Wolfgang Sterneck:
TUNESIEN - DIE PALÄSTE DER MACHT UND DER ZORN DER REVOLUTION
In den Scherben der verwüsteten Strandvilla spiegeln sich gleichermaßen
der Größenwahn des gestürzten tunesischen Diktators
Ben Ali wie auch die Visionen der Befreiung.
DER AUSGEHÖHLTE LUXUS
Das monumentale Gebäude überragt den Strand. Einst schien
es geradezu über ihn zu thronen. Große herrschaftliche
Treppen führen hinauf. Den Eingangbereich überragen Säulen,
die an die Größe antiker Reiche erinnern sollten.
Der beeindruckende unverdeckte Ausblick schließt Meer, Stadt
und Land ein, während gleichzeitig die inzwischen an machen
Stellen durchbrochenen Mauern einem Einblick auf das Gelände
von Außen verhinderten. Die Küche bzw. die Räumlichkeiten
für die Angestellten befanden sich dagegen ohne Tageslicht
in einem vom eigentlichen Gebäude abgetrennten Bereich unterhalb
des Bodens.
Über Jahre hinweg wurde das Anwesen am Strand von Hammamet
vom Clan des ehemaligen tunesischen Machthabers Ben Ali als eine
von zahlreichen Sommerresidenzen genutzt. Doch nun wirkt das Gebäude
wie ein ausgehöhltes Symbol der einstigen Diktatur.
Die ehemals weißen Außenwände sind zum Teil rußgeschwärzt
und mit Graffiti-Parolen überzogen. Im Inneren gibt es keine
Wand, die nicht von zahllosen handgeschriebenen Botschaften geprägt
ist. Die großflächigen Fensterfassaden sind völlig
verschwunden. Der Boden ist stattdessen mit Scherben überhäuft,
während sich im Swimmingpool entsprechende Trümmer stapeln.
Die Holzveranda mit einer eigenen Bar ist abgebrannt, nur ein verkohltes
Gestell erinnert daran.
Im Zuge des Aufstandes gegen das Regime Ben Alis wurde das Gelände
im Januar 2011 gestürmt und verwüstet. Jahrzehntelang
unterdrückte Gefühle fanden hier einen Ausgang.
DIE JASMIN-REVOLUTION
Die Jasmin-Revolution begann tragisch mit der Selbstverbrennung
des 26-jährigen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi im
Dezember 2010. Sie wurde zu einem Fanal gegen die sozialen und politischen
Missstände in Tunesien, die sich in Bouazizis Lebensbedingungen
spiegelten.
Innerhalb weniger Wochen wuchs der Protest zu einer Massenbewegung
an. Auf Demonstrationen und Streiks reagierte der Staatsapparat
mit brutaler Härte. Dutzende unbewaffnete Menschen wurden bei
den Protesten erschossen, worauf es mehrfach zu Straßenschlachten
kam. Durch die Weigerung von Teilen des Militärs weiter gegen
die Bevölkerung vorzugehen, verliert Ben Ali entscheidend an
Stärke. Nachdem er Vermögenswerte in Höhe von rund
500 Millionen Euro ins Ausland transferieren ließ, flüchtete
Ben Ali im Januar 2011 nach Saudi-Arabien.
In Folge wurde eine Übergangsregierung gebildet, die den Übergang
in ein parlamentarisches System ermöglichen soll. Nach Protesten
gegen einige Mitglieder, die schon unter Ben Ali führende Positionen
einnahmen, musste die Regierung jedoch mehrfach neu zusammengesetzt
werden. Schrittweise folgten dann die Freilassung politischer Gefangener,
die Aufhebung der Zensur, die Ansetzung von Wahlen und die Verurteilung
von Ben Ali in Abwesenheit zu einer langen Gefängnisstrafe.
Im Mittelpunkt der Revolution standen die Forderung nach Meinungsfreiheit,
demokratischer Mitbestimmung und Rechtsstattlichkeit, sowie das
Ziel eines breiten materiellen Wohlstandes. Das prägende Grundgefühl
war Bedürfnis nach freier Entfaltung im persönlichen wie
im gesellschaftlichen Bereich ohne repressive Einschränkungen
durch ein korruptes System. Die Grundwerte der Revolution entsprachen
einem bürgerlichen Gesellschaftsbild. Islamistische Positionen
nahmen dagegen eine völlig untergeordnete Rolle ein. Auch linke
revolutionäre Zielsetzungen, die auf eine grundsätzliche
Umgestaltung der Gesellschaft zielten, hatten nur einen geringen
Einfluss.
Trotz der staatlichen Zensur-Bestrebungen wurden das Internet bzw.
Facebook, YouTube und Twitter zu wichtigen Werkzeugen innerhalb
der Unruhen. Weitgehend ohne hierarchische Strukturen und traditionelle
Organisationsformen konnten über die Portale selbstbestimmt
Informationen über Treffpunkte, Videos von Auseinandersetzungen
oder auch Songs mit systemkritischen Inhalten verbreitet werden.
Die Revolution fand dadurch nicht nur auf den Straßen, sondern
auch im virtuellen Raum statt. Der handschriftliche Dank an Facebook
an der Wand der einstigen Sommerresidenz in Hammamet spiegelt dies
deutlich wider.
Die Jasminrevolution in Tunesien stürzte einen Diktatur, der
nach weit über zwanzig Jahren an der Macht unantastbar schien.
Sie bildete dadurch einen Ausgang für die revolutionären
Unruhen, die sich in Folge als Widerstand gegen autoritäre
Herrschaftssysteme in mehreren nordafrikanischen und arabischen
Ländern entfalteten.
PALASTSÄLE FÜR STRASSENMUSIK
Wie tiefgreifend die Veränderungsprozesse in Tunesien sind,
wird sich symbolhaft in der Beantwortung der Frage zeigen, ob die
zahlreichen Paläste des einstigen Diktators eine neue Bedeutung
erhalten oder ob sie, wie bei so vielen Revolutionen zuvor, zu den
Residenzen neuer Machthaber werden.
Zahllose Revolutionen sind versandet, weil sie in wesentlichen Bereichen
die Strukturen des alten Systems übernommen und nur die darin
tätigen Personen ausgetauscht haben. Um nachhaltige Veränderungen
zu bewirken, müssen auf allen Ebenen die Türen aufgebrochen
und die Räume mit einem neuen Leben erfüllt werden.
Derzeit sind die großen Paläste des ehemaligen Diktators
in Tunis und Karthago von Militärkräften weiträumig
abgesperrt. Sieht man von einigen verwüsteten Residenzen ab,
ist eine Besichtigung oder gar eine Nutzung durch die Bevölkerung
der Städte nicht möglich.
Denkbar wäre dagegen beispielsweise die Nutzung der Villen
als Jugendzentren, Übernachtungsmöglichkeiten für
Obdachlose oder Dokumentationszentren. Eine ehemalige Luxussuite
kann auch fantasievoll zu einem Spielplatz für Kinder werden,
die in einem Sandkasten spielen, der den ganzen Raum ausfüllt.
Ebenso ließen sich Palastsäle von Straßenmusikerinnen
nutzen werden, die dort zu offenen Sessions einladen.
Einige Gebäude sollten jedoch in ihrer derzeitigen Form erhalten
bleiben, wie die Residenz in Hammamet. Das Gebäude wirkt emotional
unmittelbar berührend als Mahnmal gegen die Arroganz der Macht,
aber auch als Symbol der Möglichkeit gegen derartige Strukturen
zu rebellieren und sie zu überwinden, wo immer sie Gestalt
annehmen.
Wolfgang Sterneck, Juni 2011.
www.sterneck.net
Foto-Set:
Hammamet
- Scherben einer Diktatur °*
- Dank an Moon °* -

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