Luisa Francia:
DAS EIGENE LIED FINDEN
Wenn es dir gelingt, einmal völlige Stille herzustellen -
möglich ist das im Gebirge, und wundervoll ist es in der Wüste
-, wirst du jeden Ton wie einen Keulenschlag empfinden. Dann erträgst
du keine Hintergrundsmusik aus dem Radio mehr, wehrst dich gegen
ständige Musikberieselung, denn jeder Ton durchschlägt
die Stille wie ein Wunderwerk.
In dieser Stille wächst das, was bei den sibirischen Küstenbewohnern
das eigene Lied ist. Das eigene Lied finden, heißt, wie ein
Kind dasitzen, nichts tun, Töne aus einem Meer aufsteigen lassen
wie Luftblasen, aufsteigen lassen, bis sich eine Folge ergibt, singen,
summen, brummen und immer dabei auf die Stimme des Erdinneren lauschen.
Was ist mein Lied? Wie töne ich? Habe ich Töne? Stimmt
alles, oder hat es mir die Stimme verschlagen? Wie komme ich wieder
zum Stimmen, zum Klingen?
Wer gehen kann, kann auch tanzen, heißt es, und wer sprechen
kann, kann auch singen. Nur dürfen wir uns das Singen nicht
wie im Kirchenchor oder wie beim Militär vorstellen. Den eigenen
Ton findest du am besten mit einem Kieselstein im Mund, wenn du
den ein wenig hin und her schiebst und dazu einen Ton machst.
Die Geschichte der australischen Aboriginals setzt sich aus den
Schöpfungsmythen und Liedern der Urwesen, der Wondschinas zusammen,
und diese Gesänge, dreamlines oder songlines genannt, überziehen
das Land wie ein Geflecht, stellen für die Singenden eine Landkarte
der Urzeit, der Traumzeit dar.
Instrumente früher Kulturen ermöglichen oft nur zwei
oder drei verschiedene Töne. Das erscheint uns lächerlich
wenig von Musik keine Rede! Und doch fängt die Musik beim Ton
an. Wenn du also Töne haben willst, fang mit einem Ton an,
singe, wie du willst, brumme, ächze, singe schrill oder sanft,
aber mach dir Luft. So lange der Ton genug Luft hat, ist alles wunderbar.
Du atmest ein, und mit dem Ausatmen läßt du einfach deine
Stimmbänder mit vibrieren. Halte den Ton, so lange du magst
und kannst, atme wieder ein, und laß deine Stimmbänder
leise schwingen. Und vergiß: Ich kann nicht singen - das steht
gar nicht zur Debatte.
Wenns stimmt, wenn du Stimme hast, wenn du einen Ton vibrieren
lassen kannst, dann kannst du auch variieren, wo will der Ton hin?
Hinauf? Hinunter? So kannst du langsam anfangen, Töne in dir
aufzubauen. Spüre mit den Fingerspitzen nach, wo am Körper
sie vibrieren. Schön ist, irgendwo draußen zu sitzen,
ein Vogel pfeift, und du antwortest mit deiner Stimme.
Ich hatte einmal einen Wechselgesang mit einer Amsel im Frühsommer.
Sie saß immer auf dem höchsten Zweig und begann, sehr
einfach zu singen, so einfach, daß ich es leicht nachsingen
konnte. Mit jedem Mal wurde das Lied, das sie sang, etwas komplizierter
und länger. Sie wartete aber immer ab, bis ich meine Version
davon gesungen hatte. Schließlich verstieg sie sich zu einem
so komplexen und wundervollen Gesang, daß ich nur noch mit
offenem Mund lauschen konnte und passen mußte. Da begriff
ich: Töne brauchen auch das Hören. Kannst du hören?
Luisa Francia / Salamandra: www.salamandra.de
Dank an Luisa Francia.
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