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Claus Sterneck / Claus in Iceland
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Wolfgang Sterneck
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David Cooper:

MEDITATION UND BEFREIUNG

Politisch aktive Leute denken oft, Meditation sei eine Art orientalischen Quietismus und habe daher nichts mit revolutionärer Arbeit zu tun oder sei gar das Gegenteil davon. Das ist weit entfernt von der Wahrheit, wie ich über die Erfahrung von Gruppen-Meditation in verschiedenen Städten, darunter auch Buenos Aires, mitzuteilen oder zumindest anzudeuten können hoffe. Buenos Aires scheint mir besonders wichtig, weil man hier viele Berührungspunkte in der Problematik der Zivilisation in der Dritten und der Ersten Welt findet. Leider sind meine Erfahrungen im wesentlichen auf Intellektuelle der Mittelschicht bezogen, dabei kurz auch auf eine Gruppe beruflicher Therapeuten. Es kann aber gut sein, daß gerade die politisch Bewußten aus diesem Sektor der Gesellschaft zur Zeit aus Meditation den größten Nutzen ziehen können.

Es ist weder wünschenswert noch möglich, Formen der Meditation im Osten in Kulturen mit vollständig anderen sozio-ökonomischen Lebensformen zu verpflanzen; Ich ging jedoch davon aus, daß es in einer experimentellen Einführungsphase möglich sein könnte, eine ursprüngliche Ausdrucksweise gewissermaßen in eine neue Tonart zu transponieren.

Es ging uns darum, die Ablösung von eingebildeten Problemen zu erreichen, besonders solchen der versklavenden Zeit-Geld-Gleichung, um fähig zu werden, sich freier wichtigeren Problemen widmen zu können, die Handeln erforderten. Die Meditationserfahrung destrukturiert die Uhr- Zeit wie auch subjektive Zeit-Empfindung. Aufgrund dieser Zeit-Veränderung kann man Zeitzonen für Handeln, das nicht bloß Tätigkeit fürs Geldverdienen ist, entdecken. Das ist besonders wichtig für Leute, die Zeit für politische Arbeit freimachen können, wenn es ihnen gelingt, übertriebene Konsumbedürfnisse weitgehend zu reduzieren. Über die politische Analyse hinaus ist die persönliche Veränderung notwendig. Meditation kann bei der radikalen Umwälzung des gesamten bürgerlichen Lebensstils eine Rolle spielen.

Unsere Sitzungen schwankten zwischen einmal und dreimal die Woche für die jeweiligen Gruppen, zu festgelegten Zeiten. Gewöhnlich gab ich eine kurze Einführung, erklärte das Ziel, die Fähigkeit zu erlangen, sein Bewußtsein ”abzudrehen” und durch diesen ”bewußt-losen” Zustand sich der Möglichkeit zu nähern, mit der Leere zu verschmelzen. Das führt zunehmend zu Möglichkeiten der Ablösung von systematisierten Serien von Illusionen, die wir als ”Wirklichkeit” anzusehen konditioniert wurden. Sich von dieser Illusionshaltung zu befreien, ermöglicht einem, freier zu handeln und Befreiung auf alle möglichen menschlichen Sphären auszudehnen, ja sogar auf die ganze Natur, die wir zum Gegenstand ökologischer Zerstörung machen. Ich sprach dann noch die Angst an, die einige vielleicht in dieser Situation empfinden könnten und sagte, es stehe jedem natürlich frei, ruhig zu gehen; ich bat aber darum, nicht zu spät zu kommen.

Wir trafen uns in einem ruhigen dunklen Raum, groß genug für zwanzig Leute, ohne daß körperliche Berührung untereinander zum ablenkenden Problem werden konnte. Glimmende Räucherstäbchen gaben einen einheitlich-neutralen Geruch. Zu Beginn und Ende der Meditationsstunde gab ich mit einer Glocke ein Zeichen. Allein der Verzicht auf Zeit-Kontrolle ist schon wichtig, wenn auch schwierig, wenn man gewohnt ist, die Zeit anderer zu kontrollieren. Der Fußboden war mit Teppich ausgelegt, es gab jedoch keine Stühle, alle saßen mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, manche mit etwas Erfahrung nahmen eine halbe Lotus-Stellung ein. Nach einer Weile ruft diese Haltung bei vielen Leuten Unbehagen im Rücken und in den Beinen hervor; wenn man auch seine Haltung verändern durfte, empfahl ich doch, diese Erfahrung des Unbehagens zu machen, um dann in den Schmerz hineinzukommen zu suchen. Gelingt es einem, in den Schmerz hinein zu gelangen, ohne sich ihm zu widersetzen, kann der Schmerz nicht mehr in uns sein.

Die Meditation selbst verlief natürlich in gänzlichem Schweigen. Und um den Vorgang der Leerung des Bewußtseins zu unterstützen, zündete ich an einem Ende des Raums in meiner Nähe eine Kerze an und machte den Vorschlag, sich auf die Flamme dieser ”äußeren” Kerze zu konzentrieren. Später könnte man dann Aufmerksamkeit einer ”inneren” Kerze zuwenden, bis, zuletzt, auch diese Kerze ”gelöscht” werden kann.

War die Stunde um, sprachen diejenigen, deren Erfahrung über die Meditation hinausgereicht hatte, etwa fünfzehn Minuten miteinander über diese Erfahrungen. Einige hatten beispielsweise ziemlich zwanghaft versucht, irgendein Problem ihres Lebens anzupacken; wenn das Problem ihnen als zu groß entgegentrat, schlug ich ihnen vor, sich dem Problem nicht zu verweigern, sondern sich (wie beim Schmerz) darauf zu konzentrieren, ohne zu versuchen, das Problem zu verstehen oder anzugehen. So konnten sie eher in das Problem eindringen, anstatt das Problem in sie eindringen zu lassen. ”Probleme lösen” gehört in eine andere Situation, nicht in die Meditation.

Andere wieder erfuhren merkwürdige Veränderungen in ihren Körpervorstellungen, so erfuhren sie z.B. einige Teile ihres Körpers als riesengroß, andere als absurd klein oder gar nicht vorhanden. Einige erfuhren sich als über unendliche Entfernung hinweg flutend, andere machten ängstigendere Erfahrungen, so eine Frau, die fühlte, wie sich ihre Vagina in einen scheußlichen purpurn-braunen Gegenstand verwandelte. Erst nachdem es ihr gelang, diese Erfahrung auszuhalten und sie trotz Angst und Widerstreben zu akzeptieren, kehrte ihr Körper in seinen Normalzustand zurück. Die Parallelen zu ”psychedelischen” Erfahrungen sind offensichtlich.

Das Ergebnis mehrerer Sitzungen war dann, daß die meisten eine größere Beweglichkeit beim Eintreten in ihr Bewußtsein und beim Verlassen ihres Bewußtseins erfuhren und auch die gewöhnliche mechanistische Gegenüberstellung von ”innen” und ”außen” überwanden, die der Verstand der Erfahrung aufbürdet. Bei einigen drückte sich auch ein Gleiten nach unten, von den zerebralen zu tieferliegenden Kraftzentren in größerer genitaler Beweglichkeit aus.

Nach einigen Sitzungen gab es weniger über Meditation zu reden und der Austausch entwickelte sich weitgehend non-verbal. Jemand machte z.B. eine Geste zu mir hin (oder zu jemand anderem hin) oder nahm eine bestimmte Stellung ein und man antwortete spontan darauf mit einer Geste oder Haltung, die ihr zu entsprechen schien. Es konnte aber auch ein subtiler Augenkontakt sein, oder ein Austausch von Tönen, die in gewöhnlichen gesellschaftlichen Situationen kaum wahrnehmbar wären, die aber in dieser Situation höchster Sensibilisierung Formen der Begegnung und des Wiedererkennens darstellten, die man auch in andere gesellschaftliche Situationen hinaustragen kann.

Verstehen und Interpretieren der ”Gruppendynamik” oder ”Übertragung” kommt für das nach- meditative Zusammensein nicht in Frage (das konnten die professionellen Therapeuten in unserer Gruppe erst schwer begreifen). Spontane Antworten öffnen neue Bereiche gesellschaftlicher Erfahrung und neue Formen der Begegnung.

Eine beträchtliche Gefahr liegt darin, daß, was in der Meditationsstunde oder gleich danach gewonnen wurde, gleich wieder verlorengeht. Die Rückkehr in entfremdete Arbeits- und Beziehungssituationen ist eine Bedrohung, der nicht ausgewichen werden kann. Das stellte ich nach etwa zweiwöchentlichen Meditationsperioden mit Meditation zweimal täglich (wo zwischen den Perloden immer Monate lagen) im tibetanisch-buddhistischen Kloster in Schottland fest. Arbeitet man aber nach einem Plan von einer bis drei Meditationsübungen pro Woche, den man über viele Monate aufrechterhält, dann verringert sich das Risiko des Verlusts - selbst in einem hektischen großstädtischen Zentrum. Das wichtigste ist Regelmäßigkeit, einer in der Gruppe sollte den erforderlichen großen Raum regelmäßig für die Gruppe verfügbar machen (natürlich muß niemand fürs Meditieren bezahlen!). Allmählich fängt man an, in der Zwischenzeit zwischen den Sitzungen aus der Gruppenerfahrung heraus selbst allein zu meditieren. Es wird dann möglich, jederzeit sehr kurze Momente von Bewußtlosigkeit herzustellen, auf der Straße gehend, im Restaurant, usw. Für einen Augenblick kann man sich von seinem Körper lösen und erfährt ein tiefes Vertrauen vor der anoia, daß der Körper automatisch wieder funktionieren und reaktionsfähig sein wird.

Annäherung an gänzliche Leere heißt noch nicht äußerste Verschmelzung mit dem Nichts. Man muß versprechen, in die Welt zurückzukehren, mit weniger Angst vor dem Tod, vor Orgasmus und Wahnsinn. Dann wird es möglich, auf jeder Ebene des persönlichen und des gesellschaftlichen Seins freier zu handeln und die Welt zu verändern.

Uns aus dem aufgezwungenen Bewusstsein herauszubegeben ist der erste wirkliche Schritt auf dem Weg zur Befreiung.

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"Moving out of our minds, which are really their minds, is the truest first step that leads us into and through liberated struggle."
David Cooper


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