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Claus Sterneck / Claus in Iceland
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Wolfgang Sterneck
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Emile Zola:
 
GERMINAL
 
- Viertes Kapitel (II) - Vor den Augen
 
 
 Glücklicherweise war es zehn Uhr; der Werkplatz beschloß zu frühstücken. Maheu hatte eine Uhr, aber er schaute sie nicht an. In dieser sternenlosen Nacht irrte er sich nie um fünf Minuten. Alle legten das Hemd und den Kittel wieder an. Dann stiegen sie vom Schlag herunter und hockten nieder, die Ellbogen an die Seiten gedrückt, mit den Hinterbacken auf den Fersen ruhend, in der Haltung, die den Grubenarbeitern so angewohnt war, daß sie sie selbst außerhalb der Grube beibehielten, ohne eines Pflastersteines oder eines Balkens zu bedürfen, um sich darauf zu setzen. Jeder hatte seinen »Ziegel« hervorgeholt und aß mit ernster Miene von der dicken Brotschnitte, wobei er nur selten ein Wort über die Morgenarbeit fallen ließ. Katharina, die stehengeblieben war, trat schließlich zu Etienne, der sich ein Stück weiterhin quer über die Schienen gelagert hatte, mit dem Rücken an die Verholzung gelehnt. Er hatte da ein fast trockenes Plätzchen gefunden.
 
»Du ißt nicht?« fragte sie mit vollem Munde, ihren »Ziegel« in der Hand.
 
Dann erinnerte sie sich des Jungen, der in der Nacht herumirrte ohne einen Sou, vielleicht ohne ein Stück Brot.
 
»Willst du mit mir teilen?« fragte sie.
 
Als er ablehnte mit der Beteuerung, daß er keinen Hunger habe, wobei aber der Schmerz des leeren Magens seine Stimme zittern ließ, fuhr sie in heiterem Tone fort: »Wenn es dich vielleicht ekelt!... Doch schau, ich habe nur auf dieser Seite abgebissen und will dir die andere Seite geben.«
 
Schon hatte sie die Brotschnitten entzweigebrochen. Der junge Mann hatte seine Hälfte genommen und mußte an sich halten, um sie nicht auf einmal zu verschlingen; er legte die Arme auf seine Schenkel, damit sie sein Zittern nicht sehe. Mit der ruhigen Miene eines guten Kameraden hatte sie sich neben ihm platt auf den Bauch hingelegt, das Kinn auf die eine Hand gestützt, während sie mit der anderen langsam aß. Ihre Laternen, die zwischen ihnen standen, beleuchteten sie.
 
Katharina betrachtete ihn einen Augenblick schweigend. Sie mußte ihn hübsch finden mit seinem feinen Gesicht und seinem schwarzen Schnurrbart. Ein vergnügtes Lächeln umspielte ihre Lippen.
 
»Also, du bist Maschinist, und man hat dich bei deiner Eisenbahn entlassen... Warum?«
 
»Weil ich meinen Chef geohrfeigt hatte.«
 
Sie war verblüfft, völlig verwirrt in ihren ererbten Vorstellungen von Unterwerfung und leidendem Gehorsam.
 
»Ich muß sagen, daß ich getrunken hatte«, fuhr er fort. »Wenn ich trinke, verliere ich den Kopf und möchte mich selbst und andere fressen... Jawohl; zwei Gläschen genügen, und ich suche einen Menschen, um ihn zu vertilgen... Nachher bin ich zwei Tage krank.«
 
»Du solltest nicht trinken«, sagte sie in ernstem Tone.
 
»Sei ohne Angst, ich kenne mich!«
 
Er schüttelte dabei den Kopf. Er haßte den Branntwein; es war der Haß des letzten Sprößlings eines Säufergeschlechtes, der das Übel der ganzen, vom Alkohol durchtränkten und verdorbenen Sippe dermaßen im Fleische hatte, daß ein Tropfen davon für ihn zum Gifte wurde.
 
»Es ärgert mich nur wegen meiner Mutter, daß ich auf die Straße gesetzt wurde«, sagte er, nachdem er einen Bissen hinuntergeschluckt hatte. Meine Mutter ist nicht glücklich, und ich sandte ihr von Zeit zu Zeit ein Hundertsousstück.«
 
»Wo ist deine Mutter?«
 
»Sie ist Wäscherin in Paris, Goldtropfengasse.«
 
Es trat ein kurzes Schweigen ein. Wenn er an diese Dinge dachte, trübte ein Zittern seine schwarzen Augen, gleichsam die vorübergehende Beklemmung des Erbübels, dessen unbekannter Ausgang ihm im Leibe steckte unter der Hülle seiner jugendlichen Gesundheit. Einen Augenblick saß er da und starrte in die Finsternis der Grube; in dieser Tiefe sah er unter der erdrückenden Wucht der Erde seine Kindheit wieder, seine noch schöne und kräftige Mutter, die von seinem Vater verlassen und sich später mit einem andern wieder verheiratet hatte; die sodann zwischen zwei Männern lebte, die an ihr zehrten, und mit denen sie in den Straßenschmutz sank, um in Wein und Unflat unterzugehen. Er erinnerte sich sehr wohl der Straße und vieler Einzelheiten: der schmutzigen Wäsche inmitten des Ladens, des Stiefvaters, der mit seiner Trunkenheit das Haus verpestete, der Maulschellen, die es absetzte, daß die Kinnbacken schier aus den Fugen gingen.
 
»Von meinen dreißig Sous, die ich täglich erwerben soll, werde ich ihr nichts schenken können«, hub er langsam wieder an ... Sie wird sicherlich in Not und Elend verkommen.«
 
Er zuckte verzweifelt mit den Achseln und biß wieder in seine Brotschnitte.
 
»Willst du trinken?« fragte Katharina, indem sie ihre Blechflasche entkorkte. »Es ist Kaffee, der Trunk kann dir nicht schaden ... Man erstickt, wenn man sein Essen so hinunterwürgt.«
 
Doch er lehnte ab; es sei schon genug, daß er ihr die Hälfte ihres Brotes genommen habe. Doch sie drang gutherzig in ihn und sagte schließlich:
 
»Gut, ich werde zuerst trinken, weil du so höflich bist ... Jetzt darfst du aber die Flasche nicht mehr zurückweisen. Das wäre häßlich.«
 
Damit reichte sie ihm die Flasche. Sie hatte sich auf den Knien aufgerichtet; er sah sie jetzt ganz nahe bei sich in Lichte der beiden Lampen. Warum hatte er sie denn häßlich gefunden? fragte er sich selbst. Jetzt, da sie ganz schwarz war, das Gesicht mit einem feinen Kohlenstaube bestreut, fand er einen seltsamen Reiz an ihr. In diesem in Dunkel getauchten Antlitz schimmerten die Zähne glänzend weiß aus dem zu groß geratenen Munde hervor; die Augen erweiterten sich und leuchteten mit einem grünlich schimmernden Widerschein wie Katzenaugen. Ein Büschel ihrer roten Haare war unter ihrer Mütze hervorgeschlüpft und kitzelte sie am Ohr, daß sie lachen mußte. Sie schien ihm jetzt nicht mehr so jung und konnte sehr wohl vierzehn Jahre alt sein.
 
»Um dir gefällig zu sein«, sagte er, trank und gab ihr hernach die Flasche zurück.
 
Sie nahm noch einen Schluck und nötigte ihn, gleichfalls noch einen zu nehmen. Sie wolle mit ihm teilen, sagte sie. Es machte ihnen Spaß, wie dieser dünne Flaschenhals von einem Munde zum anderen wanderte. Er fragte sich plötzlich, ob er sie nicht in seine Arme nehmen und auf den Mund küssen solle. Sie hatte dicke Lippen von einer blassen, durch die Kohlenschwärze etwas belebten Röte, und diese Lippen erregten eine quälende, immer stärkere Begierde in ihm. Doch ihm fehlte der Mut, und er blieb schüchtern vor ihr. Er hatte sich in Lille nur mit Dirnen der niedrigsten Gattung abgegeben und wußte nicht, wie er sich einer Arbeiterin gegenüber, die noch im Kreise ihrer Familie lebte, benehmen solle.
 
»Du bist vierzehn Jahre alt?« fragte er, als er sich wieder an sein Brot machte.
 
Sie war erstaunt, fast beleidigt durch diese Frage.
 
»Was, vierzehn Jahre? Ich bin fünfzehn alt!... Groß bin ich allerdings nicht... Die Mädchen wachsen hier langsam.«
 
Er fuhr fort, sie auszufragen. Sie sagte alles nicht dreist und nicht scheu. Ihr war nichts mehr unbekannt vom Manne und vom Weibe, obgleich er sehr wohl merken konnte, daß sie an ihrem Körper jungfräulich war, ein jungfräuliches Kind, in der Reife seines Geschlechtes zurückgeblieben in dieser Umgebung von schlechter Luft und Mühsal, in der sie lebte. Sobald er wieder auf die Mouquette zu sprechen kam, um sie in Verlegenheit zu bringen, erzählte sie ruhigen, heiteren Tones geradezu entsetzliche Geschichten. Die trieb es bunt! Als er zu erfahren wünschte, ob sie selbst nicht schon einen Liebsten habe, antwortete sie scherzend, daß sie ihre Mutter nicht kränken wolle, daß dies aber doch notwendigerweise eines Tages werde geschehen müssen. Sie hatte die Schultern eingezogen, denn sie fror ein wenig in ihren von Schweiß durchtränkten Gewändern. Ihre Miene war sanft und ergeben; sie schien bereit, Menschen und Dinge ruhig hinzunehmen.
 
»Man findet leicht einen Schatz, wenn man so beisammen lebt, nicht wahr?« fragte er.
 
 »Ganz gewiß.«
 
»Auch schadet das niemandem... Nur dem Pfarrer darf man nichts davon sagen.«
 
»Oh, ich kümmere mich wenig um den Pfarrer! Aber der schwarze Mann!...«
 
»Was? Der schwarze Mann?«
 
»Der alte Bergmann, der in die Grube zurückkommt und den schlimmen Mädchen den Hals umdreht.«
 
»Du glaubst an solche Dummheiten! Weißt du denn nichts?«
 
»Doch, ich kann schreiben und lesen... Das ist bei uns von Nutzen; denn zur Zeit von Vater und Mutter lernte man nichts.«
 
Er fand sie entschieden sehr nett und gedachte, sobald sie mit ihrer Brotschnitte zu Ende sei, sie zu fassen und auf die dicken, roten Lippen zu küssen. Es war die Entschlossenheit eines Schüchternen, ein gewaltsamer Gedanke, der ihm die Kehle zuschnürte. Diese Knabenkleidung, die Jacke und das Beinkleid auf diesem Mädchenleibe, sie erregten und belästigten ihn. Er hatte seinen letzten Bissen hinuntergewürgt, trank von der Flasche und gab ihr diese zurück, damit sie den letzten Rest trinke. Jetzt war der Augenblick zu handeln gekommen, und er warf einen ängstlichen Blick nach den im Hintergrunde sitzenden Arbeitern, als plötzlich ein Schatten vor der Galerie erschien.
 
Chaval stand seit einer Weile da und betrachtete sie von ferne. Jetzt kam er näher und versicherte sich durch einen Blick, daß Maheu ihn nicht sehen könne; da Katharina noch immer auf der Erde saß, packte er sie bei den Schultern, beugte ihren Kopf zurück und preßte einen wilden Kuß auf ihre Lippen, ganz ruhig, augenscheinlich unbekümmert um die Anwesenheit Etiennes. Dieser Kuß war gewissermaßen eine Besitzergreifung, eine Art eifersüchtigen Entschlusses.
 
Doch das junge Mädchen hatte sich dagegen gewehrt.
 
»Laß mich, hörst du?« rief sie.
 
Er hielt ihren Kopf fest und schaute ihr tief in die Augen. Sein roter Schnurr- und Geißbart flammte in seinem schwarzen Gesichte mit der großen Adlernase. Endlich ließ er sie los und ging wortlos seines Weges.
 
Ein Frösteln überlief Etienne. Es war dumm von ihm, daß er gewartet hatte. Nein, gewiß, jetzt wollte er sie nicht mehr umarmen; sie könnte sonst glauben, er sei so wie der andere. Er war ordentlich trostlos in seiner verletzten Eitelkeit.
 
»Warum hast du gelogen?« sagte er mit leiser Stimme. »Das ist dein Liebhaber.«
 
»Aber nein, versichere ich dir!« rief sie. »Es gibt nicht die geringste Gemeinschaft zwischen uns. Manchmal treibt er Spaß mit mir ... Er ist auch gar nicht aus unserer Gegend; vor sechs Monaten ist er aus dem Pas-de-Calais hierhergekommen.«
 
Beide hatten sich erhoben. Man ging wieder an die Arbeit. Als sie ihn so kühl sah, schien sie darüber verdrossen. Ohne Zweifel fand sie ihn hübscher als den anderen und würde ihn vielleicht vorgezogen haben. Es plagte sie der Gedanke, sich ihm freundlich zu zeigen, gleichsam um ihn zu trösten, und als der junge Mann erstaunt seine Lampe betrachtete, die mit blauer Flamme brannte und einen breiten, blassen Kragen hatte, versuchte sie wenigstens, ihn zu zerstreuen.
 
»Komm, ich will dir etwas zeigen«, flüsterte sie mit kameradschaftlicher Miene.
Als sie ihn in die Tiefe des Schlages geführt hatte, zeigte sie ihm einen Spalt in dem Kohlenlager. Ein leises Brodeln tönte da hervor, ein schwaches Geräusch, das dem Pfeifen eines Vogels glich.
 
»Tu deine Hand da her, spürst du den Schwaden? Das sind die bösen Gase, davon entstehen die Grubenbrände.«
 
Er war erstaunt. Die furchtbare Sache, die schlagenden Wetter: die alles in die Luft sprengten: war's nichts weiter als das? Sie erwiderte lachend, es müsse sich davon heute viel angesammelt haben, weil die Lampen mit so blauer Flamme brannten.
 
»Habt ihr bald genug geschwätzt, Faulenzer!« rief die rauhe Stimme Maheus.
 
Katharina und Etienne beeilten sich, ihre Karren zu füllen, und schoben sie nach der schiefen Ebene, mit steifem Nacken unter der verzimmerten Decke des Weges dahinkriechend. Schon bei der zweiten Fahrt waren sie von Schweiß bedeckt, und ihre Knochen krachten von neuem.
 
In dem Schlage hatten die Häuer ihre Arbeit wiederaufgenommen. Oft kürzten sie ihr Frühstück ab, um sich nicht zu erkälten; und ihre »Ziegel«, die sie fern von der Sonne mit stummer Gier verzehrt hatten, lagen ihnen bleischwer im Magen. Auf der Seite liegend, hieben sie jetzt fester darauflos und hatten keinen anderen Gedanken als den, möglichst viele Hunde zu füllen. Alles verschwand in der wilden Gier nach dem Erwerb, der ihnen so schwer gemacht wurde. Schließlich fühlten sie das Wasser nicht mehr, das auf sie herabfloß und ihre Glieder anschwellen ließ, noch die durch die gezwungenen Stellungen verursachten Krämpfe, noch endlich die erstickende Luft der Finsternis, in der sie bleich wurden wie Kellerpflanzen. Doch in dem Maße, wie der Tag vorrückte, verdarb die Luft immer mehr und erhitzte sich durch den Rauch der Lampen, durch die schlechten Ausatmungen der Arbeiter, durch die Stickluft der bösen Gase; sie lag trübe vor den Augen wie Spinngewebe und konnte nur durch die nächtliche Lüftung weggefegt werden. Die Häuer in ihrem Maulwurfsloche, gleichsam von dem ungeheuren Gewichte der Erde erdrückt, hieben immer darauflos, bis sie schließlich keinen Atem mehr in der keuchenden Brust hatten.
 
- Viertes Kapitel (I) -
 
 Aus:  Emile Zola (1840-1902):  Germinal
Germinal. (Deutsche Übersetzung).
Germinal. (Originalfassung).
 

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