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Hartmut Barth-Engelbart:
LOUISES LISTEN
- Der Widerstand der kleinen Leute -
- Redebeitrag zum 17.3.95, Kundgebung zum Jahrestag der Bombardierung
Hanaus -
Ich will über den Widerstand der kleinen Leute sprechen, die
nicht "in diesen Krieg gezogen sind, wie in einen Gottesdienst",
die diesen Krieg und Hanaus Bombardierung nicht als Gottesgericht
und Naturkatastrophe erlitten.
Vom Widerstand derer, die um die militärisch-industrielle
Funktion Hanaus wußten und, trotz selbst davon schwer getroffen
zu sein,die Bomben auf Cyklon-B-Produktionsstätten und andere
Rüstungslieferanten als schmerzhaften Teil der Befreiung verstanden.
Mit Schindlers Liste wird Schindluder getrieben. Sie ist die willkommene
Ausrede für den sogenannten "kleinen Mann", der nichts
dagegen tun konnte, weil er kein Großer war, kein kriegswirtschaftlich
wichtiger Kapitalist, der mit den Nazi-Größen und SS-Häuptlingen
pokern konnte. Eine von unverdächtiger Seite, von draußen,
von einem jüdischen Hollywood-Star erteilte Absolution für
die ganze Nation. Ein Segen für die Schlußstrich-Propagandisten
für alle, die einen Faschismus mit Autobahn und Arbeitsdienst
und Krieg und deutscher Ordnung für Europa ohne den lästigen
Makel der Judenverfolgung ganz gut gefunden hätten und finden.
Ein Faschist mit "menschlichen Antlitz", ein Kriegsgewinnler
durch Nehmen und Mehren in Böhmen und Mähren, ein Gefolgschaftsführer,
Säufer und Spieler steigt wie Phönix aus der Asche auf
als der gute Deutsche.
Es ist gut, daß er tausend Juden vor der Gaskammer gerettet
hat. Aber was wäre, wenn Schindler 1000 sowjetische Zwangsarbeiter
vor dem sicheren Tod durch Siemens gerettet hätte, oder 1000
Schwule, oder 1000 Roma und Sinti, oder 1000 Kommunisten oder 1000
Zeugen Jehovas oder 1000 Deserteure oder 1000 Saboteure oder auch
nur jeweils zehn?
Das hätte niemand in Hollywood verfilmt.
Ein exaltierter Kleinkapitalist rettet risikosüchtig und launisch
1000 Menschen vor der Vergasung. Wieviele Menschen hätten dann
erst die Eigner der Hanauer Rüstungsindustrie retten können?
Wieviele die Deutsche Bank, die Dresdner, die Commerz ?? Sie hätten
gekonnt, aber sie konnten nicht, weil ihre satte Existenz auf der
Vernichtung beruht, Vernichtung und Tod ihr Geschäft ist, zumindest
aber belebt. Sie haben ja den Vernichtungapparat zuallererst finanziert.
Hätte Schindler Saboteure gerettet, die in Hanau bei der Degussa-Tochter
Degesch (Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung)
die Produktion von Cyklon-B behindern wollten ?
Die etwas frühere Bombardierung dieser Betriebe hätte
Millionen Menschen das Leben gerettet. Jeder Saboteur, der den Krieg
auch nur um Minuten verkürzte, hat hunderte, tausende Menschen
gerettet. Doch die potentiellen und tatsächlichen Saboteure
und Lebensretter wurden von den Nazis umgebracht.
Einer dieser potentiellen Saboteure war Rudolph Bröll, Louises
Mann, Kommunist und Schreiner. Er war zunächst "wehrunwürdig".
Louise hat ihn noch schnell geheiratet, bevor er dann doch als Kanonenfutter
schnell eingezogen 1942 an der Ostfront bei einem Brückenkopfunternehmen
am Don von hinten erschossen wurde. Der übliche Bewährungseinsatz
für Kommunisten. Offizielle Darstellung: verwundet, ertrunken,
vermißt. Ein verletzter SS-Mannn auf Heimaturlaub besucht
Louise am Frankfurter Tor und sagt ihr: "Hören Sie auf,
nach ihm zu fragen. Er wurde von unseren Leuten erschossen. Machen
Sie kein Theater, das kann Ihnen das Leben kosten." Der SS-Mann
wußte wovon er sprach.Louises Listen
Louise hat am Frankfurter Tor die sowjetischen Zwangsarbeiter und
Zwangsarbeiterinnen in den benachbarten Heraeus-Produktionsbaracken
und ihren Schlafställen durchgefüttert, vor dem Verhungern
gerettet. Sie hat dabei ihr Leben riskiert.
Louise mußte Lebensmittel-Listen führen, Lebensmittelzwangsbewirtschaftung,
Kriegsbuchführung über jedes Gramm Mehl, jedes Huhn und
jedes Ei, über jede Scheibe Brot. Trotzdem hat sie Essen für
die sowjetischen Sklaven abgezweigt. Die Sklaven von Heraeus durften
bei Bombenalarm nicht in die Luftschutzkeller. Aber im Bröll-Schnitzer'schen
Haus unter der Schmiedewerkstatt gab es versteckte Winkel. Louise
hat es mit ihrer Mutter geschaftt, immer wenn die Block- und Luftschutzwarte
schon in Sicherheit waren, wenigstens einige Heraeus-Sklaven noch
in ihren Keller zu lotsen. Louise wurde von der Arbeitsfront bei
Heraeus eingesetzt. Auch hier hielt sie Kontakt zu den Zwangsarbeitern.
Trotzdem bescheinigt ihr die Arbeitsfront Zuverlässigkeit und
Einsatzfreude. Louises List. In welcher Weise sie die Kriegsproduktion
beieinflußt hat darüber hat Louise nie ein Wort verloren.
Jemand falsches hätte es ja finden können.
Kleine Leute, kleine Schritte, viele kleine Leute, viele kleine
Schritte. Schritte, die damals den Kopf kosteten. Und heute schweigen
viele schon, wenn die Karriere etwas gebremst wird.
Louise wartete auf Rudi, sie will nicht glauben, daß er tot
ist. Sie hatte sich Kinder gewünscht, von ihm. Er bekam keinen
Heimaturlaub. Später kann sie keine Kinder mehr ertragen, nur
noch Katzen.
Louise wurde mit ihrer kranken Mutter ausgebombt. Sie baut Hanau
wieder mit auf. In ihrem Trümmergrundstück bringt sie
Displaced Persons unter, befreite sowjetische Zwangsarbeiter. Aber
zunächst kann sie nicht in ihr Haus, der einzig mögliche
Zugang durch die Trümmer über das Grundstück des
St. Vinzenz-Krankenhauses wird ihr vom Orden der barmherzigen Brüder
und Schwestern verweigert. Späte Rache der Kirche. Louise ist
Kommunistin und Gegenerin des Strafparagraphen 218. "Da die
barmherzigen Brüder schon immer scharf auf unser Grundstück
waren, hofften die Oberen aus Fulda, mich so weich zu kochen."
Louise hat Wohnungen eingerichtet nach dem Krieg, ihre Behelfswohnung
auch. Mit Möbeln aus der zerbombten Nazi- Staatsanwaltschaft.
1946 wollen ihr die schon wieder in Amt und Würden zurückgekehrten
schwarzbemäntelten Braunröcke wegen Diebstahls von Staatseigentum
den Prozeß machen. Den Prozeß machen diese Herren auch
den ehemaligen Zwangsarbeitern, die Louise und ihre totkranke Mutter
über den Schwarzmarkt notdürftig mit Lebensmitteln und
Kleidung versorgen. Louise kann sie mit Hilfe sozialdemokratischer
Stadtpolizisten vor dem Gefängnis retten. Immer häufiger
stehen jetzt Naziopfer und Nazigegner wieder als Angeklagte vor
Nazirichtern. Klar, welcher SPD- oder KPDler konnte von 33 bis 45
Jura studieren. Das war reiner Sachzwang. Es gab schließlich
keine anderen Juristen. So mußte das Recht auch rechts bleiben.
1954/55 läßt Louise ihren Mann für tot erklären.
Ihre Suche war vergeblich. Sie hatte dem SS-Mann nicht geglaubt.
Jetzt erstattet sie Anzeige gegen Unbekannt wegen Mord. Louise erhält
Warnungen aus dem Hanauer Justizapparat. Sie solle die Sache ruhen
lassen. Die Frage, wer Rudolph Bröll von Hanau aus in den Tod
geschickt hat, wer ihn erschossen hat, sorgt für Unruhe, Aber
nur kurz. Wenn eine KPD-Aktivistin, noch dazu eine Parteitagsdelegierte
danach fragt, wer einen Kommunisten an die Ostfront geschickkt hat,
dann geht alles schnell und glatt. 1956 ,im Jahr des KPD-Verbotes,
stellt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ein - unter Hinweis
auf die amtliche Aussage eines mittlerweile verstorbenen Kompaniechefs.
1956 werden die überlebenden kommunistischen Widerstandskämpfer
-11 Jahre nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands- schon wieder
zusammengeschlagen, in den gleichen Räumen wie 1933 bis 45,
im Polizeigefängnis Frohnhof. Umgebracht werden sie diesmal
nicht. Nur mundtot gemacht. Mit Rentenentzug bedroht. Mit Berufsverbot
belegt. Louise wird isoliert. Ihre Mutter stirbt. Louise zieht sich
in ihre Behelfswohnung auf ihrem Trümmergrundstück zurück.
Umlagert von Wirtschaftswunder-Goldgräbern und Naziseilschaften
in Personalunion. Die barmherzigen Brüder bedrohen sie mit
"Enteignung im öffentlichen Interesse", Juristen
nehmen sich ihrer Konten, Grundstücke und Wertsachen an. Ende
der 70er, Anfang der 80er Jahre macht sie Ausbruchsversuche. Erbschleichende
Rechtberater drohen ihr darauf mit Entmündigung. Louise kann
den rasant gestiegenen Spekulationswert ihres Trümmergrundstückes
nicht richtig einschätzen und will sich nicht aus ihrer Trutzburg
vertreiben lassen. 1989 wird sie durch einen kleinen Immobilienhai
in den Tod getrieben.
Wenige Monate vorher hat sie zu mir gesagt: "Junge, schreib
es auf, bevor ich alles mit ins Grab nehme." Ich will es versuchen
und bitte sie um Verzeihung, denn ich habe ihr nicht alles geglaubt,
was sie mir erzählt hat. So auch die Geschichte mit den Zwangsarbeitern,
unter denen ein Kommissar war. "Der hat sich unter Tränen
von mir verabschiedet mit den Worten: 'Louise, wir kommen wieder
und verhelfen Dir zu Deinem Recht.'" Nach ihrem Tod, bei der
Durchsicht ihrer Aufzeichnungen, ihrer Listen, Ihrer Fotos, ihrer
Briefe habe ich die Fotographien der Russen gefunden, die Unterlagen
zum Schwarzmarktprozeß. Selbst ihre KP-Mitgliedschaft hatte
ich ihr nicht geglaubt. Jetzt habe ich ihr Mitgliedsbuch gefunden.
Es war gut getarnt.
www.barth-engelbart.de.vu
Dank an Hartmut Barth-Engelbart
Louise Bröll
29.03.1905 - 11.12.1985.
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