruch zu vermitteln, daß jeder
Mensch ein Künstler bzw. eine Künstlerin ist. Charakteristisch
für diesen Zustand war der Streit über die Frage, wer
sich selbst als Person zuerst zum Kunstwerk ernannt hatte.
Zum Kern der Happening- und der Fluxus-Bewegung gehörten mit
Alison Knowles und Yoko Ono nur zwei Frauen. Das Rollenverständnis
vieler Künstler, welches wesentlich zu dieser Situation beitrug,
kam deutlich in verschiedenen Konzerten und Happenings zum Ausdruck,
bei denen Frauen nackt auftraten, während die beteiligten Männer
in der Regel den bürgerlichen Kleidungsnormen entsprechend
mit Anzug und Krawatte bekleidet waren. Charakteristisch war zudem
das Verlesen pornographischer Texte, die vorgeblich zur Befreiung
der Sexualität beitragen sollten, dabei jedoch vielfach Frauen
die Rolle des passiven Lustobjekts zuwiesen. Erst in der Mitte der
sechziger Jahre formulierten zunehmend Aktionskünstlerinnen
wie Carolee Schneemann unter anderem über Performance-Darbietungen,
die ihre Wurzel im Happening hatten, eigene Sichtweisen und Erfahrungen.
George Maciunas Vorstellungen einer neuen konkreten Musik basierten
auf der Ablehnung der herkömmlichen musikalischen Ausdrucksformen,
die er als illusionistisch und künstlich kritisierte. Als Alternative
entwickelte Maciunas die Vorstellung einer Musik, welche die Welt
in ihren konkreten Erscheinungen darstellen soll. In
der Musik nimmt der Konkretist das Klangmaterial mit der ganzen
ihm innewohnenden klanglichen Vielfarbigkeit auf und gibt es auch
so wieder, ohne nach Tonstufen zu unterscheiden und ein entstofflichtes,
abstraktes, künstlich von allen klanglichen Beimischungen gereinigtes
Tongebilde herzustellen.(14) In seinem programmatischen Vortrag
Musik für Jedermann führte Maciunas in diesem
Zusammenhang folgende Beispiele an: Ein Ton, der auf der Tastatur
eines Klaviers angeschlagen wird, oder eine für den Kunstgesang
ausgebildete Stimme sind immateriell abstrakt, künstlich, da
deren Klang nicht eindeutig genug ihre Herkunft und materielle Wirklichkeit
bezeichnet. Ein Ton, der zum Beispiel durch einen Schlag mit dem
Hammer auf dasselbe Klavier entsteht oder dadurch, daß jemand
von unten dagegen tritt, ist stofflich und konkret, weil ihn viel
deutlicher die Härte des Hammers, die hohle Beschaffenheit
des Schallgeräusches beim Klavier und die Resonanz der Saiten
wahrnehmbar macht.(15)
Wolf Vostell betonte rückblickend die enge Verknüpfung
von akustischen und visuellen Aspekten innerhalb der Fluxus-Musik,
die insbesondere bei den Konzerten zum Ausdruck kam: Meistens
war der visuelle und der akustische Vorgang gleichzeitig das unverwechselbare
Ereignis. Von Fluxus ist die Visualität nicht zu trennen. Der
visuelle Prozeß macht das Geräusch erst möglich.
Das ist im Grunde eine Live-Musik durch Live-Vorgänge - Ereignismusik!(16)
Beispielhaft für eine derartige Ereignismusik waren die Stücke
Nam June Paiks, einem der einflußreichsten Fluxus-Künstler.
1962 führte Paik eine Komposition auf, bei der er langsam mit
beiden Händen eine Geige hob, bis sie sich senkrecht über
seinen Kopf befand, um sie dann in einer schnellen Bewegung auf
einem vor ihm stehenden Tisch zu zerschlagen. Ein Jahr zuvor hatte
er während eines Aufenthalts in Köln eine Geige hinter
sich hergezogen, die an einer Schnur befestigt war.
In Wuppertal gestaltete Paik 1963 die Musikausstellung Exposition
of music - Electronic television in der etwa zwanzig, für
das Publikum benutzbare Klangobjekte aufgestellt waren. Ich
ließ die Zuschauer am musikalischen Geschehen aktiv teilnehmen.
Ich wollte keine bloße Vorführung von Musik
wie üblich, sondern die Musik durchschaubar machen, offenlegen.
Dazu habe ich verschiedenartige Musikinstrumente so in einem Raum
aufgestellt, daß die Gäste sie spielen konnten, wie sie
wollten...(17) Zu den in mehreren Räumen installierten
Klangobjekten gehörten präparierte Klaviere, die mit Gegenständen
und Materialien, darunter Kinderspielsachen und Stacheldraht, behängt
und beklebt waren. Die Tasten ließen sich nur vereinzelt betätigen,
in einigen Fällen löste ein Druck bestimmte Mechanismen
aus, wie zum Beispiel die Bewegung eines Hammers, der auf Klaviersaiten
schlug. In anderen Räumen waren Fernsehgeräte, Tonbänder,
Schallplattenspieler und Mikrophone installiert, deren Betätigung
zumeist weitere klangerzeugende Prozesse auslösten. Vor dem
Haus hingen in Anlehnung an die ost-asiatischen Windspiele Eimer,
Kanister und Holzgegenstände, die durch Luftbewegungen aneinander
stießen und so ohne direkte Betätigung durch einzelne
Personen Musik erzeugten.
Großes Aufsehen erregte in der zweiten Hälfte der sechziger
Jahre die Zusammenarbeit Paiks mit der Cellistin Charlotte Moorman.
In den zumeist von Paik konzipierten Aufführungen verfremdete
Moorman klassische Stücke oder spielte experimentelle Kompositionen,
wobei sie ihr Instrument allerdings nicht immer im herkömmlichen
Sinne benutzte, sondern es in einigen Fällen durch den Raum
trug oder zusätzlich einen menschlichen Körper als Klangerzeuger
einsetzte. Das große öffentliche Interesse an den Konzerten
von Paik und Moorman wurzelte allerdings in einem wesentlichen Maße
in der äußeren Erscheinung der Musikerin, die vielfach
mit unbekleideten Oberkörper auftrat und deshalb sogar 1967
in New York während eines Auftritts verhaftet wurde.
Der spätere Fluxus-Künstler La Monte Young experimentierte
seit den späten fünfziger Jahren mit minimalistischen
Ausdrucksformen. Wie schon Yves Klein, der im Zusammenhang mit seinen
einfarbigen Bildern 1949 mit der Symphonie monoton-silence
ein Stück geschaffen hatte, das nach einer einleitenden Phase
der Stille ausschließlich auf der unablässigen Wiederholung
eines Klanges basierte, erstellte Young äußerst einfache
und monotone Klangfolgen. So bestand seine Composition 1960
No. 7 aus einem einzigen Ton, dessen Darstellung mit dem Zusatz
Ein lange Zeit zu halten versehen wurde. Die Anweisungen
für ein anderes Stück reduzierte er auf schwarze Linie
auf einem weißen Stück Papier.
Im Rahmen von George Brechts Komposition String Quartet
sollen vier MusikerInnen die Bühne betreten, sich wie üblich
setzen, um ein Stück vorzutragen, dann aber ohne ihre Instrumente
gespielt zu haben, wieder aufstehen, sich die Hände schütteln
und die Bühne verlassen. Die Drip Music bestand
aus der Anweisung, eine Quelle tropfenden Wassers und einen leeren
Behälter so aufzustellen, daß das Wasser in den Behälter
fällt. Brecht realisierte die Komposition, indem er eine Klangplastik
schuf, die er aus einer Leitung, einem Wasserhahn und einer Auffangschale
herstellte. Dick Higgins formulierte im Zusammenhang mit seiner
Kompositionsreihe Danger Music zumeist kurze Aufforderungen
oder Festellungen wie zum Beispiel: Zieh deinen alten Mantel
aus und kremple dir die Ärmel hoch. In Eric Andersens
Opus 37 wird das Publikum zuerst angewiesen den Konzertsaal
zu verlassen, um ihm dann mitzuteilen, daß ein Ton erzeugt
wird, der für menschliche Ohren nicht wahrnehmbar ist. Die
Dauer des Konzertes errechnet sich aus der Anzahl der Personen und
der Schwingungssequenz des Tones.
Benjamin Patterson fotografierte in Anlehnung an John Cage Ameisen
auf einem weißen Blatt Papier von deren Positionen er die
Anordnung von Klängen ableitete. In einer anderen Komposition
definierte Patterson den Flug einer Fliege in einem dunklen Zimmer
als Musikstück. Der tschechoslowakische Künstler Milan
Knizak spielte dagegen zerkratzte, durchbohrte und beklebte Schallplatten
in unterschiedlichen Geschwindigkeiten ab, um so bereits strukturiertes
akustisches Material zu deformieren und gleichzeitig neu zusammenzusetzen.
Als Bezeichnung für diese Form der Komposition wählte
Knizak, der mit seiner Gruppe Aktual großen Einfluß
auf die Entwicklung des gegenkulturellen Undergrounds in der CSSR
hatte, den programmatischen Begriff Broken Music (Zerstörte
Musik).
Die Bedeutung der Fluxus-Kompositionen, so banal einzelne Stücke
rückblickend auch erscheinen mögen, lag in der Freisetzung
der zumeist durch vielschichtige gesellschaftliche Prozesse unterdrückten
Kreativität der beteiligten Personen. Unter der Voraussetzung
einer offenen Haltung der Aufführenden wie auch der Zuhörenden
gaben sie der Phantasie neue Entfaltungsräume, die in anderen
Musik- und Kunstbereichen nicht gegeben waren. Fluxus knüpfte
damit trotz der verschiedenen mit der Bewegung verbundenen Widersprüche
an eine Tradition der Avantgarde an, die über das gängige
Kunstverständnis hinausgehend eine befreiende Bewußtseinsveränderung
anstrebt.
(1998)
Anmerkungen:
1) Ball, Hugo / Die Flucht aus der Zeit. (1927). (Verlag Josef Stocker).
Luzern, 1946.
2) Ball, Hugo / Karawane (1919). In: Riha, Karl (Hrsg.) / 113 dada
Gedichte. (Wagenbach). Berlin, 1982.
3) Richter, Hans / Dada - Kunst und Antikunst. (1964). (DuMont).
Köln, 1978.
4) Der Dadaistische Revolutionäre Zentralrat Gruppe Deutschland
/ Was ist der Dadaismus und was will er in Deutschland? (1919).
In: Riha, Karl (Hrsg.) / Dada Berlin. (Reclam). Stuttgart, 1977.
5) Schwitters, Kurt / Ursonate. (1922-1932). In: Lach, Friedhelm
(Hrsg.) / Kurt Schwitters - Das literarische Werk. (DuMont). Köln,
1973.
6) Schwitters, Kurt / Zeichen zu meiner Ursonate. (1932). In: Lach
/ Schwitters. (Siehe 5).
7) Hausmann, Raoul / Jefim Golyscheff. (1970) In: Riha, Karl (Hrsg.)
/ Raoul Hausmann - Am Anfang war Dada. (Anabas Verlag). Giessen,
1980.
8) Jefim Golyscheff zitiert in: Hausmann, Raoul / Jefim Golyscheff.
(1970). In: Riha / Hausmann. (Siehe 7).
9) Satie, Erik / Musique dAmeublement. (1917). In: Volta,
Ornella (Hrsg.) / Erik Satie - Schriften. (Wolke Verlag). Hofheim,
1988.
10) Kaprow, Allen / Assemblage, Environments and Happenings. (Harry
N. Abrams). New York, 1966.
11) Vostell, Wolf / In Ulm, um Ulm und um Ulm herum. In: Becher,
Jürgen und Vostell, Wolf (Hrsg.) / Happenings, Fluxus, Pop
Art, Nouveau Realisme. (Rowohlt). Reinbeck bei Hamburg, 1965.
12) Higgins, Dick / On Cages classes. In: Kostelanetz, Richard
(Hg.) / John Cage. (Penguin). London, 1971.
13) Aus einem Brief von George Maciunas an Tomas Schmit. (1964).
In: Becher / Happenings. (Siehe 11).
14) Maciunas, George / Neo-Dada in den Vereinigten Staaten. (1962).
In: Becher / Happenings. (Siehe 11).
15) Siehe 14).
16) Vostell, Wolf / - Fluxus -. In: Kunstverein Wuppertal (Hrsg.)
/ Fluxus - Aspekte eines Phänomens. (Kunstverein Wuppertal).
Wuppertal, 1981.
17) Paik, Nam June / Exposition of Music. (1963). In: Akademie der
Künste und Berliner Festspiele GmbH (Hrsg.) / Für Augen
und Ohren. (Akademie der Künste). Berlin, 1980.
Aus dem Buch:
Wolfgang Sterneck:
Der Kampf um die Träume - Musik und Gesellschaft. (1998).
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