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Wolfgang Sterneck
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Konrad Lischka:

DIE LINIE ZUM MENSCHENPARK
- Bevor über Regeln für Genetik gesprochen wird, sind Psychopharmaka und Drogen dran -

Zum Ausruhen Valium, zum Ausgehen Kokain. Gerade mit diesem beiläufigen Detail beschreibt Bret Easton Ellis in seinen Romanen über die frühen 80er („Unter Null“) und frühen 90er Jahre („Glamorama“) ein Phänomen, dass in Richtung Menschzüchtung weist – die Anpassung des Körpers an gesellschaftliche Gegebenheiten mittels Psychopharmaka und Drogen.

Wie sehr die Grenzen zwischen Medikament und Droge verschwimmen, wird an der aktuellen Diskussion um Methylphenidat in den USA und Großbritannien deutlich. Als Medikament wird der Amphetamintyp seit 1957 von Ciba Geigy unter dem Namen Ritalin vertrieben. Ärzte verschreiben das Psychopharmakon vor allem hyperaktiven Kindern, die unter Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHD) leiden. Auf sie wirkt das eigentlich aufputschende Mittel beruhigend. Wie genau, ist nicht erforscht. Fest steht nur, dass Ritalin den Spiegel des Neurotransmitters Serotonin, einem Botenstoff, der Informationen zwischen Nervenzellen überträgt, im Gehirn erhöht.

Ein erhöhter Serotoninspiegel bringt enorme Glücksgefühle – nicht anders wirkt der Ecstasy- Wirkstoff MDMA. Deshalb ist Ritalin in den USA als Droge sehr begehrt. In Phoenix müssen sich inzwischen Eltern Entziehungstherapien unterzeihen, nachdem sie das Ritalin ihrer Kinder schluckten. Die US-Drogenbehörde DEA (Drug Enforcment Administration) hat das Medikament neben Kokain und Methadon als Stufe 2 Droge auf die Bekämpfungsagenda genommen.

Hier stellt sich die Frage, ob die Gründe aus denen Kindern und Erwachsene Riatlin konsumieren so unterschiedlich sind. Die von der DEA verfolgte Nutzung dient meist dem Aufputschen, um im Job oder danach Leistung bringen zu können, die dem Körper eigentlich nicht möglich ist. Die Nutzung auf Rezept ermöglicht Kindern, die sonst nicht ruhig sitzen und sich konzentrieren könnten, den erfolgreichen Schulbesuch. Ob Ritalin bei ihnen tatsächlich die Ursache, also eine Veränderung der Gehirnchemie, oder nur das Symptome bekämpft, ist nicht mit letzter Sicherheit zu sagen. ADHD wird in den USA häufiger diagnostiziert als in der Restwelt, die Zahl der Ritalinverschreibungen hat sich zwischen 1991 und 1995 verdoppelt. In Großbritannien ist die Zahl der Verschreibungen von 2.000 im Jahr 1991 auf 92.000 im Vorjahr gestiegen. Weltweit ist der Ritalin-Gebrauch 1998 laut einem Bericht der WHO in 50 Staaten um 100 Prozent gewachsen. Die Experten mahnen, „mögliche ADHD Überdiagnostizierungen zu verfolgen und exzessiven Gebrauch der Substanz zu zügeln".

Tatsächlich aber besteht enormer Bedarf nach Ritalin, ob er nun aus einer plötzlich global auftretenden Fehlfunktion der Gerhirnchemie resultiert oder aus anderen Gründen. Dr. Harvey Marcovitch vom britischen “Royal College of Paediatrics and Child Health” kritisierte im Independet: „Viele von uns sind sehr skeptisch, was die Gründe für Hyperaktivität angeht. Einige meine, das sei ein Produkt des Lernens, der Beziehungen und von zuviel TV-Konsum.“. Ähnlich äußert sich Dr. Duncan Keeley vom „Royal College of General Practitioners“: „Ernsthafte emotionelle Störungen sind extrem verbreitet bei Kindern. Alle Umfragen zeigen dies und doch wird es oft übersehen. Soziale Dienste für bedürftige Kindern sind verschwunden, die Kindesarmut steigt, ebenso die Familientrennungen. Alls diese Umstände führen gewöhnlich zu Verhaltens-Störungen bei Kindern." Ob die Ritalin-Anwendung in dem Fall legitimer ist als bei „working poor“, die sich durch eine 80-Stunden Woche kämpfen und nebenbei vielleicht ein Kind mit Lernschwierigkeiten zu versorgen haben, ist fraglich.

Die Entwicklung ist nicht so neu. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts verschwimmt die ohnehin nie klare Grenze zwischen illegalen Drogen und legalen Medikamenten. Mit der Entdeckung des Neuroleptikums Chlorpromazins 1952 brach das Zeitalter der modernen Psychopharmaka an. Es setzte eine Euphorie ein, die Tranquilizer zu medikamentösen Konfliktlösern machte.

Tranquilizer bekämpfen Angst, Spannungszustände, dämpfen Zwangsvorstellungen, helfen bei Stressbewältigung, besänftigen innere Unruhe, mildern Frustration – kurz gesagt: Sie entspannen. Und sind wohl deshalb nach Alkohol zur zweiten Volksdroge geworden. In den USA heißt Diazepam – Markenname Valium - auf der Straße „Mother's Little Helper“. Das Mittel war eines der ersten Benzodiazepane, es kam in den frühen 60er Jahren auf den Markt. Heute machen in den USA Medikamente dieses Typs 30 Prozent aller Verschreibungen kontrollierter Substanzen aus. Ein anderer Tranquilizer, das synthetische Opiat Propoxyphene, vor allem als Schmerzmittel Darvon verschrieben, ist laut DEA regelmäßig für einen der Top Ten Plätze bei Drogentoten verantwortlich. 100 Tonnen Darvon werden jährlich in den USA produziert, 25 Millionen Rezepte ausgestellt. Das liegt nicht nur daran, dass die Medikamente ab den 60er Jahren besser und verfügbarer geworden sind – es resultiert vor allem daraus, dass die Menschen sie brauchen. Drogen haben zwei Hauptfunktionen: Die Leistungssteigerung oder die Entspannung. Valium entspannt: Die Hand-Augen-Koordination verlangsamt sich, ebenso die Reaktionszeit. Der Mensch gewinnt subjektiv Zeit. Ähnliches leistet Cannabis.

Wie ausgeprägt das kollektive Bedürfnis nach Glück und Entspannung ist, zeigte der Prozac-Hype in den USA Anfang der 90er Jahre. Fluoxetine – Markenname Prozac - ist ein Antidepressivum des Herstellers Eli Lilly. Das 1974 vorgestellte, 1987 in den USA zugelassene Mittel erhöht gezielt den Serotoninspiegel. Es gehört zur Klasse der so genannten „selective serotonin reuptake inhibitors“ (SSRIS). Über Jahre hinweg widmeten Magazine wir Time, Fortune, Newsweek dem Mittel Titelgeschichten. Es war und ist hip, Prozac zu nehmen, ein Mittel, das offenbar gegen alles gut ist: Depression, Panik, Sozialphobie, Übergewicht.

Eine ähnliche Funktion wie Prozac und Valium erfüllt Ecstasy. Der Wirkstoff MDMA erhöht  grob gesagt den Serotoninspiegel. Folgen: Glückseeligkeit, Offenheit, das Gefühl von Nähe zu anderen Menschen. Deswegen wird in den USA Ecstasy auch „hug drug“ genannt. Auffällig ist, dass in einer Gesellschaft, die immer mehr die Isolierung des Individuums von den Mitmenschen beklagt und massiv an der Volkskrankheit Depression leidet, der illegale Ecstasykonsum enorm steigt. Die DEA nannte 1999 Ecstasy die sich am schnellsten ausbreitende Droge des Jahres. Wie schnell, ist nur zu schätzen. Fest steht: Seit Anfang des Jahres wurden in den USA acht Millionen Ecstasy-Pillen beschlagnahmt. 1998 waren es im gesamten Jahr nur 400000 – ein Zwanzigstel.

Prozac, Valium und Ecstasy kurieren Folgen des Leistungsdrucks, den andere Drogen wiederum zu bewältigen helfen. Nicht ohne Grund machen die Berichte des UN Drogenkontrollprogramms immer wieder die meisten der weltweit 13 Millionen Kokainnutzer in den USA aus. Kokain ist eine Leistungsdroge. Kaum eine Seite in Bret Easton Ellis Roman „American Psycho“, der das Leben der Wall Street Yuppies beschreibt, vergeht ohne durch die Nase gezogene Line. Heute geht man davon aus, das der Anteil der Kokainnutzer im Silicon Valley anteilsmäßig am höchsten in den USA ist. Die Droge erhöht die Aufmerksamkeit, verdrängt Müdigkeit und Hunger.

Die meist verwandte leistungssteigernde Droge ist Koffein. In den Vereinigten Staaten konsumiert jeder Bürger im Durchschnitt 210 mg am Tag, in Großbritannien 445 mg, in Schweden 425 mg. Koffein ist eine weiße, bittere, kristalline Substanz. 75 bis 150 mg – der Inhalt von ein bis zwei Tassen Kaffee – bewirken neurale Aktivität in zahlreichen Gehirnpartien. Was genau passiert, ist nicht endgültig zu sagen. Die Folge sind jedenfalls Wachheit, verbesserte psychische und physische Leistungen, verstärkter Metabolismus.

Koffein macht abhängig. Der Körper entwickelt eine Toleranz, was bedeutet, das eine höhere Dosis für dieselbe Wirkung nötig wird. Ab 350 mg täglich setzt eine physische Abhängigkeit ein. Entzugserscheinungen sind Kopfschmerzen, Gereiztheit. Trotz dieser Eigenschaften ist Koffein eine der traditionellsten und meistkonsumierten Drogen der Welt. Im sechsten Jahrhundert wurden in Nordostafrika Kaffeebäume gezüchtet. Heute liegt der weltweite Verbrauch bei 120000 Tonnen jährlich.

Arbeits- und Entspannungsdrogen gab es immer schon, nur ist in der Moderne durch veränderte Produktionsbedingungen, die enorme Flexibilität und Leistung verlangen, ein neuer Bedarf entstanden. Kaffee oder Kokain zum Arbeiten, Valium oder Xanax zum Entspannen und Prozac zum Glücklichsein. Die Pharmaindustrie versucht, hierfür herkömmliche Drogen zu verbessern: Methadon ist ihre Antwort auf Opium, Marinol die auf Cannabis. Aber die neuen Stoffe sind nicht anders als ihre Vorbilder Drogen. Psychopharmaka und illegale Substanzen sind längst unerlässlich für das Fortbestehen aktueller gesellschaftlicher Verhältnisse. Bevor Regeln für Genetik als nächste Stufe der Anpassung des Körpers an die Gegenwart gedacht werden, muss über solche für den Psychopharmaka- und Drogengebrauch verhandelt werden. Ist es vertretbar, Kindern im Alter von zwei bis vier Jahren Ritalin zu verabreichen, wie es in den USA immer häufiger wohlmöglich zum Ruhigstellen geschieht – ihren Eltern aber die Entscheidung, ähnliche Stoffe zu verwenden, abzuerkennen? Im Moment gibt es keinen Missbrauch, allein Gebrauch.


Konrad Lischka

Dank an Konrad Lischka für die Genehmigung der Veröffentlichung im Archiv Sterneck.net



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