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Claus Sterneck / Claus in Iceland
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Wolfgang Sterneck
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Oscar Wilde:

DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY

- "Auf dem Boden lag ein toter Mann. Erst als sie die Ringe sahen, erkannten sie, wer es war." -


Es war eine wunderschöne Nacht, so warm, dass er den Überrock über den Arm nahm und nicht einmal das Seidentuch um den Hals legte. Als er, eine Zigarette rauchend, nach Hause schlenderte, gingen zwei Herren im Frack an ihm vorüber. Er hörte, wie der eine dem anderen zuflüsterte: "Das ist Dorian Gray." Er erinnerte sich, wie er sich früher gefreut hatte, wenn man ihn sich zeigte, anstarrte oder über ihn sprach. Jetzt war er es müde, seinen Namen zu hören. Der halbe Reiz des Dorfes, in dem er kürzlich so häufig gewesen war, lag darin, dass niemand dort wusste, wer er war.

Als er nach Hause kam, wartete der Diener auf ihn. Er schickte ihn zu Bett, warf sich auf das Sofa in dem Bibliothekszimmer und begann über einiges von dem, was ihm Lord Henry gesagt hatte, nachzudenken.

War es wirklich wahr, dass man nie anders werden konnte? Er fühlte eine brennende Sehnsucht nach der makellosen Reinheit seiner Jugend, seiner rosenweißen Jugend, wie Lord Henry einmal gesagt hatte. Er wusste, dass er sich befleckt hatte, seinen Geist mit Verderbnis erfüllt und sein Gewissen mit Schrecken; dass er einen verderblichen Einfluss auf andere gehabt und eine schreckliche Lust bei solchem Tun verspürt hatte; dass von allen Leben, die das seine gekreuzt hatten, es die schönsten und meistversprechenden gewesen waren, die er in Schande gebracht hatte. Aber war das alles unabänderlich? Gab es keine Hoffnung mehr für ihn?

Ach, in was für einem ungeheuerlichen Augenblick von Stolz und Leidenschaft hatte er gebetet, dass das Bildnis die Last seiner Tage tragen und er den ungetrübten Glanz ewiger Jugend bewahren möge. Das Gebet war an all seinem Unglück schuld. Es wäre besser für ihn gewesen, wenn jede Sünde seines Lebens ihre sichtbare und schnelle Strafe mit sich gebracht hätte. In der Strafe lag Läuterung. Nicht "Vergib uns unsere Schuld!", sondern "Züchtige uns für unsere Missetaten" sollte das Gebet des sündigen Menschen lauten!... Der merkwürdig geschnitzte Spiegel, den ihm Lord Henry vor so vielen Jahren geschenkt hatte, stand auf dem Tisch und die weißgliedrigen Liebesgötter umlachten ihn wie ehedem. Er nahm ihn, so wie er es in jener schrecklichen Nacht getan hatte, als er zum ersten Male die Wandlung auf dem Bildnis bemerkt hatte und mit unruhigen, tränenfeuchten Augen blickte er in die glatte Fläche. Einmal hatte ihm jemand, der ihn wahnsinnig geliebt hatte, in einem tollen Brief geschrieben: "Die Welt ist anders geworden, weil Du aus Elfenbein und Gold gemacht bist. Die Linien Deiner Lippen schreiben die Weltgeschichte aufs neue." Diese Sätze kamen ihm ins Gedächtnis und er wiederholte sie immer und immer wieder. Er hasste jetzt seine eigene Schönheit, warf den Spiegel auf den Boden und bohrte seinen Absatz in die silbernen Splitter. Seine Schönheit war es, die ihn zugrunde gerichtet hatte, seine Schönheit und die Jugend, um die er gefleht hatte. Wären sie nicht gewesen, sein Leben hätte fleckenlos sein können. Die Schönheit war für ihn nur eine Maske gewesen, die Jugend nur ein Hohn. Was war denn die Jugend im besten Falle? Eine grüne, unreife Zeit, eine Zeit alberner Launen und krankhafter Einfälle. Warum hatte er ihre Tracht angelegt? Die Jugend hatte ihn zugrunde gerichtet.

Es war besser, nicht an die Vergangenheit zu denken, die nichts ändern konnte. Er musste an sich selbst und seine Zukunft denken. James Vane war in einem namenlosen Grabe auf dem Kirchhof in Selby eingescharrt. Alan Campbell hatte sich eines Nachts in seinem Laboratorium erschossen, aber das Geheimnis, das ihm aufgezwungen worden war, hatte er nicht verraten. Die Erregung über Basil Hallwards Verschwinden würde bald vorübergehen, ja, sie ging schon vorbei. Er war jetzt vollständig sicher. Es war auch nicht der Tod Basil Hallwards, der am schwersten auf seinem Gemüt lastete. Es war der lebendige Tod seiner eigenen Seele, der ihn bedrückte. Basil hatte das Bildnis gemalt, das sein Leben verdorben hatte. Er konnte ihm das nicht vergeben. Das Bild allein hatte alles getan. Basil hatte unerträgliche Dinge zu ihm gesprochen und doch hatte er sie geduldig ertragen. Der Mord war nur der Wahnsinn eines Augenblicks gewesen. Alan Campbells Selbstmord war sein eigener Entschluss gewesen. Er hatte ihn veranlasst, ihn ging er nichts an!

Ein neues Leben! Das war es, was er brauchte. Das war es, worauf er wartete. Ja, er hatte es schon begonnen. Ein unschuldiges Wesen hatte er jedenfalls geschont. Nun wollte er nie wieder die Unschuld in Versuchung bringen.

Als er an Hetty Merton dachte, fragte er sich, ob sich das Bild in dem verschlossenen Raum oben wohl geändert habe. Es konnte sicher nicht mehr so schrecklich sein, wie es gewesen war. Vielleicht, wenn jetzt sein Leben rein würde, könnte es möglich sein, dass jedes Zeichen böser Leidenschaften aus dem gemalten Antlitz gelöscht wurde. Er wollte hinauf und nachsehen.

Er nahm die Lampe vom Tisch und schlich sich hinauf. Als er die Tür aufriegelte, huschte ein frohes Lächeln über sein seltsam junges Gesicht und verweilte einen Augenblick auf seinen Lippen. Ja, er wollte gut sein und das grässliche Ding, das er hatte verbergen müssen, würde dann keinen Schrecken mehr für ihn haben. Ihm war, als wäre diese Last schon von ihm genommen.

Ruhig trat er ein, schloss die Tür hinter sich, wie das seine Gewohnheit war, und zog den Purpurvorhang von dem Bildnis. Ein Schrei voll Schmerz und Empörung kam von seinen Lippen. Er konnte keine Änderung sehen, außer dass in den Augen ein schlauer Ausdruck war und um den Mund die verlogenen Züge des Heuchlers. Das Ding war ekelhaft, vielleicht noch widerlicher als vorher, und der scharlachrote Tau, der die Hand bedeckte, schien heller, mehr wie frisch vergossenes Blut. Er zitterte. War es also nur Eitelkeit gewesen, die ihn veranlasst hatte, seine einzige gute Tat zu begehen? Oder die Begierde nach einer neuen Sensation, wie Lord Henry mit seinem spöttischen Lachen angedeutet hatte? Oder der leidenschaftliche Hang, eine Rolle zu spielen, aus dem wir manchmal Dinge tun, die edler sind als wir selbst? Vielleicht all das zusammen?... Warum war der rote Fleck jetzt größer, als er gewesen war? Er schien sich wie eine fürchterliche Krankheit über die runzligen Finger ausgebreitet zu haben. Es war Blut auf den gemalten Füßen, als wäre es herabgetropft - Blut selbst auf der Hand, die das Messer nicht gehalten hatte. Sollte er bekennen? Sollte das heißen, dass er bekennen sollte? Sich selbst angeben und zum Tode geführt werden? Er lachte auf. Er fühlte, dass der Einfall ungeheuerlich sei. Und dann, selbst wenn er bekannte, wer würde ihm glauben? Nirgends war eine Spur des Ermordeten. Alles, was ihm gehörte, war zerstört. Er selbst hatte, was unten war, verbrannt. Die Welt würde einfach sagen, dass er wahnsinnig geworden sei. Sie würden ihn irgendwo einsperren, wenn er bei seiner Erzählung blieb... Und doch, es war seine Pflicht, zu bekennen, öffentlich Buße zu tun, das Urteil der Gesellschaft auf sich zu nehmen. Es gab einen Gott, der die Menschen zwang, auf Erden so gut wie im Himmel ihre Sünden zu bekennen. Nichts sonst würde ihn reinigen, ehe er seine Sünde bekannt hätte. Seine Sünde? Er zuckte die Achseln. Der Tod Basil Hallwards lastete nur wenig auf ihm. Er dachte an Hetty Merton. Dieser Spiegel seiner Seele, auf den er blickte, war ein ungerechter Spiegel. Eitelkeit? Neugier? Heuchelei? War sonst nichts in seiner Entsagung gewesen? Es war noch etwas darin gewesen. Er glaubte es wenigstens. Aber wer konnte das sagen? ... Nein, es war sonst nichts gewesen. Aus Eitelkeit hatte er sie geschont. Aus Heuchelei hatte er die Maske der Güte getragen, aus Neugier hatte er Entsagung versucht. Jetzt erkannte er es.

Aber sollte dieser Mord ihn sein ganzes Leben verfolgen? Sollte er immer die Last seiner Vergangenheit tragen müssen? Sollte er lieber bekennen? Niemals. Es gab nur einen Beweis gegen ihn: Das Bildnis selbst, das war ein Beweis. Er wollte es zerstören. Warum hatte er es so lange aufbewahrt? Früher einmal hatte es ihm ein Vergnügen bereitet, zu beobachten, wie es sich änderte, wie es alterte. In der letzten Zeit hatte er diese Lust nicht mehr gespürt. Es hatte ihm den Schlaf der Nacht gestohlen. Wenn er fort war, übermannte ihn Schrecken, dass ein anderes Auge es erblicken könnte. Es hatte Melancholie in seine Leidenschaften gegossen. Die bloße Erinnerung daran hatte ihm manchen frohen Augenblick vergällt. Es hatte die Rolle des Gewissens für ihn gespielt. Ja, es war sein Gewissen gewesen. Er wollte es zerstören.

Er sah sich um und erblickte das Messer, das Basil Hallward erstochen hatte. Oft genug hatte er es gereinigt, so dass kein Fleck mehr darauf war. Es war blank und glänzte. So wie es den Maler getötet hatte, sollte es des Malers Werk töten und alles, was es bedeutete. Es sollte die Vergangenheit töten. Wenn die erst tot war, würde er frei sein. Es sollte dieses ungeheuerliche Seelenleben töten und ohne seine grässlichen Warnungen würde er Frieden haben. Er ergriff es und durchbohrte damit das Bildnis.

Ein Schrei ertönte und ein Fall. Der Schrei war in seinem Todesröcheln so schrecklich, dass die erschreckten Diener aufwachten und aus ihren Zimmern stürzten. Zwei Herren, die auf dem Platze unten vorübergingen, blieben stehen und sahen an dem großen Hause empor. Sie gingen weiter, bis sie einen Schutzmann trafen und kamen mit ihm zurück. Der Mann zog mehrmals die Klingel, aber es erfolgte keine Antwort. Bis auf ein Licht in einem der Giebelfenster war das Haus vollkommen dunkel. Nach einiger Zeit ging er weg, stellte sich unter einen Torweg in der Nähe und wartete.

"Wem gehört das Haus, Schutzmann?" fragte der ältere der beiden Herren.

"Mr. Dorian Gray", antwortete der Schutzmann.

Sie sahen einander an, gingen weiter und lachten. Einer von ihnen war Sir Henry Ashtons Onkel.

Drinnen in den Dienerräumen flüsterten die halbangezogenen Leute leise miteinander. Die alte Mrs. Leaf weinte und rang die Hände. Francis war bleich wie der Tod.

Nach einer Viertelstunde holte er den Kutscher und einen der Lakaien und sie schlichen hinauf. Sie klopften, aber es kam keine Antwort. Sie riefen. Alles war still. Nachdem sie schließlich vergeblich versucht hatten, die Tür zu sprengen, kletterten sie auf das Dach und ließen sich auf den Balkon herab. Die Fenster gaben leicht nach. Ihre Riegel waren alt.

Als sie eintraten, sahen sie an der Wand ein wunderbares Bildnis ihres Herrn hängen, so wie sie ihn zuletzt gesehen hatten, in all der Pracht seiner köstlichen Jugend und Schönheit. Auf dem Boden lag ein toter Mann im Frack mit einem Messer im Herzen. Er war welk, runzlig und abscheuerregend von Angesicht. Erst als sie die Ringe sahen, erkannten sie, wer es war.

E n d e


(Zwanzigstes Kapitel)

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Oscar Wilde (1854-1900) / Das Bildnis des Dorian Gray
1) "Wenn ich es wäre, der ewig jung bliebe und das Bild altern könnte! Meine Seele gäbe ich dafür als Preis!"
2) "Und doch, da stand das Bild vor ihm und hatte einen Zug von Grausamkeit um den Mund."
3) "Auf dem Boden lag ein toter Mann. Erst als sie die Ringe sahen, erkannten sie, wer es war."

Oscar Wilde:
- Utopia on a map
- The Soul of Man Under Socialism
- Die Seele des Menschen im Sozialismus
- Das Sternenkind

- Oscar Wilde - Werke / Works


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