|
|
Georg Heym:
DAS SCHIFF
Es war ein kleiner Kahn, ein Korallenschiffer, der über Kap
York in der Harafuhra-See kreuzte. Manchmal bekamen sie im blauen
Norden die Berge von Neu-Guinea ins Gesicht, manchmal im Süden
die öden australischen Küsten wie einen schmutzigen Silbergürtel,
der über den zitternden Horizont gelegt war.
Es waren sieben Mann an Bord. Der Kapitän, ein Engländer,
zwei andere Engländer, ein Ire, zwei Portugiesen und der chinesische
Koch. Und weil sie so wenig waren, hatten sie gute Freundschaft
gehalten.
Nun sollte das Schiff herunter nach Brisbane gehen. Dort sollte
gelöscht werden, und dann gingen die Leute auseinander, die
einen dahin, die andern dorthin.
Auf ihrem Kurs kamen sie durch einen kleinen Archipel, rechts und
links ein paar Inseln, Reste von der großen Brücke, die
einmal vor einer Ewigkeit die beiden Kontinente von Australien und
Neu-Guinea verbunden hatte. Jetzt rauschte darüber der Ozean,
und das Lot kam ewig nicht auf den Grund.
Sie ließen den Kahn in eine kleine schattige Bucht der Insel
einlaufen und gingen vor Anker. Drei Mann gingen an Land, um nach
den Bewohnern der Insel zu suchen.
Sie wateten durch den Uferwald, dann krochen sie mühsam über
einen Berg, kamen durch eine Schlucht, wieder über einen bewaldeten
Berg. Und nach ein paar Stunden kamen sie wieder an die See.
Nirgends war etwas Lebendes auf der ganzen Insel. Sie hörten
keinen Vogel rufen, kein Tier kam ihnen in den Weg. Überall
war eine schreckliche Stille. Selbst das Meer vor ihnen war stumm
und grau. »Aber jemand muß doch hier sein, zum Teufel«,
sagte der Ire.
Sie riefen, schrien, schossen ihre Revolver ab. Es rührte sich
nichts, niemand kam. Sie wanderten den Strand entlang durch Wasser,
über Felsen und Ufergebüsch, niemand begegnete ihnen.
Die hohen Bäume sahen auf sie herab wie große gespenstische
Wesen ohne Rauschen, wie riesige Tote in einer furchtbaren Starre.
Eine Art Beklemmung, dunkel und geheimnisvoll, fiel über sie
her. Sie wollten sich gegenseitig ihre Angst ausreden. Aber wenn
sie einander in die weißen Gesichter sahen, so blieben sie
stumm.
Sie kamen endlich auf eine Landzunge, die wie ein letzter Vorsprung,
eine letzte Zuflucht in die See hinauslief. An der äußersten
Spitze, wo sich ihr Weg wieder umbog, sahen sie etwas, was sie für
einen Augenblick starr werden ließ.
Da lagen übereinander drei Leichen, zwei Männer, ein Weib,
noch in ihren primitiven Waschkleidern. Aber auf ihrer Brust, ihren
Armen, ihrem Gesicht, überall waren rote und blaue Flecken
wie unzählige Insektenstiche. Und ein paar große Beulen
waren an manchen Stellen wie große Hügel aus ihrer geborstenen
Haut getrieben.
So schnell sie konnten, verließen sie die Leichen. Es war
nicht der Tod, der sie verjagte. Aber eine rätselhafte Drohung
schien auf den Gesichtern dieser Leichname zu stehen, etwas Böses
schien unsichtbar in der stillen Luft zu lauern, etwas, wofür
sie keinen Namen hatten, und das doch da war, ein unerbittlicher
eisiger Schrecken.
Plötzlich begannen sie zu laufen, sie rissen sich an den Dornen.
Immer weiter. Sie traten einander fast auf die Hacken.
Der letzte, ein Engländer, blieb einmal an einem Busch hängen;
als er sich losreißen wollte, sah er sich unwillkürlich
um. Und da glaubte er hinter einem großen Baumstamm etwas
zu sehen, eine kleine schwarze Gestalt wie eine Frau in einem Trauerkleid.
Er rief seine Gefährten und zeigte nach dem Baum. Aber es war
nichts mehr da. Sie lachten ihn aus, aber ihr Lachen hatte einen
heiseren Klang.
Endlich kamen sie wieder an das Schiff. Das Boot ging zu Wasser
und brachte sie an Bord.
Wie auf eine geheime Verabredung erzählten sie nichts von dem,
was sie gesehen hatten. Irgend etwas schloß ihnen den Mund.
Als der Franzose am Abend über die Reling lehnte, sah er überall
unten aus dem Schiffsraum, aus allen Luken und Ritzen scharenweise
die Armeen der Schiffsratten ausziehen. Ihre dicken, braunen Leiber
schwammen im Wasser der Bucht, überall glitzerte das Wasser
von ihnen.
Ohne Zweifel, die Ratten wanderten aus.
Er ging zu dem Iren und erzählte ihm, was er gesehen hatte.
Aber der saß auf einem Tau, starrte vor sich hin und wollte
nichts hören. Und auch der Engländer sah ihn wütend
an, als er zu ihm vor die Kajüte kam. Da ließ er ihn
stehen.
Es wurde Nacht und die Mannschaften gingen herunter in die Hängematten.
Alle fünf Mann lagen zusammen. Nur der Kapitän schlief
allein in einer Koje hinten unter dem Deck. Und die Hängematte
des Chinesen hing in der Schiffsküche.
Als der Franzose vom Deck herunter kam, sah er, daß der Ire
und der Engländer miteinander ins Prügeln geraten waren.
Sie wälzten sich zwischen den Schiffskisten herum, ihr Gesicht
war blau vor Wut. Und die andern standen herum und sahen zu. Er
fragte den einen von den Portugiesen nach dem Grund dieses Zweikampfes
und erhielt die Antwort, daß die beiden um einen Wollfaden
zum Strumpfstopfen, den der Engländer dem Iren fortgenommen
hätte, ins Hauen gekommen wären.
Endlich ließen sich die beiden los, jeder kroch in einen Winkel
der Kajüte und blieb da sitzen, stumm zu den Späßen
der anderen.
Endlich lagen sie alle in den Hängematten, nur der Ire rollte
seine Matte zusammen und ging mit ihr auf Deck.
Oben durch den Kajüteneingang war dann wie ein schwarzer Schatten
zwischen Bugspriet und einem Tau seine Hängematte zu sehen,
die zu den leisen Schwingungen des Schiffes hin und her schaukelte.
Und die bleierne Atmosphäre einer tropischen Nacht, voll von
schweren Nebeln und stickigen Dünsten, senkte sich auf das
Schiff und hüllte es ein, düster und trostlos.
Alle schliefen schon in einer schrecklichen Stille, und das Geräusch
ihres Atems klang dumpf von fern, wie unter dem schweren Deckel
eines riesigen schwarzen Sarges hervor.
Der Franzose wehrte sich gegen den Schlaf, aber allmählich
fühlte er sich erschlaffen in einem vergeblichen Kampf, und
vor seinem zugefallenen Auge zogen die ersten Traumbilder, die schwankenden
Vorboten des Schlafes. Ein kleines Pferd, jetzt waren es ein paar
Männer mit riesengroßen altmodischen Hüten, jetzt
ein dicker Holländer mit einem langen weißen Knebelbart,
jetzt ein paar kleine Kinder, und dahinter kam etwas, das aussah
wie ein großer Leichenwagen durch hohle Gassen in einem trüben
Halbdunkel.
Er schlief ein. Und im letzten Augenblick hatte er das Gefühl,
als ob jemand hinten in der Ecke stände, der ihn unverwandt
anstarrte. Er wollte noch einmal seine Augen aufreißen, aber
eine bleierne Hand schloß sie zu.
Und die lange Dünung schaukelte unter dem schwarzen Schiffe,
die Mauer des Urwaldes warf ihren Schatten weit hinaus in die kaum
erhellte Nacht, und das Schiff versank tief in die mitternächtliche
Dunkelheit.
Der Mond steckte seinen gelben Schädel zwischen zwei hohen
Palmen hervor. Eine kurze Zeit wurde es hell, dann verschwand er
in die dicken, treibenden Nebel. Nur manchmal erschien er noch zwischen
den treibenden Wolkenfetzen, trüb und klein, wie das schreckliche
Auge der Blinden.
Plötzlich zerriß ein langer Schrei die Nacht, scharf
wie mit einem Beil.
Er kam hinten aus der Kajüte des Kapitäns, so laut, als
wäre er unmittelbar neben den Schlafenden gerufen. Sie fuhren
in ihren Hängematten auf, und durch das Halbdunkel sahen sie
einander in die weißen Gesichter.
Ein paar Sekunden blieb es still; auf einmal hallte es wieder, ganz
laut, dreimal. Und das Geschrei weckte ein schreckliches Echo in
der Ferne der Nacht, irgendwo in den Felsen, nun noch einmal, ganz
fern, wie ein ersterbendes Lachen.
Die Leute tasteten nach Licht, nirgends war welches zu finden. Da
krochen sie wieder in ihre Hängematten und saßen ganz
aufrecht darin wie gelähmt, ohne zu reden.
Und nach ein paar Minuten hörten sie einen schlurfenden Schritt
über Deck kommen. Jetzt war es über ihren Häuptern,
jetzt kam ein Schatten vor der Kajütentür vorbei. Jetzt
ging es nach vorn. Und während sie mit weit aufgerissenen Augen
einander anstarrten, kam von vorn aus der Hängematte des Iren
noch einmal der laute, langgezogene Schrei des Todes. Dann ein Röcheln,
kurz, kurz, das zitternde Echo und Grabesstille.
Und mit einem Male drängte sich der Mond wie das fette Gesicht
eines Malaien in ihre Tür, über die Treppe, groß
und weiß, und spiegelte sich in ihrer schrecklichen Blässe.
Ihre Lippen waren weit auseinander gerissen, und ihre Kiefer vibrierten
vor Schrecken.
Der eine der Engländer hatte einmal den Versuch gemacht, etwas
zu sagen, aber die Zunge bog sich in seinem Munde nach rückwärts,
sie zog sich zusammen; plötzlich fiel sie lang heraus wie ein
roter Lappen über seine Unterlippe. Sie war gelähmt, und
er konnte sie nicht mehr zurückziehen.
Ihre Stirnen waren kreideweiß. Und darauf sammelte sich in
großen Tropfen der kalte Schweiß des maßlosenGrauens.
Und so ging die Nacht dahin in einem phantastischen Halbdunkel,
das der große versinkende Mond unten auf dem Boden der Kajüte
ausstreute. Aber auf den Händen der Matrosen erschienen manchmal
seltsame Figuren, uralten Hieroglyphen vergleichbar, Dreiecke, Pentagrammata,
Zeichnungen von Gerippen oder Totenköpfen, aus deren Ohren
große Fledermausflügel herauswuchsen.
Langsam versank der Mond. Und in dem Augenblick, wo sein riesiges
Haupt oben hinter der Treppe verschwand, hörten sie aus der
Schiffsküche vorn ein trockenes Ächzen und dann ganz deutlich
ein leises Gemecker, wie es alte Leute an sich haben, wenn sie lachen.
Und das erste Morgengrauen flog mit schrecklichem Fittich über
den Himmel.
Sie sahen sich einander in die aschgrauen Gesichter, kletterten
aus ihren Hängematten und mit zitternden Gliedern krochen sie
alle herauf auf das Verdeck.
Der Gelähmte mit seiner heraushängenden Zunge kam zuletzt
herauf. Er wollte etwas sagen, aber er bekam nur ein gräßliches
Stammeln heraus. Er zeigte auf seine Zunge und machte die Bewegung
des Zurückschiebens. Und der eine der Portugiesen faßte
seine Zunge an mit vor Angst blauen Fingern und zwängte ihm
die Zunge in den Schlund zurück.
Sie blieben dicht aneinander gedrängt vor der Schiffsluke stehen
und spähten ängstlich über das langsam heller werdende
Deck. Aber da war niemand. Nur vorn schaukelte noch der Ire in seiner
Hängematte im frischen Morgenwind, hin und her, hin und her,
wie eine riesige schwarze Wurst.
Und gleichsam, wie magnetisch angezogen, gingen sie langsam in allen
Gelenken schlotternd auf den Schläfer zu. Keiner rief ihn an.
Jeder wußte, daß er keine Antwort bekommen würde.
Jeder wollte das Gräßliche so lange wie möglich
hinausschieben. Und nun waren sie da, und mit langen Hälsen
starrten sie auf das schwarze Bündel da in der Matte. Seine
wollene Decke war bis an seine Stirn hochgezogen. Und seine Haare
flatterten bis über seine Schläfen. Aber sie waren nicht
mehr schwarz, sie waren in dieser Nacht schlohweiß geworden.
Einer zog die Decke von dem Haupte herunter, und da sahen sie das
fahle Gesicht einer Leiche, die mit aufgerissenen und verglasten
Augen in den Himmel starrte. Und die Stirn und die Schläfen
waren übersät mit roten Flecken, und an der Nasenwurzel
drängte sich wie ein Horn eine große blaue Beule heraus.
»Das ist die Pest.« Wer von ihnen hatte das gesprochen?
Sie sahen sich alle feindselig an und traten schnell aus dem giftigen
Bereich des Todes zurück.
Mit einem Male kam ihnen allen zugleich die Erkenntnis, daß
sie verloren waren. Sie waren in mitleidlosen Händen eines
furchtbaren unsichtbaren Feindes, der sie vielleicht nur für
eine kurze Zeit verlassen hatte. In diesem Augenblick konnte er
aus dem Segelwerk heruntersteigen oder hinter einem Mastbaum hervorkriechen;
er konnte in der nämlichen Sekunde schon aus der Kajüte
kommen oder sein schreckliches Gesicht über den Bord heben,
um sie wie wahnsinnig über das Schiffsdeck zu jagen.
Und in jedem von ihnen keimte gegen seine Schicksalsgenossen eine
dunkle Wut, über deren Grund er sich keine Rechenschaft geben
konnte.
Sie gingen auseinander. Der eine stellte sich neben das Schiffsboot,
und sein bleiches Gesicht spiegelte sich unten im Wasser. Die andern
setzten sich irgendwo auf die Bordbank, keiner sprach mit dem andern,
aber sie blieben sich doch alle so nahe, daß sie in dem Augenblick,
wo die Gefahr greifbar wurde, wieder zusammenlaufen konnten. Aber
es geschah nichts. Und doch wußten sie alle, es war da und
belauerte sie.
Irgendwo saß es. Vielleicht mitten unter ihnen auf dem Verdeck,
wie ein unsichtbarer weißer Drache, der mit seinen zitternden
Fingern nach ihren Herzen tastete und das Gift der Krankheit mit
seinem warmen Atem über das Deck ausbreitete.
Waren sie nicht schon krank, fühlten sie nicht irgendwie eine
dumpfe Betäubung und den ersten Ansturm eines tödlichen
Fiebers? Dem Mann an Bord schien es so, als wenn unter ihm das Schiff
anfing zu schaukeln und zu schwanken, bald schnell, bald langsam.
Er sah sich nach den andern um und sah in lauter grüne Gesichter,
wie sie in Schatten getaucht waren, und schon ein schreckliches
Blaßgrau in einzelnen Flecken auf den eingesunkenen Backen
trugen.
»Vielleicht sind die überhaupt schon tot und du bist
der einzige, der noch lebt«, dachte er sich. Und bei diesem
Gedanken lief ihm die Furcht eiskalt über den Leib. Es war,
als hätte plötzlich aus der Luft heraus eine eisige Hand
nach ihm gegriffen.
Langsam wurde es Tag.
Über den grauen Ebenen des Meeres, über den Inseln, überall
lag ein grauer Nebel, feucht, warm und erstickend. Ein kleiner roter
Punkt stand am Rande des Ozeans, wie ein entzündetes Auge.
Die Sonne ging auf.
Und die Qual des Wartens auf das Ungewisse trieb die Leute von ihren
Plätzen.
Was sollte nun werden? Man mußte doch einmal heruntergehen,
man mußte etwas essen.
Aber der Gedanke: dabei vielleicht über Leichen steigen zu
müssen ...
Da, auf der Treppe hörten sie ein leises Bellen. Und nun kam
zuerst die Schnauze des Schiffshundes zum Vorschein. Nun der Leib,
nun der Kopf, aber was hing an seinem Maul? Und ein rauher Schrei
des Entsetzens kam aus vier Kehlen zugleich.
An seinem Maul hing der Leichnam des alten Kapitäns; seine
Haare zuerst, sein Gesicht, sein ganzer fetter Leib in einem schmutzigen
Nachthemde kam heraus, von dem Hunde langsam auf das Deck gezerrt.
Und nun lag er oben vor der Kajütentreppe, aber auf seinem
Gesicht brannten dieselben schrecklichen roten Flecken.
Und der Hund ließ ihn los und verkroch sich.
Plötzlich hörten sie ihn fern in einem Winkel laut murren,
in ein paar Sätzen kam er von hinten wieder nach vorn, aber
als er an dem Großmast vorbeikam, blieb er plötzlich
stehen, warf sich herum, streckte seine Beine wie abwehrend in die
Luft. Aber mitleidslos schien ihn ein unsichtbarer Verfolger in
seinen Krallen zu halten.
Die Augen des Hundes quollen heraus als wenn sie auf Stielen säßen,
seine Zunge kam aus dem Maul. Er röchelte ein paarmal, als
wenn ihm der Schlund zugedrückt würde. Ein letzter Krampf
schüttelte ihn, er streckte seine Beine von sich, er war tot.
Und gleich darauf hörte der Franzose den schlürfenden
Schritt neben sich ganz deutlich, während das Grauen wie ein
eherner Hammer auf seinen Schädel schlug.
Er wollte seine Augen schließen, aber es gelang ihm nicht.
Er war nicht mehr Herr seines Willens.
Die Schritte gingen geradenwegs auf das Deck, auf den Portugiesen
zu, der sich rücklings gegen die Schiffswand gelehnt hatte
und seine Hände wie wahnsinnig in die Bordwand krallte.
Der Mann sah offenbar etwas. Er wollte fortlaufen, er schien seine
Beine mit Gewalt vom Boden reißen zu wollen, aber er hatte
keine Kraft. Das unsichtbare Wesen schien ihn anzufassen. Da riß
er gleichsam wie im Übermaß seiner Anstrengung seine
Zähne auseinander, und er stammelte mit einer blechernen Stimme,
die wie aus einer weiten Ferne heraufzukommen schien, die Worte:
»Mutter, Mutter.«
Seine Augen brachen, sein Gesicht wurde grau wie Asche. Der Krampf
seiner Glieder löste sich. Und er fiel vornüber, und er
schlug schwer mit der Stirn auf das Deck des Schiffes.
Das unsichtbare Wesen setzte seinen Weg fort, er hörte wieder
die schleppenden Schritte. Es schien auf die beiden Engländer
loszugehen. Und das schreckliche Schauspiel wiederholte sich noch
einmal. Und auch hier war es wieder derselbe zweimalige Ruf, den
die letzte Todesangst aus ihrer Kehle preßte, der Ruf. »Mutter,
Mutter«, in dem ihr Leben entfloh.
»Und nun wird es zu mir kommen«, dachte der Franzose.
Aber es kam nichts, alles blieb still. Und er war allein mit den
Toten.
Der Morgen ging dahin. Er rührte sich nicht von seinem Fleck.
Er hatte nur den einen Gedanken, wann wird es kommen. Und seine
Lippen wiederholten mechanisch immerfort diesen kleinen Satz: »Wann
wird es kommen, wann wird es kommen?« Die Nebel hatten sich
langsam verteilt. Und die Sonne, die nun schon nahe am Mittag stand,
hatte das Meer in eine ungeheure strahlende Fläche verwandelt,
in eine ungeheure silberne Platte, die selber wie eine zweite Sonne
ihr Licht in den Raum hinausstrahlte.
Es war wieder still. Die Hitze der Tropen brodelte überall
in der Luft. Die Luft schien zu kochen. Und der Schweiß rann
ihm in dicken Furchen über das graue Gesicht. Sein Kopf, auf
dessen Scheitel die Sonne stand, kam ihm vor wie ein riesiger roter
Turm, voll von Feuer. Er sah seinen Kopf ganz deutlich von innen
heraus in den Himmel wachsen. Immer höher, und immer heißer
wurde er innen. Aber drinnen, über eine Wendeltreppe, deren
letzte Spiralen sich in dem weißen Feuer der Sonne verloren,
kroch ganz langsam eine schlüpfrige weiße Schnecke. Ihre
Fühler tasteten sich in den Turm herauf, während ihr feuchter
Schweif sich noch in seinem Halse herumwand.
Er hatte die dunkle Empfindung, daß es doch eigentlich zu
heiß wäre, das könnte doch eigentlich kein Mensch
aushalten.
Da - bum - schlug ihm jemand mit einer feurigen Stange auf den Kopf,
er fiel lang hin. Das ist der Tod, dachte er. Und nun lag er eine
Weile auf den glühenden Schiffsplanken.
Plötzlich wachte er wieder auf. Ein leises dünnes Gelächter
schien sich hinter ihm zu verlieren. Er sah auf, und da sah er:
das Schiff fuhr, das Schiff fuhr, alle Segel waren besetzt. Sie
bauschten sich weiß und blähend, aber es ging kein Wind,
nicht der leiseste Hauch. Das Meer lag spiegelblank, weiß,
eine feurige Hölle. Und in dem Himmel oben, im Zenit, zerfloß
die Sonne wie eine riesige Masse weißglühenden Eisens.
Oberall troff sie über den Himmel hin, überall klebte
ihr Feuer, und die Luft schien zu brennen. Ganz in der Ferne, wie
ein paar blaue Punkte, lagen die Inseln, bei denen sie geankert
hatten.
Und mit einem Male war das Entsetzen wieder oben, riesengroß
wie ein Tausendfüßler, der durch seine Adern lief und
sie hinter sich erstarren machte, wo er mit dem Gewimmel seiner
kalten Beinchen hindurchkam.
Vor ihm lagen die Toten. Aber ihr Gesicht stand nach oben. Wer hatte
sie umgedreht? Ihre Haut war blaugrün. Ihre weißen Augen
sahen ihn an. Die beginnende Verwesung hatte ihre Lippen auseinander
gezogen und die Backen in ein wahnsinniges Lächeln gekräuselt.
Nur der Leichnam des Iren schlief ruhig in seiner Hängematte.
Er versuchte sich langsam an dem Schiffsbord in die Höhe zu
ziehen, gedankenlos.
Aber die unsagbare Angst machte ihn schwach und kraftlos. Er sank
in seine Knie. Und jetzt wußte er, jetzt wird es kommen. Hinter
dem Mastbaum stand etwas. Ein schwarzer Schatten. Jetzt kam es mit
seinem schlurfenden Schritte über Deck. Jetzt stand es hinter
dem Kajütendache, jetzt kam es hervor. Eine alte Frau in einem
schwarzen altmodischen Kleid, lange weiße Locken fielen ihr
zu beiden Seiten in das blasse alte Gesicht. Darin steckten ein
paar Augen von unbestimmter Farbe wie ein paar Knöpfe, die
ihn unverwandt ansahen. Und überall war ihr Gesicht mit den
blauen und roten Pusteln übersät, und wie ein Diadem standen
auf ihrer Stirn zwei rote Beulen, über die ihr weißes
Großmutterhäubchen gezogen war. Ihr schwarzer Reifrock
knitterte, und sie kam auf ihn zu. In einer letzten Verzweiflung
richtete er sich mit Händen und Füßen auf. Sein
Herz schlug nicht mehr. Er fiel wieder hin.
Und nun war sie schon so nahe, daß er ihren Atem wie eine
Fahne aus ihrem Munde wehen sah.
Noch einmal richtete er sich auf. Sein linker Arm war schon gelähmt.
Etwas zwang ihn stehen zu bleiben, etwas Riesiges hielt ihn fest.
Aber er gab den Kampf noch nicht auf. Er drückte es mit seiner
rechten Hand herunter, er riß sich los.
Und mit schwankenden Schritten, ohne Besinnung, stürzte er
den Bord entlang, an dem Toten in der Hängematte vorbei, vorn,
wo die große Strickleiter vom Ende des Bugspriets zu dem vordersten
Maste herauflief.
Er kletterte daran herauf, er sah sich um.
Aber die Pest war hinter ihm her. Jetzt war sie schon auf den untersten
Sprossen. Er mußte also höher, höher. Aber die Pest
ließ nicht los, sie war schneller wie er, sie mußte
ihn einholen. Er griff mit Händen und Füßen zugleich
in die Stricke, trat da- und dorthin, geriet mit einem Fuße
durch die Maschen, riß ihn wieder heraus, kam oben an. Da
war die Pest noch ein paar Meter entfernt. Er kletterte an der höchsten
Rahe entlang. Am Ende war ein Seil. Er kam an dem Ende der Rahe
an. Aber wo war das Seil? Da war leerer Raum.
Tief unten war das Meer und das Deck. Und gerade unter ihm lagen
die beiden Toten.
Er wollte zurück, da war die Pest schon am anderen Ende der
Rahe.
Und nun kam sie freischwebend auf dem Holze heran wie ein alter
Matrose mit wiegendem Gang.
Nun waren es nur noch sechs Schritte, nur noch fünf. Er zählte
leise mit, während die Todesangst in einem gewaltigen Krampf
seine Kinnbacken auseinanderriß, als wenn er gähnte.
Drei Schritte, zwei Schritte.
Er wich zurück, griff mit den Händen in die Luft, wollte
sich irgendwo festhalten, überschlug sich und stürzte
krachend auf das Deck, mit dem Kopf zuerst auf eine eiserne Planke.
Und da blieb er liegen mit zerschmettertem Schädel.
Ein schwarzer Sturm zog schnell im Osten über dem stillen Ozean
auf. Die Sonne verbarg sich in den dicken Wolken, wie ein Sterbender,
der ein Tuch über sein Gesicht zieht. Ein paar große
chinesische Dschunken, die aus dem Halbdunkel herauskamen, hatten
alle Segel besetzt und fuhren rauschend vor dem Sturme einher mit
brennenden Götterlampen und Pfeifengetön. Aber an ihnen
vorbei fuhr das Schiff riesengroß wie der fliegende Schatten
eines Dämons. Auf dem Deck stand eine schwarze Gestalt. Und
in dem Feuerschein schien sie zu wachsen, und ihr Haupt erhob sich
langsam über die Masten, während sie ihre gewaltigen Arme
im Kreise herumschwang gleich einem Kranich gegen den Wind. Ein
fahles Loch tat sich auf in den Wolken. Und das Schiff fuhr geradenwegs
hinein in die schreckliche Helle.
Georg Heym (1887-1912):
- Eine
Fratze
- Die
Sektion
- Jonathan
- Das
Schiff
- Schwarze
Visionen
|