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Marya Konopnicka:
DIE BANIASOWA
Der Mittag war still und heiß. Der Lyczakower Platz schien in der Luft zu schmelzen, die da von dem heftigen Ausstrahlen aufgeregt erzitterte.
In dem goldgrünen Netz, das die Sonne, durch den dichten Lindenschatten hereinfallend, aus dünnen Fäden wob, hing vor mir, fast regungslos und ohne Summen ein mattgewordener Schwarm winziger Mücken; über den nahen Rasenplatz flatterten, mit kurzem, niederem Fluge weiße Schmetterlinge dahin, ab and zu tief ins Gras versinkend. Der Kiessand der sich kreuzenden Fußpfade strahlte ein blendendes Licht aus und ein Gemisch starker Düfte strömte durch die Luft wie aus einem Rauchfaß. Das alles war sehr schnell nach einem sehr frischen tauigen Morgen gekommen und die Sonne stieg empor, wie eine weiße Kugel, mit ihrer ganzen Glut die keuchende, in Schweiß gebadete Erde treffend. Der Park war ganz leer. Jene, welche ihn am Morgen aufsuchen, waren schon fort, jene, die Schatten und Kühle suchen, waren noch nicht gekommen. Die Spannung der Hitze schien in der lautlosen Stille noch zuzunehmen und das ferne Zirpen der Heupferdchen klang als ob ein Knistern unsichtbarer Fünkchen den Brand der Mittagssonne noch steigerte.
Da hörte ich auf einmal hinter mir das eilige Auftappen eines Stockes. Ich sah mich um. Mit kleinen, eiligen Schritten kam ein altes, sehr gebeugtes Mütterchen auf meine Bank zu. Ihre weiße Haube leuchtete blendend im Sonnenlichte, ebenso ihr weißes, über die grobe Jacke gekreuztes Tuch und eine ebensolche breite Schürze. Den einen Arm beschwerte ein Korb, den anderen streckte sie taktmäßig aus, mit dem kleinen Stecken aufschlagend, der ihr als Stütze, wohl auch fürs Auge, diente.
Sie war noch ziemlich weit weg, als ich schon ihren kurzen, schweren Atem vernahm. Offenbar eilte sie, die Bank zu erreichen, um auszuruhen und den Korb darauf zu stellen. Ihre ausgemergelten Füße trippelten mit großer Anstrengung, immer schneller unsichere Schritte vor sich setzend. Ihr Kopf war so tief geneigt, daß ich ihr Gesicht gar nicht sehen konnte. Auch sie sah mich offenbar gar nicht. Erst als mein Schatten unmittelbar vor ihr auftauchte, blieb sie plötzlich stehen, streckte sich ein wenig und wendete, ihr Geeicht mir zu. Was war das für ein Geflecht von Falten? Das Leben, welches die Fäden dieses Netzes gesponnen hatte, mußte lang, sehr lang gewesen sein, es mußte wohl auch nie von dieser Arbeit ausgeruht haben. Es mußte sich wohl beim ersten Morgengrauen ans Werk gemacht und dieses halb blind, beim mitternächtigen Krähen der Haushühner, vollendet haben. Es mußte wohl, um seinen grauen Spinnrocken zu umwickeln, alle Fäserchen aus dieser Brust herausgerissen, mußte den Faden zerrissen, verwirrt und wieder gerissen und abermals verwirrt haben, ohne die Knoten auszugleichen immer nur zu, immer zu, immer zu. — —
So stand sie eine Weile da, wie verwundert, mit den kleinen grünen Augen zwinkernd, worauf sie wieder zu gehen begann, zur Bank herankam, den mit Pfeffernüssen voll angefüllten Korb an diese lehnend, einmal, zweimal tief aufatmete.
»Heiß ist’s«, sagte ich, nur um etwas zu sagen. — — —
»Ah! ja der Herr Jesus hat’s schon gegeben, hat’s schon gegeben« — antwortete sie indem sie mit der ausgetrockneten Hand den Schweiß vom wachsbleichen Gesicht trocknete.
»So eine Hitze ist gekommen, schrecklich ist’s!« —
»Vielleicht setzt Ihr Euch ein wenig?«
»Ach — was soll ich mich setzen, bitte zu Gnaden! So nur anlehnen werd’ ich mich. So einer Alten ist das Niedersetzen und Aufstehen schwer. Gleich kracht es im Kreuz.« — —
»Wie alt werdet Ihr denn wohl sein?«
»Ja, was soll ich denn meine Jahre zählen, bitte zu Gnaden. Der Herr Jesus zählt sie schon ohne mich. Werden wohl immer schon achtzig sein, vielleicht … achtzig oder noch mehr. So aus dem Kopf kann man das schwer auf einen Haufen bringen, aber in unserer Pfarre werden sie’s schon wissen … Papiere sind dafür schon da. — — — —
»Da seid Ihr also keine Hiesige, Frau Mutter?«
»Was soll ich denn, bitte zu Gnaden, eine Hiesige sein? Aus Wadowice bin ich, aus dem Städtchen. Freilich! Nur daß jetzt dort viele angesiedelt sind und eine andere Ordnung jetzt dort ist. Aber noch immer kennen mich die Leute dort. Die Baniasowa heißt’s, nur die Baniasowa, es weiß jeder, groß und klein von mir alles, was und wie.« —
»Und so seid Ihr also nach Lemberg her gewandert?«
»Ach, wie sollt’ ich denn nach Lemberg, bitte zu Gnaden! Gibt mir denn Lemberg was, oder hilft es mir? Das ist für die Jungen gut, in die Welt zu laufen und hinter den Wind zu blasen, aber nichts für meine Jahre! Nur daß ich hier Kinder habe, heißt das eine Tochter, die einen Nagelschmied geheiratet hat, von der Fabrik einen. Freilich! Wie mich also auf die Feiertage diese heilige Erde hat zu sich rufen wollen, da bin ich um zu sterben zu ihnen gezogen. Immer ist’s leichter, bei den Seinen sterben.«
»Kommt, Gott behüte, ein schweres Ende, so breiten sie doch das Stroh in der Kammer auf und helfen dem Seelchen aus dem sündigen Körper heraus.« —
»Und geht’s Euch gut bei den Kindern?«
»Ja, wie denn nicht? gut geht’s mir. Für die Alten ist’s überall gut, dem Übel kommt er doch nimmer aus. Nur ist’s mir nicht so ausgegangen, wie ich mir’s ausgedacht habe.« — — —
»Ja, womit ist es denn nicht ausgegangen?«
»Nu, heißt das, mit dem Sterben, bitte zu Gnaden. Da komm’ ich zum Sterben zu den Kindern her und nun leb’ ich und leb’ ich. Wie ein Federchen so leicht schau’ ich aus, wie zum Wegblasen und da ist so ein hartes Leben in mir — daß Gott behüte! Am Anfang, da hat’s Gottlob gar keinen Anstand gegeben. Sie haben mich richtig angemeldet, alles war schön und gut. Oftmals, da geht der Schwiegersohn zur Arbeit in die Fabrik, die Tochter wirtschaftet im Zimmer herum, ich aber sitze beim Ofen; Federn hab’ ich mir zusammengespart, ein kleines Kissen voll, die zupf’ ich, bete das Vaterunser und warte auf jene letzte Stunde. Ich warte einen Monat, ich warte zwei Monate — nichts. Richtig durch und durch geht mir etwas bei diesem Warten.«
»Da kommt also einmal am Sonntag der Hausmeister und sagt: Hör’ er einmal Peter — nämlich so heißt der Schwiegersohn durch die heilige Taufe — er muß der Mutter eine Aufenthaltskarte verschaffen, wenn sie schon bei Euch sitzt. So hat sich der Schwiegersohn gewundert und sagt: Und wie viel kommt denn dafür? Da sagt der Hausmeister: zwei Gulden sagt er fürs Vierteljahr. Da hat also der Schwiegersohn dem Hausmeister mit Gebäck aufgewartet; — gut, er ist fortgegangen! Wie er fortgegangen ist, so sag’ ich zum Peter. Wozu, sag’ ich, Söhnchen, brauch’ ich diese Wohnkarte, wenn ich doch zum Sterben dahergezogen bin, nicht zum Leben? Es ist ja nur ein Hauch an mir, denn ich bin inwendig schrecklich schwach. Da hat sich auch die Tochter dreingemischt: Wahr ist’s ja auch. Was wirst Du Dich’s da kosten lassen, wenn die Mutter von heut’ auf morgen ist. Da haben wir uns also darauf zusammengeredet — da war’s also gut. Und eine solche Schwäche ist über mich gekommen, bitt’ Euer Gnaden, solche Todesschweiße, daß jeder Knochen in mir gezittert hat, wie das Blatt im Wind und vor den Augen war’s, als hätte wer Kienruß ausgeschüttet, so eine Schwärze war das. Ein anderesmal aber da hat es angefangen mich so im Kreuz zu brechen, daß das dreifache Morgenrot am Himmel hätte sein können, so hätte der Mensch nicht den Kopf dahin heben können. Da hab ich mir’s also in den Kopf gesetzt, daß das nicht mehr lang mit mir dauern wird. Aber was weiß denn der sündige Mensch? Es geht ein Quartal vorbei, ein zweites — nichts — immer weiter leb’ ich. Kaum daß ich was esse, schlafe mich unterm Ofen aus — und lebe. Ja, so ist’s! Gar wundern muß ich mich. Ob wohl dort der Herr Jesus, denk’ ich, mit seinem allerheiligsten Füßchen meine Nummer übergangen hat, oder was? …
So kommt also einmal der Schwiegersohn von der Arbeit nachhaus — und hinter ihm der Hausmeister in die Thüre. Ums Himmelswüten, sagt er, Peter, was ist denn das mit seiner Mutter. Zum Sterben, sagt er, hat sie sich hergezogen und jetzt ist sie das dritte Vierteljahr lebend hier und hat noch keine Wohnkarte gezahlt. Bis aufs Doppelte ist schon die Strafe angewachsen. Die anderen Miether denken schon selber für sich, aber wegen der Souterrainwohnungen, da hat mir der Herr Vorstand befohlen, danach zu sehen. Wenn er das erfährt, geht’s mir und Euch schlecht. Macht doch irgend eine Ordnung in der Sache, entweder so oder so, denn es werden schon mehr als zehn Gulden sein. Da hat sich der Peter so erschreckt, hat die Mütze auf den Kopf geworfen und wie er mitten in der Stube gestanden ist, so steht er da und kraut sich den Kopf — die Tochter aber hat sich gleich im Gesicht rot angesteckt und sagt; Die Mutter, sagt sie, hat sich, Gott verzeih’s, weiß selber nicht wie, verrechnet! Zum Sterben hat sie sich hergemacht — aber da ist vom Sterben — keine Rede. Mancher Mensch hat auch im Alter keinen Verstand. Wie soll man da zehn Gulden hinwerfen und noch kein Ende! Da fährt sie der Peter an! Still sein, Franka, brumme nicht, weißt noch nicht für Dich selber, wohin es mit Dir einmal kommt — denn er hat ein mitleidiges Herz, bitt’ Euer Gnaden, keine Fliege erschlägt er. Freilich! Nu also, man ratschlagt hin und her, der Schwiegersohn, gibt dem Hausmeister dreiundzwanzig Groschen, damit er das halt irgendwie aufhaltet nur ein Zeitel, nur ein Zeitel, weil ja sozusagen, so oft die Thür knarrt, der Tod kommen kann. Wie er ihm also die dreiundzwanzig Groschen gibt, so hat es mir nur so das Herz zusammengezogen. Der Tochter ist förmlich die Galle geplatzt, sie hat den Topf unter den Tisch geworfen, nur daß er nicht auseinander ist; aber gesagt hat sie nichts mehr. Was aber das anbelangt, so ist’s nicht zu wundern! So ein Geld mußt Du jetzt herwerfen, so eine Auslage ist jetzt — — — und wenn der Mensch wenigstens dafür essen thät’ oder trinken, aber so, für gar nichts …«
Sie atmete tief auf und wischte sich die Schweißtropfen von der Stirne.
»Einen Löffel Nahrung haben sie mir nicht mißgönnt, das nicht, der Herr müßte mich strafen, wenn ich etwas sagen thäte. Freilich hat der Mensch ihnen mit dem bischen Essen keinen Schaden gemacht. Einige Löffel voll hat er ausgeschlürft, die in der Schussel zurückblieben, das ist alles. Wie denn? Soll so ein dürrer Bohnenschaft den Jungen alles wegessen? Jedes Alter hat seine Ordnung. Für den Alten ist’s gleich, ob er gar vor Hunger stirbt, weil er sich auch so zu keiner Arbeit nimmt, aber der Junge muß sich, zu jeder Zeit zu seiner Pflicht halten. Sie haben nie an mir geknausert, weder der Schwiegersohn, noch die Tochter — aber so eine Auslage — — — —«
Sie hörte zu reden auf und wackelte mit dem Kopf.
»Nun, und was weiter?«
»Nun, was denn? Es ist der zweite Winter gekommen, wieder nichts. Dem Hausmeister hat man hie und da was gegeben — gut war’s. Mir ist aber das eine immer im Kopf herum gegangen, daß es mir nicht ausgegangen ist, wie ich mir’s ausgedacht hatte. ›Wenn die Leute Pläne machen, haben die Dummen was zum lachen‹ — — — Als ich die Federn noch nicht geschlissen hatte, da hab ich mir gedacht: meinetwegen, bleibt ihnen auch wenigstens das armselige Polsterchen, aber wie ich die Federn geschlissen hatte —«
»Da hat es, gegen den Winter zu, mich in den Knochen wieder zu reißen angefangen. Auch mit dem Husten hat’s mich gehabt, so ein Keuchen. Franka! — sag’ ich zu meiner Tochter — jetzt wird’s schon das Ende sein, denn ich kann nach dem Husten nicht mehr athmen.« Die Tochter aber: ›Was wird denn der Mutter sein!‹ sagt sie — ›Husten hin, Husten her‹ — wie wenn man den Stecken dem Hund nachwirft, es wurmte sie, sehen Euer Gnaden, das Zustecken mit dem Hausmeister — — — So hab’ ich also, ohne dem Herrn Jesus widersprechen zu wollen, zwei Tage zu Ehren der heiligsten Wandlung zu fasten angefangen. Denn ich schämte mich schon sehr vor den Leuten. Im ganzen Kellergeschoß wußten sie, daß ich um zu sterben zu den Kindern gesiedelt war, und jetzt, wer mich anschaut, der wundert sich. Ei freilich! Anfänglich hat mir der Schwiegersohn das Fasten nicht erlauben wollen. Was soll die Mutter den lieben Gott versuchen, sagt er. Was kommen soll, wird ohnehin kommen, sagt er. Jetzt im Winters Anfang, da sterben meistens die Alten, das kann die Mutter auch ohne das Fasten treffen.
»Aber ich hab’ mir’s nicht ausreden lassen.«
»Und hat’s geholfen?«
»Hat schon geholfen. In der dritten Woche bin ich so schwach geworden, daß ich das Zimmer nicht auskehren konnte, ja kein Wässerchen konnt’ ich hinunterschlucken. Das ist der Tod — denk’ ich mir und gleich ist mir’s leichter um’s Herz geworden. Da hab’ ich mich schon rein gewaschen, hab’ ein frisches Hemd angelegt, hab’ mich auf die Schwelle gesetzt, bete meinen Rosenkranz und warte. Da sind so weiße kleine Wolken über den Himmel gegangen und die Sonne hat hervorgeschienen und die Spatzen haben gezwitschert, weil halt schon alles das Frühjahr gespürt hat, mein ich. Darauf haben die Glocken über der Stadt zu läuten angefangen — da sag’ ich vor mich bin: die ewige Ruhe gieb mir Herr und das ewige Licht leuchte mir von Ewigkeit zu Ewigkeit Amen. … Und gleich sind mir meine Augen zugefallen und eine solche Süßigkeit ist mir über’s Herz gekommen, wie wenn der Mensch in einen leichten Schlaf fällt. Da kommt aber jemand und tappt mit den Stiefeln, ich schau — der Hausmeister. Er hat ein Papier in der Hand, zur Polizei heißt’s — wegen der Wohnungskarte. … Ich hab’ geglaubt, daß die Erde sich vor meinen Augen auftut. Der Peter war nicht zuhaus, die Tochter hat die Wäsche gehabt, da kann man gar nicht recht mit ihr sprechen. So bin ich halt ins Zimmer gegangen, hab’ mich hingestellt und stehe und weiß mir niemanden zum rathen.
Wär’ der Peter zuhaus gewesen, so hätt’ er den Hausmeister für den Augenblick mit irgendwas beruhigt, und bis zum Abend wär’ so alles vorbeigewesen. Na, der Peter war halt nicht da. So steh’ ich da und spekulier’ und die Tochter trägt einen Topf mit Seifenlauge zum Waschtrog. Da hat sie an mich angestoßen und sagt: Was steht denn die Mutter da im Weg, wie die schmerzhafte Muttergottes, wenn’s da keine Zeit zu verlieren gibt? Wenn man in’s Kreisamt vorladet, so heißt’s gehen. Früher muß man sich alles Ausdenken, was und wie, nicht jetzt zur Unzeit hin und her überlegen. Freilich, sag’ ich, hast Recht. Ich nehm’ also mein Tuch um und geh’. Unser allerheiligster Herr Jesus, der hat sich gewiß diesen meinen Gang eingeschrieben … Hab’ mich nur so an den Mauern erfangen und vor den Augen sind mir die Ameisen gelaufen und so heiß und kalt ist’s durch mich gelaufen, als ob mich wer mit Wasser begießen und mit Feuer brennen thät’. Nun, ich bin hingekommen. Wie ich also hinkomm’, so schau ich, da sitzen Herren bei einem Tisch. Ein recht herrischer, der andere so ein schwarzer und noch ein dritter. Da hab’ ich gleich so einen Diener gemacht und sage so und so. Sie haben aber immer mit den Händen gewinkt; hier nicht, hier nicht sagen sie. … So bin ich also weiter gegangen. Aber auch dort hat mir einer, so ein Junger gesagt, nicht hier. So hat man mich von einem Tisch zum andern geschickt und mir sind schon die letzten Kräfte ausgegangen. Bis sich endlich einer mit mir erbarmt hat, so ein Magerer und mit dem Finger ins zweite Zimmer gezeigt hat, wo der Höchste selbst gesessen ist.
Ich bin ich bei der Schwelle stehen geblieben und die Beine zittern nur so unter mir, da hat sich der Obere umgekehrt. Wie er sich umgekehrt hat, so fragt er gleich was, ›in welcher Sache?‹ So erzähl’ ich ihm also alles, vom Anfang an. Er hat mich angehört und fragt wieder; ›in welcher Sache?‹ So hab’ ich wieder von Anfang angefangen, wie ich um zu sterben zu den Kindern hergezogen bin, wie ich die Aufenthaltskarte immer nicht gekauft habe, weil ja so eine Alte von heut auf morgen ist, wie der allerheiligste Herr Jesus auf mich vergessen hat und ich immerfort lebe und lebe und wie man mich hergerufen hat. Da läutet also der Oberste. Wie er geläutet hat, kommt ein zweiter mit solchen Knöpfen — der fängt wieder an, mich von Anfang an zu fragen. Wie sie endlich ausgefragt haben, so sagt der Oberste: ›Nun, meine Alte, Du hast fünf Bankozettel und einen halben zu zahlen.‹ Wie ich das höre, wie ich die Hände zusammenschlage. Fünf Guldenzettel! Jesus Christ! Das ist ja akkurat soviel, wie ich dem Peter für meine Leiche gegeben hab, wie ich zu ihm gezogen bin — da ist mir also gleich schlecht geworden und ich hab’ mich halbtodt an die Mauer gelehnt. Mir ist’s, als steh ich und falle doch durch die Erde hinunter, ich schau und schau doch nicht und im Kopf ein Brausen als ob der Wind d’rin herumfahren thäte, da haben sich die Herren getummelt, der mit den Knöpfen ist um Wasser gelaufen, der zweite will mich auf den Sessel setzen …
Wie ich das sehe, daß er so ein mitleidiger lieber Herr ist, plumps werf’ ich mich ihm zu Füßen. Herr! sag’ ich, gnädiger Herr, gnädiger Kommissär! Woher soll ich denn so viel Geld nehmen? Woher soll ich arme Waise denn das bezahlen? Gnädiger Herr, wenn mich der gnädige Herr nur anschauen wollten! Das ist ja ein dürres Gestell, morsche Knochen sind’s armselige … kaum daß die letzten Athemzüge irgendwo noch hin und hergehen können. Und jetzt nehme ich ja niemandem auf der Welt irgend einen Platz weg. Liege auf einer Handvoll Stroh hinterm Ofen, ein Tröpfel Wasser trink ich und wie der Sperling, der kleine zupf’ ich an dem bischen Nahrung … auch Luft nehm’ ich niemandem, denn ich kann ja kaum einen Mundvoll erwischen, auch von der Sonne nichts, weil ich ja im Kellergeschoß wohne; dort sieht man sie gar nicht einmal … Ich weiß, gnädiger Kommissär, daß es für mich schon längst Zeit ist zu sterben! Was ist aber zu thun, wenn ich so ein hartes Leben in mir habe! Euer Gnaden lassen mir das schon nach! Schenken mir’s! Ich passe ja selbst schon auf den Tod, jeden Tag, jede Stunde … Hab’ ich doch schon diesen Aufenthalt dem Herrn Jesus bezahlt zu seinem heiligsten Lob und Ehre. Dreizehn Kinder hab’ ich gehabt, habe sieben begraben wie die weißen Blümchen, die kleinen. Zwei Söhne hat man mir zu den Rekruten genommen, so junge, kleine Soldaten, wie Milch und Blut. … Ein Bürschlein ist mir im Fluß ertrunken, eine Tochter ist mir in die Stadt gelaufen, einer, der Jüngsten ist mir auf dem Dachboden, wo er schlief, verbrannt wie der Sperling umterm Strohdach … da hat doch der Allerheiligste Herrgott von mir den Aufenthalt schon einkassiert mit den Geburten, dem Kummer, der schweren Arbeit, dem Hunger und den blutigen Thränen an jeden kleinen gelben Sandhügeln …«
Sie verstummte und an ihren vertrockneten Wangen liefen große, vom Sonnenlicht vergoldete Thränen, eine die andere verdrängend, herab. Ihre eingesunkenen Lippen bebten wie von nicht ausgesprochnen Worten und der alte Kopf zitterte kraftlos hin und her. … Wahrlich, Gott hatte aus diesem menschlichen Geschöpf den Betrag für den »Aufenthalt« bis zum letzten Heller einkassiert.
»Nun, und?« fragte ich leise, als sie sich ein wenig beruhigt hatte.
»Nun, was denn! ich hab’s bezahlen müssen. Fünf Zettelchen Euer Gnaden. Freilich! Da hat mir der Peter noch einen halben von sich gegeben. Was für’s Leichenbegängnis da war — ist fort. … Mag ihnen das der Allerheiligste Herrgott nicht nachtragen. Sie sind aber selber, die Ärmsten, nicht schuldig — nein, daß so ein Gesetz ist — — — so ein Befehl!
»Und jetzt habt Ihr einen Handel?«
»Wie denn, bitt’ Euer Gnaden, werd’ ich Handel treiben? Habe jenes Polsterchen verkauft — einen Bankozettel hat man dafür gegeben und einen Gulden weniger fünf Groschen. Da sind gleich zwei Gulden für die neue Aufenthaltskarte d’rauf gegangen, für ein Quartal heißt das und vom Rest trachtet der Mensch halt einen Groschen hereinzubringen, um nicht wieder in diese Strafe zu verfallen. Wie denn? Wenn schon so ein hartes Leben in mir ist, so wird man vielleicht auch dieses ganze Jahr noch zahlen müssen …«
Sie heftete den Blick starr vor sich bis, indem sie die grauen, entfärbten Augenbrauen hoch hinaufzog und wackelte mit dem Kopf nach rechts und nach links, wie in tiefes Nachsingen über die Weltordnung versunken.
(Übersetzt von Nina Hoffmann-Matscheko).
Marya Konopnicka (1842-1919):
- Die Baniasowa
- Das Begräbnis
- Marya Konopnicka Biography
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