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Wolfgang Sterneck
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John Cage
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Wolfgang Sterneck

JOHN CAGE UND DIE MUSIK DER VERÄNDERUNG

Überrascht stellte John Cage auf der Suche nach neuen Hörerfahrungen in einem schalldichten Raum in Cambridge fest, dass er rhythmische Geräusche vernahm. Der zuständige Techniker erklärte ihm später, dass er verschiedene Abläufe in seinem Körper wahrgennommen hatte. ”Ich hörte, dass Schweigen, dass Stille nicht die Abwesenheit von Geräuschen war, sondern das absichtslose Funktionieren meines Nervensystems und meines Blutkreislaufes. Ich entdeckte, dass die Stille nicht akustisch ist. Es ist eine Bewusstseinsveränderung, eine Wandlung. Dem habe ich meine Musik gewidmet. Meine Arbeit wurde zu einer Erkundung des Absichtslosen.”

Das veränderte Verständnis der Stille führte 1952 zur Komposition von ”4,33”, einem Stück in dem kein Geräusch absichtlich erzeugt wird. Die Aufgabe der beteiligten MusikerInnen ist es dabei, die Bühne zu betreten und sie nach einer Zeitspanne von 4,33 Minuten wieder zu verlassen ohne ein Instrument gespielt zu haben. Die Musik besteht aus den Geräuschen des Publikums, einem Husten, Flüstern oder auch aus Protestrufen, genauso wie beispielsweise aus den Geräuschen einer quietschenden Tür, eines auf der Straße vorbeifahrenden Lastwagens oder eines Regengusses. Einige Jahre nach der Komposition von ”4,33” erklärte Cage in einem Interview, dass er das Stück nicht mehr benötige, da er inzwischen in der Lage sei, es ständig zu hören. ”Die Musik, die mir am liebsten ist und die ich meiner eigenen oder irgendeines anderen vorziehe, ist einfach die, die wir hören, wenn wir ruhig sind.”

Ausgehend von anarchistischen und zen-buddhistischen Grundgedanken durchbrach der 1992 in Alter von neunundsiebzig Jahren verstorbene John Cage immer wieder die Regeln und Grenzen der traditionellen Ausdrucksformen. Seit den vierziger Jahren entwickelte er im Gegensatz dazu die Theorie und Praxis einer in sich herrschaftsfreien Musik und beeinflusste damit nachhaltig die Entwicklung der modernen Musik. Cage zufolge hat jede Form des Seins auf einer übergeordneten Ebene letztlich die gleiche Wertigkeit, unabhängig davon, ob sie sich ihrer selbst subjektiv bewusst ist oder nicht. Entsprechend war für Cage jeder Klang, jedes Geräusch und jeder Ton gleichwertig, egal ob er von einer Flöte oder von einem fallenden Stein hervorgerufen wird. Beide haben ihre eigentliche Bedeutung in sich selbst. Die traditionelle Musikauffassung akzeptiert diese Eigenständigkeit nicht. Sie ordnet vielmehr einen Ton ständig in einen Zusammenhang mit anderen Tönen ein, bewertet ihn und stellt ihn dabei über oder unter diese. Cage widersetze sich diesem Verständnis, das sich in allen Bereichen der klassischen Musik widerspiegelt, und setzte ihr ein erweitertes Verständnis von Musik bzw. von musikalischer Wahrnehmung entgegen.

Um seinem Ideal einer absichtslosen Musik auch in anderen Kompositionen möglichst nahe zu kommen, arbeitete Cage mehrfach mit dem Zufallsprinzip. Er erreichte damit, dass die Auswahl der Töne nicht nur völlig unabhängig von einem wertenden Aufbau, sondern auch darüber hinausgehend unabhängig vom individuellen Geschmack des Komponisten, sowie von jeglichen psychologischen und traditionellen Zusammenhängen stattfand. Cage verstand dabei den Zufall nicht als etwas völlig beliebiges, sondern im eigentlichen Sinne des Wortes als etwas, das einer Person zufällt. Auch für ein zufälliges Ereignis gibt es immer eine Ursache, dessen Wurzel sich in einem größeren Zusammenhang befindet, auch wenn sie nicht offensichtlich ist.

Für die Komposition von Stücken ohne beabsichtigte Höhepunkte, Reihenfolgen und Wiederholungen nutzte Cage verschiedene Zufallsoperationen, darunter insbesondere das chinesische Orakel I-Ging, dessen zumeist durch Münzwürfe hervorgerufenen Ergebnisse in vorbereitete Notentabellen übertragen wurden. Das auf diese Weise 1951 entstandene Klavierstück ”Music of Changes” gilt inzwischen als Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts. Ebenfalls im Sinne der Absichtslosigkeit setzte Cage bei der Aufführung von ”Imaginary Landscapes No. 4” zwölf Radioapparate ein, die ohne vorherige Kenntnis des Programms eingeschaltet wurden. ”Imaginary Landscapes No. 5” basierte auf der Verwendung von zweiundvierzig beliebig ausgewählten Schallplatten, die jeweils phasenweise überlagert abgespielt wurden, wobei Cage auch in diesem Fall die entsprechenden Zeitverläufe durch Zufallsoperationen ermittelte. Für die Komposition ”Atlas Eclipticalis” nutzte Cage die Konstellation von Sternen auf entsprechenden Karten zur Komposition.

Ein grundlegender Widerspruch in Bezug auf die Verwirklichung einer Musik der Absichtslosigkeit blieb aber zwangsläufig auch in den Stücken von Cage unaufgehoben. Denn selbst wenn die Bestimmung der einzelnen Töne unabhängig von der komponierenden Person stattfindet, die Auswahl also absichtslos ist, so bleibt die anfängliche Absicht bestehen, ein Stück zu erstellen. Eine völlig absichtslose Musik kann nur dann entstehen, wenn der Akt der Komposition ein völlig unbewusster ist. Entsprechend kann absichtslose Musik im Grunde nicht entstehen, sondern besteht bereits in den umgebenden Geräuschen und Schwingungen, im Rauschen der Bäume genauso wie in den monotonen Rhythmen von Maschinen oder in den Schwingungen der Atome. Die Gefahr, die mit zufallsbedingten Kompositionen verbunden ist, liegt wie bei allen vom Zen-Buddhismus beeinflussten Betrachtungen in einer zu abstrakten und abgehobenen Sichtweise. Eine gleichmütige, gegenüber allem offene und nicht wertende Position führt zu einer passiv akzeptierenden Haltung, die letztlich auch objektives Unrecht nicht angeht sondern duldet. Oftmals wird dabei durch die ausschließliche Konzentration auf den Prozess der persönlichen Weiterentwicklung die Wechselbeziehung zwischen innerer und äußerer gesellschaftlicher Veränderung ignoriert.

Experimentelle Ausdrucksformen, die mit Geräuschen und ungewohnten Klangfolgen arbeiten, werden zumeist schnell als ”unhörbar” oder ”unharmonisch” abgelehnt. Derartige Wertungen werden jedoch schnell relativiert, wenn auf die Bedingungen eingegangen wird, unter denen sich Geschmack entwickelt. Dieser ist keineswegs angeboren oder ausschließlich ein Ergebnis individueller Empfindungen, er wird vielmehr ständig von äußeren Faktoren beeinflusst und insbesondere durch die Medien geprägt. In den westlichen Staaten wird fast jeder Jugendlicher nachhaltig von der Pop-Musik geprägt. Zwangsläufig wird ihnen ein positives Bild von den Stars und deren Musik vermittelt wird. Entsprechend kommt es in der Regel zu einer Ablehnung experimenteller Stilmittel, da sie dem gewohnten und als angenehm vermittelten Ausdrucksformen bzw. dem anerzogenen Geschmack widersprechen. Um eine Offenheit gegenüber den experimentellen Ausdrucksformen zu entwickeln, bedarf es deshalb einer Phase der Gewöhnung, sowie einer Vermittlung der entsprechenden Hintergründe durch die Medien und insbesondere auch durch die Schulen und die Erziehenden. Ein solcher Prozess würde jedoch auch bedeuten, dass eine Haltung vermittelt wird, die letztlich zur Hinterfragung des Bestehenden auffordert und auch offen für gesellschaftliche Veränderungen ist.

Die Kompositionen und Konzerte von Cage entsprachen einer entsprechenden Aufforderung sich mit neuen vielschichtigen Möglichkeiten akustischer Ausdrucksformen auseinanderzusetzen und Bestehendes zu hinterfragen. So nutzte Cage für die Realisation von ”Variations VII”, das 1966 in einer Halle in New York aufgeführt wurde, Geräuschquellen wie Toaster und Mixer, Impulsgeneratoren, Geigerzähler, Radiogeräte und Fernsehapparate. Zudem waren an den Körpern von vier MitarbeiterInnen Elektroden angebracht, welche die entsprechenden Körpergeräusche wiedergaben. Hinzu kamen die Geräusche von Plätzen außerhalb der Halle, darunter ein Vogelhaus in einem Zoo, ein Restaurant und ein Busbahnhof, die durch Telefonverbindungen direkt übermittelt wurden. Während der Aufführung konnte sich das Publikum in der Halle frei bewegen und sich dadurch nach Belieben einzelnen Geräuschquellen widmen. ”Beschränke dich auf Geräusche, die während der Vorstellung entstehen (über TV, Radio, Telefon, Mikrofon) / keine schon verarbeiteten Geräusche / Geräusche aus der Luft fangen wie mit einem Netz, vor allem die unhörbaren nicht verloren gehen lassen / ständige Quellen / keine Partitur keine Stimmen / vorhandene Empfänger frei manipulieren / das sonst unhörbare hörbar machen und keine Intention dazwischen schieben / einfach das Hören erleichtern.”

Das Stück ”Roaratorio” ging von James Joyces Roman ”Finnegans Wake” aus. An den von Joyce aufgeführten Orten ließ Cage Tonbandaufnahmen machen, die zusammen mit irischen Volksliedern und neu zusammengesetzten Passagen aus dem Originaltext zu einer Collage verbunden wurden. Alle auftretenden Geräusche wurden dabei gleichbehandelt, wobei deren Position innerhalb des Stückes durch Zufallsoperationen ermittelt wurden. ”Ich wollte eine Musik machen, frei von Melodie, frei von Harmonie und frei von Kontrapunkt - frei von musikalischer Theorie. Ich wollte nicht, dass es Musik im Sinne von Musik wird, sondern ich wollte das es Musik im Sinne von ’Finnegans Wake’ wird. Ich wollte, dass die Musik unmittelbar daraus hervorgeht.”

Wesentliche Elemente des Werkes von Cage, darunter die Einbeziehung der Stille, des Zufallsprinzips und auch die unterschwellige gesellschaftspolitische Ausrichtung, beinhaltet beispielhaft die Komposition ”Five Hanau Silence”, die Cage 1992 kurz vor seinem Tod konzipierte. Im Rahmen des Entstehungsprozesses wurden durch Zufallsoperationen fünf Orte in Hanau ausgewählt, an denen es zu Tonaufnahmen kam, die später miteinander verbunden wurden. Das akustische Ergebnis erschien zusammen mit einem Buch als Benefiz-Projekt für das Autonome Kulturzentrum Metzgerstraße, einem besetzten Haus in Hanau, dem Cage auch die Komposition widmete.

Der Einfluss von Cage ging weit über den musikalischen Bereich hinaus. So markierte eine 1952 in Black Mountain von Cage initiierte Aufführung den Ausgangspunkt für die Happening-Bewegung der sechziger Jahre: ”Durch die Lektüre von Artaud erfuhren wir von der Idee, dass das Theater nicht auf einem Text basieren muss, dass der Text nicht alle Handlungen vorschreiben muss, so dass sich Klänge, Aktivitäten usw. unabhängig voneinander entfalten können, ohne aufeinander zu verweisen. Weder sollte der Tanz Ausdruck der Musik noch die Musik Ausdruck des Tanzes sein. Beide können unabhängig voneinander bestehen. Wir haben diesen Gedanken auf die Poesie, die Malerei usw. und das Publikum ausgeweitet. Die Aufmerksamkeit wurde nicht ausschließlich in eine bestimmte Richtung gelenkt. An einer Wand des Saals wurde ein Film gezeigt, am anderen Ende wurden Dias projiziert. In gewissen Zeitabschnitten, die ich Zeitklammern nannte, konnten die Interpreten innerhalb bestimmter Grenzen machen, was sie wollten. Robert Rauschenberg ließ Musik abspielen. David Tudor spielte Klavier. Merce Cunningham und andere Tänzer bewegten sich durch und um das Publikum herum. Über uns waren Rauschenbergs weiße Bilder aufgehängt. Auf jedem Zuschauersitz befand sich eine Tasse ohne eine Gebrauchsanweisung für das Publikum. Manchmal wurde sie als Aschenbecher benutzt. Die Performance wurde durch eine Art Ritual beendet, indem Kaffee in die Becher gegossen wurde.”

Cage bezeichnete sich selbst als Anarchist, wobei er auf dem Weg zu einer freien Gesellschaft die auf einem ”Netz von sozialen Nützlichkeiten” basieren soll, immer wieder die Notwendigkeit eines gewaltfreien gesellschaftlichen Wandels betonte, der von einem Prozess innerer Weiterentwicklung ausgeht. In den Kompositionen von Cage kamen dessen anarchistische Vorstellungen jedoch nur in Ausnahmefällen auf einer direkten textlichen Ebene zum Ausdruck. Vielmehr zeigten sich seine Ideale vorrangig im strukturellen Aufbau der Stücke. Charakteristisch war dabei insbesondere die Offenheit der Kompositionen, die teilweise so konzipiert wurden, dass sie bei jeder Aufführung einen völlig neuen Charakter erhalten können. Darüber hinausgehend eröffneten die Stücke in ihrer Gesamtheit immer wieder den Weg zu einer neuen Art von Hörerlebnis bzw. zu einem bewussteren Hören und darüber hinausgehend zu einer bewussteren Wahrnehmung der umgebenden Entwicklungen. Auf diesem Weg entfalten gerade auch die scheinbar unpolitischen Kompositionen von Cage eine eigene tiefgreifende gesellschaftliche Dimension. ”Wir brauchen eine Musik, in der nicht nur die Töne einfach Töne sind, sondern auch die Menschen einfach Menschen, dass heißt keinen Regeln unterworfen, die einer von ihnen aufgestellt hat, selbst wenn es ’der Komponist’ oder ’der Dirigent’ wäre. Bewegungsfreiheit ist die Grundlage dieser neuen Kunst und dieser neuen funktionierenden Gesellschaft mit Menschen, die ohne Anführer und Oberhaupt zusammenleben.”

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