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Wolfgang Sterneck:
DIE LUST AUF VERÄNDERUNG
- Konsequente Musik und die Welt hinter den Fassaden -
- Wege fernab der Charts
- Spiegelbilder und Visionen
- Party-Politics
- Subversive Rhythmen
- Kreative Spielplätze
- Die Politik der Geräusche
- Gesteuerte Träume
- Der gekaufte Elvis
- Rebellion und Vereinnahmung
- Die Welt hinter den Fassaden
Manchmal sind es symbolhaft die tanzenden Sterne, dann steht wieder die unverschleierte Beschreibung sozialer Konflikte im Mittelpunkt oder auch die Suche nach neuen eigenständigen Ausdrucksformen. Fernab von Hitparaden und TV-Shows kommt in unzähligen Musikstücken eines konsequent engagierten Undergrounds beständig der Traum eines Lebens zum Ausdruck, das auf Werten wie Selbstbestimmung und Gemeinschaftlichkeit, sowie nicht zuletzt auf lustvoller, kreativer Entfaltung basiert. Die Rhythmen wie auch die Texte der einzelnen Musikströmungen unterscheiden sich dabei oftmals in ihrer Form, in ihren grundlegenden Inhalten und Botschaften gleichen sie sich jedoch.
So lassen sich trotz aller musikalischen Abgrenzungen im Underground der Techno-Kultur zumindest ähnliche Ideale finden wie in der systemkritischen Ausprägung des Hardcore-Punk oder bei den gegenkulturellen Bands der Hippie-Kultur. Ihnen allen ging und geht es um soziale Freiräume, die nicht länger von einer Konsum- und Konkurrenzmentalität bestimmt sind. Konsequent genutzt wird die Musik dabei zu einem Medium, welches dazu beiträgt, entsprechende Ideale inhaltlich weiterzutragen bzw. die damit verbundenen Empfindungen anzusprechen und auszudrücken.
WEGE FERNAB DER CHARTS
Das verbindende Merkmal dieser MusikerInnen bzw. einer entsprechend "Konsequenten Musik" ist im Gegensatz zu den herkömmlichen Einteilungen nicht die stilistische Form, sondern die idealistische inhaltliche Ausrichtung. Das Selbstverständnis zeigt sich nicht nur in der Musik und den Texten, sondern kommt beispielsweise auch in der Wahl der Auftrittsorte und der konkreten Zusammenarbeit mit sozialen Projekten, sowie in einigen Fällen auch im Aufbau von unabhängigen Vertriebsnetzen zum Ausdruck. Teilweise werden Starkult und kommerzielle Strukturen strikt abgelehnt und ihnen das Prinzip des "Do It Yourself" gegenüber gestellt. Im Unterschied zu den zahlreichen Popstars, die sich aus Gründen der Promotion mit einem wohltätigen Image schmücken, ist es ein Merkmal entsprechender Musikgruppen, dass sie vielfach aus den Bewegungen, die sie unterstützen, selbst hervorgegangen bzw. in ihnen aktiv tätig sind.
Crass gehörte zweifellos zu den Bands die einem derartigen Weg besonders nachhaltig gefolgt sind. Ihre Wurzeln hatte die Gruppe in der Punk-Bewegung am Ende der siebziger Jahre, die zeitweise gleichermaßen ein Gefühl der Perspektivlosigkeit wie auch der Rebellion verkörperte, dann aber schnell von der Musikindustrie vereinnahmt wurde. Crass gründeten dagegen ein eigenes Label um völlig unabhängig zu sein und vertrieben ihre Aufnahmen weitgehend auf No-Profit-Basis. Die auffaltbaren, großformatigen Schallplattencover entsprachen Flugblättern bzw. Plakaten mit klaren politischen Aussagen. Mit dem an die damalige englische Premierministerin gerichteten Stück "How does it feel to be the mother of a thousand dead" wurde Crass zur herausragenden Stimme der Bewegung gegen den Falkland-Krieg und löste eine innenpolitische Kontroverse über dem Umgang mit derartigen "Vaterlandsverrätern" aus. Die Bandmitglieder selbst lebten kommuneartig zusammen und waren am Aufbau von alternativen Kulturzentren beteiligt, um auch auf dieser Ebene ihre Ideale über die theoretische Beschreibung hinausgehend in die gelebte Praxis zu übertragen.
In den Ländern des ”realen Sozialismus” versuchte der Staatsapparat alle kulturellen Bereiche zu kontrollieren. So erhielten nur MusikerInnen, die sich den ideologischen Vorgaben unterordneten eine Erlaubnis für Auftritte oder zur Veröffentlichung von Schallplatten. Bands wie die Plastic People of the Universe verkörperten dagegen eine nonkonforme Lebensauffassung, die sich beständig auf den unterschiedlichsten Ebenen dem Zwang zur Anpassung widersetzte. ”Wenn heute jemand zwanzig ist, dann wird er mit Widerwillen kotzen. Denen die vierzig sind, kommt es noch viel stärker. Nur die mit sechzig Jahren haben es einfacher, friedvoll schlafen sie mit ihrer Sklerose.” Zeitweise wurden die Plastic People in den staatlich gesteuerten Medien als asozial diffamiert, mehrfach wurde darüber hinaus gegen die Band repressiv vorgegangen, um Auftritte zu verhindern. Es konnte jedoch nicht verhindert werden, dass sie zu einem Symbol der Opposition und langfristig zu einem kulturellen Wegbereiter des gesellschaftlichen Wandels wurde.
Bis in die Gegenwart stehen The Ex für die Integration unterschiedlicher musikalischer Strömungen in ein Musikkonzept, das eigenwillig Elemente des Punk mit avantgardistischen Ansätzen verknüpft. Zu den Veröffentlichungen gehören Kooperationen mit MusikerInnen aus dem Rock- und Jazz-Bereich genauso wie beispielsweise auch mit einer kurdischen Folkloregruppe. ”Das Image, das die verschiedenen Projekte haben, ist teilweise völlig unterschiedlich. Wer aber genauer hinschaut, der sieht viele Übereinstimmungen in unseren Ideen.” Zu den herausragenden Veröffentlichungen gehört ein Projekt zur spanischen Revolution, das aus Musikaufnahmen und einem Buch mit dokumentarischen Fotoaufnahmen besteht. Zum Selbstverständnis der Band gehört die Überzeugung, dass jede kulturelle Ausdrucksweise einen politischen Charakter hat. Ein Stück über eine Liebesbeziehung kann dabei genauso politisch sein wie ein antifaschistischer Song. Ein entscheidender Aspekt ist die Frage, ob durch die Ausdrucksform bzw. durch die vermittelten Inhalte von den tatsächlich bestehenden Problemen abgelenkt oder eine Veränderung angeregt wird.
SPIEGELBILDER UND VISIONEN
Soziale Bewegungen finden fast zwangsläufig immer auch einen musikalischen Ausdruck. Als die Frauenbewegung in den siebziger
Jahren zunehmend an Stärke gewann, spiegelte sich dies auch in der Musik. Feministische Liedermacherinnen wie Alex Dobkin oder in der
BRD die Rockband Flying Lesbians waren Leitfiguren eines neuen Selbstverständnisses. Teilweise wurden bereits bestehende stilistische
Ausdrucksformen mit neuen Inhalten verknüpft, während an anderer Stelle versucht wurde über die Improvisation oder die Einbeziehung
von Performance-Elementen den Inhalten auch eine entsprechend veränderte Form zu geben. Die Riot-Grrrl-Bewegung knüpfte rund zwanzig
Jahre später mit einem neuen betont eigenwilligen Selbstbewusstsein an feministischen Überzeugungen an. Im Zentrum der Musikprojekte,
die sich der Queer-Culture zurechnen lassen, stand später die konsequente Hinterfragung und der spielerische Umgang mit den sozialen
Konstrukten geschlechtlicher Identitäten.
Naheliegender Weise werden inhaltliche Aussagen zumeist über entsprechende Texte vermittelt. Daneben ist es aber auch möglich über die musikalische Form eine Haltung oder ein Lebensgefühl auszudrücken. So reflektierte in den sechziger Jahren der Free Jazz mit seinem Ausbruch aus den vorgegebenen musikalischen Konventionen die politische Aufbruchstimmung der afro-amerikanischen Bevölkerung ohne mit Texten zu arbeiten. Letztlich ist auch in einem politischen Zusammenhang nicht entscheidend, ob ein Stück von traditionellen musikalischen Ausdrucksformen ausgeht, auf neuen Aufbauschemen oder einem veränderten Verständnis von Musik und Kultur basiert. Wesentlich ist vielmehr der persönliche und soziale Kontext in dem das entsprechende Stück steht.
Ein Song, der in die Beine geht und so Energien und Lebensfreude frei setzt, kann genauso eine aufbrechende Bedeutung erhalten wie ein Stück, das sich über seinen Aufbau völlig gängigen Hörgewohnheiten und auch Vermarktungsmechanismen verweigert, um dadurch bestehende gesellschaftliche Strukturen zu kritisieren. Die eingängigen Songs von Chumbawamba mit ihren klaren Botschaften stehen in diesem Sinne neben den düsteren Schrei-Gesängen von Diamanda Galas, die dadurch die weitverbreitete Ignoranz gegenüber den Opfern der AIDS-Epidemie anprangerte, oder den roh und aggressiv anmutenden Auftritten von Missing Foundation, die von einer Haltung des Widerstand durchzogen waren.
Die Mitglieder von Projekten wie The Fire This Time und Entartete Kunst sind zum Teil gleichermaßen als MusikerInnen, DJs und LabelkoordinatorInnen tätig. Ihrem eigenen Selbstverständnis zufolge sind sie jedoch vor allem politische AktivistInnen, die ihre Veröffentlichungen als akustische Flugblätter verstehen und zum Teil kostenlos zum Download im Internet bereitstellen. Musikalische Bezugpunkte der Projekte sind der Dub bzw. der HipHop, gemeinsam ist ihnen dabei, dass sie gezielt Samples mit Zitaten aus Reden und Interviews einsetzen. Entsprechend wirkte Entartete Kunst an der Veröffentlichung einer Schallplatte mit, auf der sich prägnante gesellschaftskritische Zitate von Persönlichkeiten wie Assata Shakur und Noam Chomsky befinden, die von DJs in ihre Sets integriert werden können.
Weiterentwicklungen im Bereich der Aufnahme- und Wiedergabetechnik hatten im Kontext konsequenter Musik immer auch eine politische Komponente. So eröffnete die Entwicklung bzw. massenhafte Verfügbarkeit der bespielbaren Musikkassetten in den achtziger Jahren neue Möglichkeiten einer selbständigen Aufnahme, Vervielfältigung und Verbreitung von Musik. Davon ausgehend wurde die Kassette zum Medium gegenkultureller Strömungen, die sich den Vorgaben der Musikindustrie bzw. den Auflagen staatlicher Gremien widersetzte. Im Westen entwickelten sich vielfältige Undergroundszenen, die gezielt mit Kassettenveröffentlichungen in kleinen Auflagen arbeiteten. Als Äquivalent zu den Samizdat-Verlagen, die in den realsozialistischen Staaten an der Verbreitung verbotener Schriften ausgerichtet waren, entstanden die Magnetizdat-Label, die nonkonforme Musikaufnahmen vervielfältigten.
Die rasanten Entwicklungen im Bereich der elektronischen Datenverarbeitung ermöglichten schon ein Jahrzehnt später eine weitere Demokratisierung der Musikkultur. Vergleichsweise einfach bedienbare Programme, die individuell am eigenen Computer nutzbar sind, ersetzten zunehmend kostspielige Instrumente und Aufnahmestudios. Das Internet eröffnete dann eine Vielzahl neuer, zuvor ungeahnter Möglichkeiten der Informationsverbreitung und Selbstdarstellung bzw. auch der Verbreitung und insbesondere der Vermarktung von Musik.
PARTY-POLITICS
In den neunziger Jahren fand das Lebensgefühl eines großen Teils der Jugend zunehmend in der Techno-Kultur einen Ausdruck.
Verschiedenen Industriezweigen gelang es dabei einmal mehr die Hauptströmung kommerziell zu vereinnahmen. Charakteristisch ist die Entwicklung
der Loveparade von einem kleinen Umzug, in dessen Zentrum das gemeinsame Feiern und zumindest die vage Vision einer friedlicheren Welt stand,
zu einer völlig kommerzialisierten Massenveranstaltung. Dem steht teilweise bis in die Gegenwart ein vielfältig ausgerichteter
Underground gegenüber, der zum Teil eine musikalisch und inhaltlich wegweisende Rolle einnimmt. Die vielfältigen soziokulturellen
Ausprägungen der einzelnen Party-Szenen mit ihren zumeist verschleiernden, in einigen Fällen aber auch subversiven Elementen erschließen
sich jedoch zumeist erst nach einer genaueren Betrachtung.
Wenn Menschen zusammenkommen, um gemeinschaftlich feiernd aus den Fesseln des Alltags auszusteigen, dann kann im Idealfall für einige Stunden ein Freiraum bzw. im Sinne von Hakim Bey eine ”Temporäre Autonome Zone” entstehen, in der zumindest der Ansatz eines anderen Lebens Realität wird. Der politische Charakter einer Veranstaltung wird dabei nicht unbedingt durch Transparente oder Flugblätter bestimmt. Vielmehr bilden auch die Organisationsform und der Umgang der Party-BesucherInnen untereinander in einem erweiterten Verständnis wesentliche politische Faktoren.
Zu den ”Party-Politics” gehört beispielsweise die Frage, ob eine einzelne Person an einer Party verdient oder es einer Gruppe hauptsächlich um eine gute Party geht. Auch das Verhältnis zur Natur bei einem Open-Air und damit beispielsweise die Frage der Erzeugung bzw. Entsorgung des Mülls ist in diesem Kontext zu sehen. Politisch ist ebenso, ob die Gäste eher gemeinschaftlich oder egozentrisch miteinander umgehen, sowie das Verhältnis der Geschlechter und der weit verbreitete Starkult.
Einen zentralen Aspekt auf Partys mit elektronischer Tanzmusik nimmt oftmals die Erfahrung trancehafter Zustände ein. In der westlichen Kultur war das Erleben derartiger Zustände, die sich der Steuerung durch den Verstand weitgehend entziehen, lange tabuisiert. über Jahrhunderte hinweg versuchten die christlichen Kirchen entsprechende Ansätze zu unterdrückten. Dennoch besteht eine Traditionslinie, die bei allen von schamanischen Trommelrritualen über die Feste der Hexen bis zu Musikkulturen der Gegenwart reicht, in denen der trancehafte Tanz eine zentrale Rolle einnimmt. In einer Gesellschaft, die auf Kontrolle und Rationalität basiert, in der Gefühl und Körper unter den Verstand gestellt sind, kann eine trancehafte Party-Nacht zu einer Politik des Körpers werden, die potentiell Elemente des Ausbruchs, aber auch der Flucht in sich trägt. Welche Aspekte überwiegen hängt vom persönlichen Selbstverständnis und dem sozialen Kontext ab, wobei gerade die Party-Kultur zumeist von einem völlig unreflektierten und konsumistischen Ansatz bestimmt wird.
SUBVERSIVE RHYTHMEN
Die „Reclaim the Streets“-Aktionen in einigen Großstädten zeigen nachdrücklich, dass es durchaus möglich ist, die oftmals als unvereinbar beschrieben Gegensätze von Politik und Party auch in einem enger definierten Verständnis sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Über das Konzept traditioneller Demonstrationen hinausgehend sollen die Aktionen nicht nur einer trockenen Widergabe bestimmter linkspolitischer Haltungen entsprechen, sondern einer lustvollen Manifestation eines alternativen Lebensgefühls und einer vielfältigen Gegenkultur. DJs, Live-Acts und teilweise Performance-KünstlerInnen sind fester Bestandteil der Umzüge, während die TeilnehmerInnen in den Straßen tanzen und für eine kurze Zeit öffentlichen Raum zurückerobern. Mit einem gewissen Augenzwinkern beziehen sich die AktivistInnen dabei bis heute oftmals auf die Anarchistin Emma Goldmann, die in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts einmal sinngemäß verkündet haben soll: ”Wenn ich nicht tanzen kann, dann ist es nicht meine Revolution.”
Die Verbindung von "Music, Mind and Politics" lässt sich auch im Rahmen von Veranstaltungen unverkrampft multimedial umsetzen. Entsprechend werden auf den "Connecta"-Events Filme über politische Underground-Aktionen gezeigt, im Chill-Out findet im Laufe der Nacht eine experimentelle Lesung statt und auf dem Dancefloor wird zu technoiden Klängen getanzt. Das zweifellos in diesem Kontext herausragende und größte Open-Air-Festival im deutschsprachigen Raum ist die Fusion. Mehrere Bühnen und die Hangarhallen eines ehemaligen Militärflugplatzes bieten Raum für unterschiedliche Musikstile, Theater- und Filmaufführungen, Ausstellungen und Workshops. Mit einem gewissen selbstironischen Unterton sprechen die VeranstalterInnen vom "Ferienkommunismus" bzw. von der Fusion als einer "Tankstelle für die Seele im Kampf gegen den alltäglichen Wahnsinn". Trotz des immensen organisatorischen Aufwandes und finanziellen Risikos ist es dabei geglückt dem idealistischen Ansatz des Festivals treu zu bleiben. Dies lässt wiederum alljährlich eine Atmosphäre entstehen, die sich grundlegend von rein kommerziell ausgerichteten Festivals unterscheidet und zumindest in Ansätzen zeigt, dass ein anderer Weg möglich ist.
Die "Crossing Bridges“-Events stehen für die Möglichkeit mit Musik gemeinschaftlich die Gräben zu überwinden, die bis heute die Regionen des ehemaligen Jugoslawiens durchziehen. Tanzend wird deutlich, dass die vorgeblich ethnischen Mauern zwischen den Menschen künstliche sind, die letztlich nur dazu dienen bestimmte Herrschaftsverhältnisse aufrecht zu erhalten. Fernab machtpolitischer und ökonomischer Interessen entwickeln sich immer wieder Netzwerke, deren Mitglieder sich nicht über die Herkunft, sondern über gemeinsame Ideale definieren. "Different cultures, different colours, different smells, but one world, one people, one blood" heißt es in einem Track von Lava 303 entsprechend dazu. Die Message entspricht einer eigentlich selbstverständlichen, geradezu banal anmutenden Erkenntnis, deren Umsetzung jedoch real in vielen Bereichen widersinnige Grenzen entgegen stehen.
Wegweisend für die Verbindung von "Party and Politics" bzw. für einen konsequenten Weg fernab von Konsum und Kommerz war der Spiral Tribe. Die Gruppe zog lange als kleiner Stamm durch England und organisierte an verschiedenen Orten Underground-Parties. Ihre Lebensphilosophie beschrieben die Mitglieder als Verbindung von radikalen, linken Positionen, psychedelischen Erfahrungen und dem Wissen von Stammeskulturen. Der besondere idealistische Charakter der Events zog bald immer mehr Interessierte an. Den Höhepunkt bildete 1992 ein Free Rave an dem mehrere Zehntausend Menschen teilnahmen, die ohne die sonst auf Festivals üblichen kommerziellen und hierarchischen Strukturen gemeinschaftlich feierten. Die Regierungsstellen reagierten auf die aus ihrer Sicht nicht kontrollierbaren Events mit polizeilich durchgesetzten Verboten und einer Verschärfung der Gesetzeslage. Die Mitglieder des Spiral Tribes verließen in Folge England, um dann auf dem europäischen Festland von einer Metropole zur nächsten zu ziehen und auch dort über die Musik ihre Lebensverständnis weiterzutragen.
KREATIVE SPIELPLÄTZE
Engagement darf nicht nur eine Sache des Verstandes sein. Wenn es nicht von einem positiven Gefühl getragen wird und auch Momente der Freude und der Entspannung beinhaltet, dann setzen schnell Frustration und Resignation ein. Die Lust an der Veränderung erlangt besonders dann eine besondere Stärke, wenn es gelingt die Ideale eines konkreten Utopias schon jetzt in Freiräumen und in Aktionen bzw. in den Strukturen des Alltags zumindest ansatzweise lebendig erfahrbar werden zu lassen. Nur so ist es möglich, die Ebene der rationellen Abstraktion zu verlassen und in der Verbindung von Kopf, Bauch und Beinen, von kritischer Analyse und emotionaler Entfaltung eine neue Perspektive zu entwickeln. Ein Lächeln allein wird die Welt nicht verändern, doch es kann in bestimmten Situationen Türen öffnen, die ansonsten im Zuge der weitverbreiteten Verbissenheit kaum wahrgenommen werden.
Das Konzept der Playgrounds zielt auf die gemeinschaftliche Freisetzung kreativer Potentiale. Zu Grunde liegt die Idee kreativer Spielplätze, die in Fußgängerzonen genauso wie in Schulen oder auf Partys Gestalt annehmen können. In der Regel werden dabei Musikinstrumente, Jongliergegenstände und Dekorationsmaterialien ausgelegt, die von allen Anwesenden und Vorbeikommenden nach Lust und Laune genutzt werden können. Meist entwickelt sich dann eine Session, in der sich die Beteiligten anfangs eher auf sich bezogen auszudrücken, um dann aber oftmals doch einen gemeinsamen Rhythmus bzw. eine neue Ebene der Kommunikation zu finden. Die ansonsten selbstverständliche Aufteilung zwischen aktiven KünstlerInnen und VeranstalterInnen auf der einen Seite und passivem Publikum wird so immer wieder aufgebrochen. Letztlich besitzt jeder Mensch ein kreatives Potential, das aber durch die vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen meinst verdrängt wird. Entsprechend verkünden die Mitglieder des Playground-Kollektivs immer wieder ”Mach’s dir selbst, nimm dein Leben in die Hand! Be your own live-act!”
Die hohe Bedeutung der Musik für das Selbstverständnis von Jugendlichen spiegelt sich nur selten angemessen in den Schulen. Der Bildungsapparat verspielt dadurch eine große Chance gerade Jugendliche, die sich am Rande der Gesellschaft bewegen, über die von ihnen bevorzugte Musik anzusprechen. So stehen im Zentrum des Deutsch- und Englischunterrichtes zumeist literarische Klassiker, die bei aller berechtigten Bedeutung jedoch Jugendlichen kaum erreichen. Dagegen bieten aktuelle Musikstücke vielfältige Möglichkeiten sich an Hand von Texten und Images mit Lebensrealitäten auseinanderzusetzen.
Darüber hinaus eröffnen kreative musikalische Angebote für SchülerInnen neue Formen spielerischer Kommunikation und Entfaltung, die langfristig zu einer Stärkung der Persönlichkeit führt. Bei entsprechenden Projekten zeigt sich immer wieder, dass teilweise SchülerInnen, die ansonsten im Unterricht eher zurückhaltend auftreten, am Mikrophon oder an einem Instrument aus sich herausgehen. Teilweise entwickelt sich eine sessionartige Struktur bei der sich Gruppen bildeten die miteinander spielten. In anderen Fällen liegt der Schwerpunkt auf einem individuellen Ausprobieren oder auch auf einem offensichtlichen Abbau angestauter Aggressionen. Vielfach lernen Jugendlichen erstmals auf der persönlichen Ebene kreative Möglichkeiten der Entfaltung und des Ausdrucks kennen. Durchgängig wird über derartige Angebot das Grundgefühl vermittelt, dass nicht nur ein Pop-Star kreativ mit Instrumenten umgehen kann, sondern Kreativität potentiell in jeder Person vorhanden ist. Die zahlreichen Imitationen von bekannten MusikerInnen bei den Workshops zeigen aber auch einmal mehr, wie stark Jugendliche von der Medienwelt beeinflusst sind.
DIE POLITIK DER GERÄUSCHE
Grundlegend für die Weiterentwicklung einer konsequenten Musikkultur ist die Toleranz gegenüber verschiedenen Ausdrucksformen. Eine zwanghafte Konzentration auf eine Ausrichtung führt letztlich zu einem Zustand, in dem eine freie Entwicklung bestenfalls eingeschränkt möglich ist. Vielmehr erhält eine Musikströmung in einem politischen Sinne erst dann eine tiefere Kraft, wenn sie von einer lebendigen Wechselbeziehung zwischen kreativer Entfaltung und dialektischer Auseinandersetzung mit den umgebenden Bedingungen ausgeht, Ebenso notwendig ist eine Auseinandersetzung mit dem Charakter scheinbar unpolitischer Musik, wie auch eine entschiedene Haltung gegenüber Ausdrucksformen, die regressive Inhalte vermitteln.
Ein zentraler Aspekt im Rahmen einer Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Musik ist die Hinterfragung der eigenen Bedürfnisse. Einen Ansatz können dabei Fragestellungen wie zum Beispiel ”Warum gefällt mir gerade dieser Musikstil?” oder ”Was bewirkt dieses Stück in mir?” sein. In der Regel werden dadurch schnell persönliche Entwicklungsprozesse und auch anerzogene Einstellungen deutlich, wobei es in einigen Fällen schon durch das Erkennen der Zusammenhänge zu einem reflektierteren Selbstbild kommen kann. Zudem wird ein bewusster Umgang bzw. ein kritisches Einlassen auf die entsprechenden Erscheinungen möglich.
Ein konsequentes Musikverständnis setzt ein bewusstes Hören von Klängen in all ihren Vielfältigkeiten voraus. Natürliche Geräusche besitzen dabei die gleiche Wertigkeit wie Töne, die mit Hilfe herkömmlicher Instrumente erzeugt werden. Ein Erleben des Zustandes der Stille ist nur eingeschränkt möglich, da selbst bei völliger äußerer Stille, die Rhythmen des Körpers vernehmbar sind. Eine Annäherung an diesen Zustand kann jedoch helfen, sich auf die eigentliche Persönlichkeit zu konzentrieren und ein neues Verhältnis zu den umgebenden wie auch zu den inneren Abläufen zu erlangen. Ein bewusstes Hören bildet dabei letztlich ein Element einer bewussten Wahrnehmung an sich.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden die Fundamente der westlichen Musikkultur grundsätzlich in Frage gestellt und mehrfach im Rahmen avantgardistischer Strömungen radikal aufgebrochen. Eine wesentliche Rolle nahm dabei die Einbeziehung von Geräuschen in die Musik ein. Schon der Futurismus bezog sich vor rund einhundert Jahren in seinem Bestreben eine neue Musik zu schaffen auf vermeintlich zeitgemäße Geräusche. Die italienischen Futuristen verherrlichten dabei jedoch auch die Geräusche des Krieges und unterstützten großteils später die faschistische Terrorherrschaft Mussolinis. Die russischen Futuristen versuchten statdtessen die Kunst aus ihren elitären Fesseln zu befreien und eine neue Volkskunst zu entwickeln. Höhepunkte der Produktionsmusik, die davon stark beeinflusst war, bildeten Konzerte in denen die Bevölkerung ganzer Städte genauso wie unter anderem industrielle Maschinen und Transportfahrzeuge als Instrumente einbezogen waren. Im Zuge der stalinistischen Ausrichtung der sowjetischen Kulturpolitik an einem dogmatischen ”sozialistischen Realismus“ wurden derartige Ansätze jedoch bald zwangsweise aufgegeben.
Der Dadaismus, die Fluxus-Bewegung und die Avantgarde-Kreise um John Cage eröffneten ein neues Kunst- bzw. Musikverständnis, das sich meist erst im Gesamtkontext der Werke erschließt. So stellten die DadaistInnen während des ersten Weltkrieges über ihre scheinbar völlig absurden Aktionen die Definitionen von Sinn und Unsinn in Frage und fügten sie einer neuen Bedeutung zu. In einer Zeit, in der widersinniges Morden zur höchsten Vernunft erklärt wurde, verweigerten sie sich der vorgeblich zivilisierten Kultur und negierten konsequent die darin wurzelnden Ausdrucksformen. Die Werke von John Cage beeinflussten später nachhaltig das westliche Verständnis von Musik. Ausgehend von anarchistischen und zen-buddhistischen Grundgedanken durchbrach Cage immer wieder die Grenzen der traditionellen Musik und entwickelte im Gegensatz dazu die Theorie und Praxis einer in sich herrschaftsfreien, neuartigen Musik. Unter anderem trug er wesentlich zur Eingliederung des Geräusches in die Musik bei, entwickelte offene Kompositionsformen, begründete das Happening als Ausdrucksform und setzte sich in seiner ganz eigenen Weise immer wieder mit der Stille auseinander. ”Die Musik, die mir am liebsten ist und die ich meiner eigenen oder irgendeines anderen vorziehe, ist einfach die, die wir hören, wenn wir ruhig sind.”
In der Tradition von Antonin Artaud und dem Wiener Aktionismus setzten sich die Vertreter der Industrial Culture in den späten siebziger Jahren mit gesellschaftlich tabuisierten Themen wie psychischen Erkrankungen, Gewalt und Manipulation auseinander. Bands wie Throbbing Gristle und SPK nutzen in diesem Sinne vielfach rohe, verzerrte Sounds und verstanden die Darstellung von verdrängten Wirklichkeiten als einen Weg zum Aufbrechen regressiver sozialer bzw. psychischer Strukturen. In der experimentellen Musik entwickelten sich im Anschluss vielfältige Strömungen, die mit verfremdeten Geräuschen oder minimalistischen Drones arbeiteten, um neue Bedeutungszusammenhänge und Atmosphären zu eröffnen. Ein sozialkritisches Selbstverständnis, wie ihn das Projekt P.D formulierte, bildete jedoch eine seltene Ausnahme: ”Kein Rhythmus, auf den man tanz-vögeln-marschieren kann / keine Harmonien als Ausgleich für Emotionsdefizite / keine Texte zum Mitsingen und Selbstvergessen / keine Möglichkeit zu beschaulicher Meditation bei Kerzen und Wein.”
Auch im weiten Feld gegenwärtiger elektronischer Musikprojekte, die mit Sounds auf verschiedenen Ebenen arbeiten, sind nur wenige Veröffentlichungen zu finden, die sich ausdrücklich mit soziokulturellen Thematiken auseinandersetzen. Ein bemerkenswertes Projekt stellte Matthew Herbert unter dem Titel ”The Mechanics of Destruction” zum kostenlosen Download online. Herbert nutzte dabei teilweise verfremdete und mit gebrochenen Rhythmen unterlegte Geräuschaufnahmen als Kritik am Konsumismus der westlichen Welt wie auch an deren kulturellem Imperialismus. Im Kontext entsprechender Hintergrundinformationen erlangen so beispielsweise die Aufnahmen von Gesprächen in McDonald-Filialen eine neue Bedeutung. Ebenfalls online abrufbar sind unter dem Label Public Record die Soundcollagen und dokumentarischen Aufnahmen des New Yorker Projekts Ultra-red. Zu hören sind unter anderem Solidaritätssprechchöre auf Demonstrationen und atmosphärische Geräuschaufnahmen, die an symbolträchtigen Orten entstanden. Teilweise werden diese unbearbeitet wiedergegeben oder mit vielfältigen Sounds und Beats unterlegt. Auch hier eröffnet sich im Gesamtkontext die Möglichkeit einer bewussteren Wahrnehmung als Schritt auf dem Weg konsequenter Veränderung.
GESTEUERTE TRÄUME
Gegenwärtig kommt es vor allem über die Massenmedien als Teil einer übergreifenden Bewusstseinsindustrie zu einer ausgeprägten Beeinflussung der Wahrnehmung, die sich im Zuge der technischen Entwicklungen und der politischen Gleichschaltung noch weiter verschärfen wird. Gerade der scheinbar unpolitische Unterhaltungsbereich nimmt dabei eine herausragende Funktion ein. Durch ihn werden oftmals in einer zumeist äußerst subtilen Weise systemtragende Einstellungen wie eine passive Konsumhaltung, ein vorrangig auf den materiellen Gewinn ausgerichtetes Leistungsprinzip oder auch ein bestimmtes Verständnis von Liebe vermittelt. Dabei bedarf es keineswegs immer einer bewussten Absicht der beteiligten Personen. Vielmehr werden oftmals entsprechende Einstellungen in der Dynamik von Verinnerlichung und kommerzieller Verwertung weitergetragen.
Teilweise ist der Einfluss der Medienstars und dabei insbesondere der Musikidole auf Jugendliche wesentlich ausgeprägter als der von Eltern oder LehrerInnen. Der damit verbundene Personenkult lässt sich in einem wesentlichen Maße auf autoritäre Charakterstrukturen zurückführen. Gesucht wird immer wieder eine Orientierung an Leitfiguren, Führern, imaginären Göttern oder Stars, die von der Ausrichtung an deren Produkten bis zur völligen Unterwerfung reichen kann. Besonders einflussreich sind zum Teil gerade die Filme, Fernsehshows und Musikstücke, die vorgeben keine tiefergehende Aussage zu besitzen. Letztlich steht jedoch jedes kulturelle Erzeugnis zwangsläufig in einem Geflecht vielfätiger Beziehungen und besitzt zumindest unterschwellig auch eine politische Tendenz.
So gab der afroamerikanische Rapper 50 Cent der weltweit erfolgreichen, vermeintlich unpolitischen Verfilmung seines Lebens den Titel "Get Rich or Die Tryin" und stilisierte damit unmissverständlich materiellen Reichtum zum höchsten Wert. 50 Cent stellte sich damit in eine Reihe von erfolgreichen schwarzen Musik- und Sportstars, die als Beleg für die angebliche Durchlässigkeit der US-amerikanischen Gesellschaft missbrauchen werden. Tatsächlich versuchen Millionen in den Ghettos vergeblich diese Stars nachzuahmen, um den American Dream für sich zu realisieren und aus Armut und Perspektivlosigkeit auszubrechen. Sie werden dabei zu Opfern einer Ideologie bzw. eines Systems, welches sich nicht an den eigentlichen Bedürfnissen orientiert, sondern die Menschen vorrangig auf ihre Verwertbarkeit reduziert. Der ehemalige Black-Panther-Aktivist Mumia Abu-Jamal setzte in einem Artikel dem egozentrischen Slogan von 50 Cent mit seiner Aufforderung “Get Free or Die Tryin'!” eine soziale Perspektive gegenüber. Bezeichnender Weise ist Abu-Jamal jedoch aus politischen Gründen im Todestrakt eines Gefängnisses in Philadelphia inhaftiert, während 50 Cent in Interviews großspurig über die sechsstelligen Summen berichtet, die er für Schmuck und Kleidung ausgibt.
Im Rahmen des bestehenden Systems ist Musik eine Ware. Die Rolling Stones sind dabei genauso ein Produkt, wie ein Waschmittel oder eine Packung Zigaretten. Entscheidend für den Verkauf ist nicht nur, ob das Produkt an sich anspricht oder ob es überhaupt benötigt wird, sondern in einem wesentlichen Maße bestimmt das insbesondere über die Medien vermittelte Image des Produktes über den Kauf. Abhängig von der Zielgruppe basiert das Image beispielsweise auf den Skandalen einer vergeblich rebellischen Rockband, dem betont erotischen Auftreten einer Popsängerin oder dem scheinbar idyllischen Privatleben eines Schlagerstars. Vermittelt wird dieses Bild durch die Berichterstattung in den Medien und insbesondere durch Videoclips. Die Musiksendungen und die speziellen Videokanäle sind dabei zumeist nichts anderes als Werbesendungen für das Produkt Musik.
Sobald sich das Image festgesetzt hat, wird das Musikstück unbewusst mit diesem Bild und den entsprechenden Gefühlen in Verbindung gebracht. Dann entscheidet nicht nur die Eingängigkeit des Stückes, sondern vorrangig das Image über Gefallen und Kauf. Vielfach findet eine Identifikation mit den Stars statt, die sich dann neben dem Kauf von Schallplatten auch zum Beispiel im Tragen von T-Shirts mit entsprechenden Motiven oder weitergehend in der Übernahme von Verhaltens- und Denkmustern ausdrückt. Eine persönliche Vorliebe für ein bestimmtes Musikstück oder eine Band kann sich unter diesen Bedingungen nicht frei entwickeln. Dementsprechend ist der Geschmack nicht Ergebnis einer unabhängigen Entscheidung, sondern in einem wesentlichen Ausmaße die Folge von gezielten Beeinflussungen.
Mit Hilfe des gigantischen, alles durchdringenden Medienapparates werden unterdrückte und unbefriedigte Bedürfnisse werden in die Traumwelten der Medienstars projiziert, in denen scheinbar alle Wünsche Wirklichkeit werden können. Unterschwellig wird vermittelt, dass es möglich ist, durch den Besitz eines bestimmten Produktes den Träumen näher zu kommen, während es dabei tatsächlich zu einer Ablenkung von den eigentlichen Problemen und deren Ursachen kommt. Die Musik- bzw. Kulturindustrie ist so immer auch eine Bewusstseinsindustrie.
Wie kaum einem anderen Pop-Star gelingt es Madonna Modetrends nachhaltig zu prägen. Ganz im Stil der Postmoderne bedient sie sich selbst bei unterschiedlichen Strömungen, nutzt einzelne Elemente um sie neu zusammenzusetzen oder übernimmt eine komplette Ästhetik. Ein Paradebeispiel waren Halsketten mit großen christlichen Kreuzen, die durch Madonna zu einem massenhaft verbreiteten und gleichzeitig inhaltlich völlig entleerten Modeaccessoire wurden. Madonna war es auch, die dem Cowboy-Hut zu einer ungeahnten Popularität verhalf. Nach der Veröffentlichung eines Videos in dem die Sängerin mit Hut auftrat, wurde die zuvor bestenfalls als peinlich verschriene Kopfbekleidung zum hippen Party-Utensil.
DER GEKAUFTE ELVIS
Selbst Menschen, die in weit von den Metropolen entfernten Gebieten leben, können über das Fernsehen erreicht und beeinflusst werden. Über den Prozess der weltweiten Gleichschaltung trägt diese Entwicklung nachhaltig zur Zerstörung eigenständiger Kulturformen bei. Im Zeitalter der Globalisierung werden die weltweit ausgestrahlten US-amerikanischen TV-Serien dabei genauso wie die internationalen Musikhits aus den Fabriken der multinationalen Konzerne zu Symbolen eines modernen Imperialismus, der verstärkt auch die populäre Kultur zur Ausweitung seiner Macht nutzt.
Gleichzeitig werden aber auch rebellische Grundhaltungen in ihrer Hauptströmung zumeist durch den riesigen Verwertungsapparat der Konzerne entschärft und kommerziell verwertet. Die Geschichte der populären Musik ist von solchen Entwicklungen geprägt, sie lassen sich im Zusammenhang mit dem Rock’n’Roll genauso aufzeigen wie am Beispiel des Punk-Rocks, des HipHops oder der Techno-Szene. All diese Strömungen wurzelten im Underground als eine sich gegenüber dem Mainstream abgrenzende Szene. Es ging dabei nur vordergründig um einen Generationenkonflikt, sondern tatsächlich um gemeinschaftliche Freiräume und um die Möglichkeit sich kreativ entfalten zu können bzw. letztlich um ein selbstbestimmtes Leben.
Symbolhaft für die Entwicklung vom Underground zur Vereinnahmung und kommerziellen Ausschlachtung ist die Entwicklung von Elvis Presley. Anfangs galt er als jugendlicher Rebell, der mit seiner Interpretation des Rock’n’Roll und insbesondere auch mit seinen erotisierten Hüftbewegungen die Generation der Eltern schockte. Im Zuge einer umfassenden Vermarktungsstrategie gelang es, über die Jugend hinaus, ein großes Publikum anzusprechen, wobei Elvis gleichzeitig die Schärfe seines rebellischen Images genommen wurde. So wurde sich mit Fernsehanstalten zeitweise darauf geeinigt, dass der Bildausschnitt erst oberhalb der Hüfte einsetzte, um einen Skandal zu vermeiden. In den folgenden Jahren wurde aus dem einstigen Rebell ein Schnulzensänger, den die Schwiegermutter nun genauso sympathisch fand, wie der Sohn der einst über die Strenge schlug. Genauso beispielhaft sind auf ihre Weise die Karrieren unzähliger Punk- und Underground-Bands, die anfangs zu Verweigerung und Widerstand aufriefen. Nachdem sie dann aber von Musikkonzernen unter Vertrag genommen wurden, wandelten sie sich im Zuge der Vermarktung oftmals zu oberflächlichen Rockbands mit banalen Texten.
Beispielhaft ist auch die Entwicklung der Techno-Kultur. Am Anfang stand die betonte Abkehr von gängigen musikalischen Aufbauschemen, von Starkult und Kommerz. Doch auch hier dauerte es nicht lange bis die Industrie bzw. auch Teile der Szene selbst die Technokultur kommerzialisierten. Einen Höhepunkt bildete in dieser Hinsicht Marushas Hit ”Somewhere over the rainbow”, der wochenlang den ersten Platz der Charts belegte. Das Stück war zwar eindeutig dem Techno-Bereich zuzuordnen, es wurde jedoch auf jegliche Kanten zugunsten eines eingängigen Refrains und eines herkömmlichen Songaufbaus verzichtet. Bald darauf wurden auf der Suche nach neuen Absatzmärkten auch die Kinder entdeckt und so trällerte ”Schlumpf-Techno” durch die Kinderzimmer. Die Plattenkonzerne konnten so einmal mehr ihre Gewinne steigern, während die Fans den altersgemäßen neuen Stars auf der Bühne zujubelten.
REBELLION UND VEREINNAHMUNG
Auf dem Weg von Underground in die Hitlisten vollziehen sich beständig vergleichbare Mechanismen, die sich im Wesentlichen in acht Phasen unterteilen lassen. Die erste Phase markiert die Entstehung einer neuen Strömung im Underground. Wesentliche Merkmale sind die konsum- und kommerzkritische Haltung des ”Do It Yourself”-Prinzips, die Versuche soziale Freiräume zu entwickeln und das Bedürfnis nach kreativer Entfaltung. Teilweise definieren sich diese Strömungen klar politisch bzw. gegenkulturell, in anderen Fällen kommt diese Haltung eher unbewusst und unterschwellig zur Geltung.
Die zweite Phase ist geprägt von einer wachsenden Ausbreitung der Kultur, aber auch einer Ablehnung und Repression durch das Establishment. Dazu gehören insbesondere die Eltern, die ihren Kindern das Hören der neuen Musik oder beispielsweise auch einen Kleidungs- oder Haarstil verbieten. Die Berichterstattung in den Medien ist vielfach in dieser Phase von einer kritischen bis diffamierenden Haltung geprägt, die der neuen Ausdrucksform zumeist den Musikcharakter abspricht. Gleichzeitig werden einschränkende Maßnahmen von staatlicher Seite eingeleitet, wobei es von den entsprechenden Regierungen und Staatsformen abhängt, ob diese mit Vergehen gegen Steuer- und Drogengesetze oder mit einer Gefährdung der gesellschaftlichen Ordnung begründet werden.
In der dritten Phase kommt es zu einer Vereinnahmung durch die Industrie. Nachdem das kommerzielle Potential einer neuen kulturellen Strömung bzw. ihrer Ausdrucksformen deutlich wird, setzt eine Phase der Entschärfung und der kommerziellen Verwertung ein. Daran beteiligt sind neben der Musikindustrie unter anderem auch die entsprechenden Konzerne aus dem Bereich der Bekleidungs-, Getränke- und Kommunikationsindustrie. Die Mechanismen der Vermarktung führen zwangsläufig zu einer Abrundung der musikalischen und inhaltlichen Kanten, um eine möglichst große Käuferschaft anzusprechen. Das subversive Potential und die einstigen Ideale werden dabei auf verwertbare Images reduziert.
Die vierte Phase ist vom Übergang zum Mainstream bestimmt. Die einstige Gegenkultur ist in ihrer Hauptströmung nun völlig auf eine marktorientierte und weitgehend inhaltslose Stilrichtung reduziert. Längst ist der Style als Modetrend festgelegt. Es geht nicht mehr um die kreative Entwicklung, sondern um den massenhaften Konsum. Nachdem am Anfang der meisten Strömungen die Ablehnung des Starkults stand, treten nun die von der Industrie eingekauften neuen Stars auf profitablen Massenevents auf.
Die fünfte Phase kennzeichnet eine Gegenbewegung im Underground. Einige Vertreterinnen der Strömung stellen sich ausdrücklich gegen die Kommerzialisierung und beziehen sich auf die ursprünglichen Ideale bzw. versuchen diese weiterzuentwickeln. Der Underground hat dabei zumeist noch einen starken stilistischen und inhaltlichen Einfluss, der jedoch immer wieder vom Mainstream vereinnahmt wird.
In der sechsten Phase kommt es nach dem Überschreiten des kommerziellen Höhepunktes zu einer quantitativen Reduzierung der AnhängerInnen bzw. der Verkaufszahlen. Die verbliebene Szene unterteilt sich wiederum in vielfältige Subkulturen mit spezifischen Ausprägungen, die jedoch zunehmend an Bedeutung verlieren. Im Underground entwickeln sich währenddessen neue Strömungen, um die über Jahre hinweg vorherrschende Musikkultur abzulösen und den gleichen Entwicklungsphasen zu folgen.
Nachdem die einstiege Massenkultur in der folgenden Phase dann über Jahre hinweg bestenfalls als eine kulturelle Randerscheinung überdauert hat, sofern sie nicht völlig verschwindet, folgen in der achten Phase etwa zwei bis drei Jahrzehnte später diverse Revivals. Die alten Bands werden wieder belebt und deren Hits als Remix neu veröffentlicht, die Modeindustrie greift den einstigen Kleidungsstil erneut auf und auf den TV-Kanälen laufen entsprechende Shows. Teilweise findet die einstige Gegenkultur sogar den Weg in die Museen, wo sie dann als abgeschlossene zeitgeschichtliche Erscheinung dokumentiert wird, zumeist ohne einen Bezug der subversiven Ursprünge zur Gegenwart aufzuzeigen.
DIE WELT HINTER DEN FASSADEN
Doch so sehr auch die Mechanismen der Manipulation fortgeschritten sind, ein letztes Stück innerer Lebendigkeit, das Bedürfnis nach freier Entfaltung und Selbstbestimmung, wird immer gegeben sein. Ob sich dieses Bedürfnis entwickeln kann und zu einer bewussten Haltung wird, liegt nicht nur an den äußeren Bedingungen, sondern im Wesentlichen an jeder Person selbst. Der zerstörende Charakter der gegenwärtigen Entwicklungen, denen gleichermaßen Mensch und Natur zum Opfer fallen, ist trotz der vielfältigen Ebenen der Verschleierung dermaßen offensichtlich, dass sich der daraus wachsenden Verantwortung niemand entziehen kann. Es gibt kein richtiges Leben im falschen, also keine wirklich befreite Form der Existenz unter den Bedingungen eines repressiven Systems, stellte der Sozialwissenschaftler Adorno einmal fest. Die Möglichkeit und die Notwendigkeit einer Annäherung aber besteht.
Die Praxis, die sich daraus ableitet, kann unterschiedlich ausprägt sein. Den einzig wahren Weg gibt es nicht, vielmehr sollte ein solidarisches, aber keineswegs unkritisches Verhältnis gegenüber verschiedenen Ansätzen entwickelt werden, sofern diese konsequent zerstörende Strukturen in Frage stellen. Es bestehen gleichermaßen Situationen in denen direkte Aktionen notwendig sind, wie es zu Situationen kommen kann, in denen ein Flugblatt, ein Musikstück oder ein Gespräch wesentlich mehr bewirken. Es gibt Personen, die ihren Schwerpunkt in der inneren Entwicklung und in der konstruktiven Auseinandersetzung mit ihrem direkten Umfeld sehen, während anderen Personen Aktivitäten auf der gesellschaftlich-politischen Ebene näher liegen. Zweifellos können Entwicklungen auftreten in denen nur ein Weg beschreitbar ist, generell sollten sich aber die verschiedenen Ansätze ergänzen und nicht wie so oft behindern.
Beschreibungen des potentiellen Charakters der Musik in einem konkreten Utopia sind zwangsläufig nur begrenzt möglich, da sich auf Grund der veränderten äußeren Bedingungen auch die Bedürfnisse und das Bewusstsein verändern würden. Zu erwarten wäre langfristig ein erweitertes Verständnis von Musik und generell eine Aufhebung der Trennungslinien zwischen den Kunstgattungen. Die Zielsetzungen der Erwirtschaftung von Profit und der Befriedigung manipulierter Bedürfnisse wären aufgehoben, stattdessen würden sich neue Möglichkeiten kreativer Entfaltung und gemeinschaftlicher Kommunikation eröffnen.
Ein Blick hinter die Fassaden der modernen Gesellschaften offenbart eine Vielzahl von idealistischen Ansätzen mit denen zumindest versucht wird, den ersten Schritt auf diesem Weg zu gehen, auch wenn selbst eine Annäherung auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene derzeit nahezu illusionär erscheint. Es geht im Rahmen dieser Bestrebungen dabei immer wieder um die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens. Es geht um eine Hoffnung, um eine konkrete Perspektive, es geht um konsequente Veränderung im Hier und Jetzt.
Wolfgang Sterneck, November 2006.
Kontakt : w.sterneck@sterneck.net
Archiv Musik und Veränderung : www.sterneck.net/musik
Literatur zum Thema von Wolfgang Sterneck:
- Stille, Bewusstsein und Veränderung. (Mit John Cage).
- Der Kampf um die Träume – Musik und Gesellschaft.
- Cybertribe-Visionen.
- Tanzende Sterne – Party, Tribes und Widerstand.
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