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Claus Sterneck / Claus in Iceland
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Wolfgang Sterneck
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Wilhelm Weitling:
 
Achtundvierzig Stunden im Dunkeln
 
Da steh' ich wieder in dem finstern Loch
Und stoße an die unsichtbaren Wände
Bald mit der Nase, bald mit Fuß und Hände. —
Gott Lob! nun kenn' ich diese Strafen doch!
 
Sieht man dort oben in der dunk'len Zelle
Den Herren draußen immer noch zu helle,
So wird man hier auf Tage oder Stunden
An diese schwarze Finsternis gebunden.
 
Ihr blinden Blindenleiter! es ward Licht
 Einst ohne Richter, Polizei und Pfaffen.
Die Uebel, die ein blinder Geist geschaffen,
Die heilet man durch Augenblindheit nicht.
Mit Blindheit ist das arme Volk geschlagen,
Drum' sieht es nicht, wess' Bürden es muß tragen,
 
Doch die es seh'n, läßt man nach falschem Richten
Durch Blindheit, Frost und Hunger hier vernichten.
Ihr gebt uns täglich nur ein halb' Pfund Brot.
Im Dunkeln weiter nichts; so aufgerieben
Durch Hunger, zur Verzweiflung fast getrieben,
 
Fand oder gab sich mancher hier den Tod. —
Wem nur des Hauses schmale Kost gewähret,
Dess' Körperkraft wird früher auch verzehret,
Am frühesten dahin in diesen Mauern,
Wo Tod und Krankheit auf den Schwachen lauern.
 
Mit der Bewegung geht es herzlich schlecht,
Man taumelt hin und her auf Krug und Scherben,
Und könnte schier vor langer Weile sterben:
Denn steh'n und sitzen kann man auch nicht recht.
Das Liegen auf dem Boden ist noch schlimmer.
 
Und liegen kann man wahrlich doch nicht immer:
Man muß ja ohnehin auf harten Weiden,
Die Nacht hindurch hier Schlaf und Ruhe meiden. —
Es müssen Kranke in der Nähe sein;
Man hört sonst nichts als husten durch die Wände:
  
Das ist der armen Sünder traurig Ende
Nach einem Leben voller Schmerz und Pein
Doch jene, die von anderer Arbeit prassen,
Die stehlen, doch sich nicht erwischen lassen,
Die mit Betrug Gesetz und Recht umgehen,
Sieht man oft hoch in Rang und Würden stehen.
  
Schon sechsunddreißig Stunden zugebracht!
Von Hunger weiß ich noch nicht viel zu sagen,
Doch fängt der Puls an heftiger zu schlagen,
Und länger wird mir diese zweite Nacht.
  
Als Knabe konnte ich noch Geister sehen,
Säh' ich nur jetzt hier einen vor mir stehen,
Von einem, der ins Dunkle einst gekommen,
Und aus Verzweiflung drin das Leben sich genommen.
  
Ein Flämmchen schlug jetzt über mir empor,
Von meinem Kopfe bis hinauf zur Decke
Jetzt wieder, da den Kopf ich danach strecke:
Das ist gewiß das Gas im Feuerrohr.
Doch nein! dann hätt' es einen Schein gegeben.
So täuscht der Mensch sich oft in diesem Leben:
 
Ich blickte scharf, damit ich etwas sähe.
Und dabei stieg das Blut mir in die Höhe. —
Was hör' ich? Eine Stimme auf dem Gang,
Sie kommt von einer off'nen Zellentüre.
Das ist der Pfaffe, so viel ich hier spüre.
 
Dort liegt vielleicht ein Sünder sterbend krank
Auf seinem Bette in den letzten Zügen,
Den will der Pfaffe noch einmal belügen;
Zur guten Letzt ihm für das and're Leben
Noch eine Lüge auf die Reise geben.
 
Man hört ihn laut; doch aber scheint mir nicht,
Daß er am Bette drinnen in der Zelle,
Sondern von draußen von der Türe Schwelle
Das Wort des Trostes zu dem Kranken spricht.
Jetzt hat er ihn in Gottes Hand empfohlen,
Doch so geschwind, als stände er auf Kohlen.
Was kann man auch für fünfundsechzig Batzen
Des Tages viel mit einem Kranken schwatzen!
 
Ein alter Zellenbruder sagte mir:
Daß die, mit welchen es wird streng genommen,
Acht Tage lang in solche Löcher kommen;
Ja, vierzehn Tage war schon einer hier:
Daß, wer in Wort und Tat sich grob vergangen,
Dem legt man an die Arme schwere Stangen
Von Eisen, die oft dreißig Pfunde wiegen;
Mit diesen muß er an der Kette liegen.
 
Er sagte, daß fünf Tage lang gestrippt
Schon mancher lag an Füßen und an Händen,
Und konnte weder Glied noch Hose wenden. —
Das ist die Nächstenliebe, die man übt!
 
Wer mit den Brüdern gleichen Teil will haben
Und gleiches Recht, den läßt man hier begraben,
Und läßt ihn durch Direktor, Wärter, Pfaffen
So bald als möglich in den Himmel schaffen.
 
Es schafft der Mensch sich selbst die größte Pein;
Gerechtigkeit muß er an Feinden üben,
Und dennoch soll der Christ die Feinde lieben,
Nicht Richter, nicht Verfolger sein. —
Was ist Gerechtigkeit? Es sind Sentenzen,
Sind Phrasen, die von fern wie Wahrheit glänzen.
Doch würde uns Pilatus heute fragen,
Was Wahrheit sei, was würden wir ihm sagen? —
 
(Ende Januar 1844.)
 
Aus: Wilhelm Weitling / Kerkerpoesien. (1844).
 
 
Wilhelm Weitling (1808-1871):
- Die Menschheit. (1838).
- Achtundvierzig Stunden im Dunkeln. (1844).
- Das Geld. (1841).
- Das Evangelium des armen Sünders.
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