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Frank Wedekind:
"TOD UND LEBEN"
(Frühlings Erwachen; 3. Akt, 7. Szene). (Teil
I).
(Ein vermummter Herr tritt auf. )
Der vermummte Herr:
(zu Melchior)
Du bebst ja vor Hunger. Du bist gar nicht befähigt, zu urteilen.
- (Zu Moritz) Gehen Sie.
Melchior:
Wer sind Sie?
Der vermummte Herr:
Das wird sich weisen. - Zu Moritz Verschwinden Sie! - Was haben
Sie hier zu tun! - Warum haben Sie denn den Kopf nicht auf?
Moritz:
Ich habe mich erschossen.
Der vermummte Herr:
Dann bleiben Sie doch, wo Sie hingehören. Dann sind Sie ja
vorbei. Belästigen Sie uns hier nicht mit Ihrem Grabgestank.
Unbegreiflich - sehen Sie doch nur Ihre Finger an. Pfui Teufel noch
mal! Das zerbröckelt schon.
Moritz:
Schicken Sie mich bitte nicht fort...
Melchior:
Wer sind Sie, mein Herr??
Moritz:
Schicken Sie mich nicht fort! Ich bitte Sie. Lassen Sie mich hier
noch ein Weilchen teilnehmen; ich will Ihnen in nichts entgegensein.
- - Es ist unten so schaurig.
Der vermummte Herr:
Warum prahlen Sie denn dann mit Erhabenheit?! - Sie wissen doch,
daß das Humbug ist - saure Trauben! Warum lügen Sie geflissentlich,
Sie - Hirngespinst! - - Wenn Ihnen eine so schätzenswerte Wohltat
damit geschieht, so bleiben Sie meinetwegen. Aber hüten Sie
sich vor Windbeuteleien, lieber Freund - und lassen Sie mir bitte
Ihre Leichenhand aus dem Spiel.
Melchior:
Sagen Sie mir endlich, wer Sie sind, oder nicht?!
Der vermummte Herr:
Nein. - Ich mache dir den Vorschlag, dich mir anzuvertrauen. Ich
würde fürs erste für dein Fortkommen sorgen.
Melchior:
Sie sind - mein Vater?!
Der vermummte Herr:
Würdest du deinen Herrn Vater nicht an der Stimme erkennen?
Melchior:
Nein.
Der vermummte Herr:
- Dein Herr Vater sucht Trost zur Stunde in den kräftigen Armen
deiner Mutter. - Ich erschließe dir die Welt. Deine momentane
Fassungslosigkeit entspringt deiner miserablen Lage. Mit einem warmen
Abendessen im Leib spottest du ihrer.
Melchior:
(für sich) Es kann nur einer der Teufel sein! -
(laut) Nach dem, was ich verschuldet, kann mir ein warmes
Abendessen meine Ruhe nicht wiedergeben!
Der vermummte Herr:
Es kommt auf das Abendessen an! - Soviel kann ich dir sagen, daß
die Kleine vorzüglich geboren hätte. Sie war musterhaft
gebaut. Sie ist lediglich den Abortivmitteln der Mutter Schmidtin
erlegen. - - Ich führe dich unter Menschen. Ich gebe dir Gelegenheit,
deinen Horizont in der fabelhaftesten Weise zu erweitern. Ich mache
dich ausnahmslos mit allem bekannt, was die Welt Interessantes bietet.
Melchior:
Wer sind Sie? Wer sind Sie? - Ich kann mich einem Menschen nicht
anvertrauen, den ich nicht kenne.
Der vermummte Herr:
Du lernst mich nicht kennen, ohne dich mir anzuvertrauen.
Melchior:
Glauben Sie?
Der vermummte Herr:
Tatsache! - Übrigens bleibt dir ja keine Wahl.
Melchior:
Ich kann jeden Moment meinem Freunde hier die Hand reichen.
Der vermummte Herr:
Dein Freund ist ein Scharlatan. Es lächelt keiner, der noch
einen Pfennig in bar besitzt. Der erhabene Humorist ist das erbärmlichste,
bedauernswerteste Geschöpf der Schöpfung!
Melchior:
Sei der Humorist, was er sei; Sie sagen mir, wer Sie sind, oder
ich reiche dem Humoristen die Hand!
Der vermummte Herr:
- Nun?!
Moritz:
Er hat recht, Melchior. Ich habe bramarbasiert. Laß dich von
ihm traktieren und nütz ihn aus. Mag er noch so vermummt sein
- er ist es wenigstens!
Melchior:
Glauben Sie an Gott?
Der vermummte Herr:
Je nach Umständen.
Melchior:
Wollen Sie mir sagen, wer das Pulver erfunden hat?
Der vermummte Herr:
Berthold Schwarz - alias Konstantin Anklitzen - um 1330 Franziskanermönch
zu Freiburg im Breisgau.
Moritz:
Was gäbe ich darum, wenn er es hätte bleiben lassen!
Der vermummte Herr:
Sie würden sich eben erhängt haben!
Melchior:
Wie denken Sie über Moral?
Der vermummte Herr:
Kerl - bin ich dein Schulknabe?!
Melchior:
Weiß ich, was Sie sind!!
Moritz:
Streitet nicht! - Bitte, streitet nicht. Was kommt dabei heraus!
- Wozu sitzen wir, zwei Lebendige und ein Toter, nachts um zwei
Uhr hier auf dem Kirchhof beisammen, wenn wir streiten wollen wie
Saufbrüder! - Es soll mir ein Vergnügen sein, der Verhandlung
mit beiwohnen zu dürfen. - Wenn ihr streiten wollt, nehme ich
meinen Kopf unter den Arm und gehe.
Melchior:
Du bist immer noch derselbe Angstmeier!
Der vermummte Herr:
Das Gespenst hat nicht unrecht. Man soll seine Würde nicht
außer acht lassen. - Unter Moral verstehe ich das reelle Produkt
zweier imaginärer Größen. Die imaginären Größen
sind Sollen und Wollen. Das Produkt heißt Moral und läßt
sich in seiner Realität nicht leugnen.
Moritz:
Hätten Sie mir das doch vorher gesagt! - Meine Moral hat mich
in den Tod gejagt. Um meiner lieben Eltern willen griff ich zum
Mordgewehr. »Ehre Vater und Mutter, auf daß du lange
lebest.« An mir hat sich die Schrift phänomenal blamiert.
Der vermummte Herr:
Geben Sie sich keinen Illusionen hin, lieber Freund! Ihre lieben
Eltern wären sowenig daran gestorben wie Sie. Rigoros beurteilt
würden sie ja lediglich aus gesundheitlichem Bedürfnis
getobt und gewettert haben.
Melchior:
Das mag soweit ganz richtig sein. - Ich kann Ihnen aber mit Bestimmtheit
sagen, mein Herr, daß, wenn ich Moritz vorhin ohne weiteres
die Hand gereicht hätte, einzig und allein meine Moral die
Schuld trüge.
Der vermummte Herr:
Dafür bist du eben nicht Moritz!
Moritz:
Ich glaube doch nicht, daß der Unterschied so wesentlich ist
- zum mindesten nicht so zwingend, daß Sie nicht auch mir
zufällig hätten begegnen dürfen, verehrter Unbekannter,
als ich damals, das Pistol in der Tasche, durch die Erlenpflanzungen
trabte.
Der vermummte Herr:
Erinnern Sie sich meiner denn nicht? Sie standen doch wahrlich auch
im letzten Augenblick noch zwischen Tod und Leben.
- übrigens ist hier meines Erachtens doch wohl nicht ganz der
Ort, eine so tiefgreifende Debatte in die Länge zu ziehen.
Moritz:
Gewiß, es wird kühl, meine Herren! - Man hat mir zwar
meinen Sonntagsanzug angezogen, aber ich trage weder Hemd noch Unterhosen.
Melchior:
Leb wohl, lieber Moritz. Wo dieser Mensch mich hinführt, weiß
ich nicht. Aber er ist ein Mensch...
Moritz:
Laß mich's nicht entgelten, Melchior, daß ich dich umzubringen
suchte! Es war alte Anhänglichkeit. - Zeitlebens wollte ich
nur klagen und jammern dürfen, wenn ich dich nun noch einmal
hinausbegleiten könnte!
Der vermummte Herr:
Schließlich hat jeder sein Teil - Sie das beruhigende
Bewußtsein, nichts zu haben - du den enervierenden
Zweifel an allem. - Leben Sie wohl.
Melchior:
Leb wohl, Moritz! Nimm meinen herzlichen Dank dafür, daß
du mir noch erschienen. Wie manchen frohen ungetrübten Tag
wir nicht miteinander verlebt haben in den vierzehn Jahren! Ich
verspreche dir, Moritz, mag nun werden, was will, mag ich in den
kommenden Jahren zehnmal ein anderer werden, mag es aufwärts
oder abwärts mit mir gehn, dich werde ich nie vergessen...
Moritz:
Dank, dank, Geliebter.
Melchior:
... und wenn ich einmal ein alter Mann in grauen Haaren bin, dann
stehst gerade du mir vielleicht wieder näher als alle Mitlebenden.
Moritz:
Ich danke dir. - Glück auf den Weg, meine Herren! - Lassen
Sie sich nicht länger aufhalten.
Der vermummte Herr:
Komm, Kind! - (Er legt seinen Arm in denjenigen Melchiors und
entfernt sich mit ihm über die Gräber hin.)
Moritz:
(allein) - Da sitze ich nun mit meinem Kopf im Arm. - - Der
Mond verhüllt sein Gesicht, entschleiert sich wieder und sieht
um kein Haar gescheiter aus. - - So kehr' ich denn zu meinem Plätzchen
zurück, richte mein Kreuz auf, das mir der Tollkopf so rücksichtslos
niedergestampft, und wenn alles in Ordnung, leg' ich mich wieder
auf den Rücken, wärme mich an der Verwesung und lächle...
Aus: Frank Wedekind: Frühlings Erwachen. (3. Akt, 7. Szene).
(1891).
Frank Wedekind (1864-1918):
Tod
und Leben I
Frühlings
Erwachen
Frank
Wedekind-Gesellschaft
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