|
 |
Wolfgang Sterneck
DER RHYTHMUS DER MASCHINEN
- DIE MUSIK DES FUTURISMUS -
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden die Fundamente der westlichen
Musikkultur grundsätzlich in Frage gestellt und mehrfach im
Rahmen avantgardistischer Strömungen radikal aufgebrochen.
Die Futuristen gehörten zu den ersten, die mit den traditionellen
Ausdrucksformen brachen und das Geräusch als wesentliches Element
in die Musik integrierten. Dabei unterschieden sich die futuristischen
Strömungen in Italien und Russland grundlegend hinsichtlich
ihrer ideologischen Ausrichtungen und ihrer konkreten Praxis.
DIE VERACHTUNG DER ALTEN MELODIEN
Der um 1910 aufkommende italienische Futurismus wurzelte in
einer grundlegenden Ablehnung der bürgerlichen Kultur. Dieser
wurde ein Weltbild gegenübergestellt, welches gleichermaßen
von fortschrittlichen und avantgardistischen Elementen wie auch
in wesentlichen Bereichen von reaktionären Werten geprägt
war. So verherrlichten die Futuristen in ihren Gemälden, Gedichten
und Kompositionen, sowie insbesondere in ihren Manifesten den Krieg,
stellten sich jeglichen emanzipatorischen Bewegungen entgegen und
propagierten den uneingeschränkten technischen Fortschritt.
Bezeichnender Weise unterstützten in den zwanziger und dreißiger
Jahren die meisten Futuristen die faschistische Diktatur Mussolinis.
Schon 1908 fasste Filippo Marinetti im Manifest des Futurismus
diese Haltung zusammen: Wir wollen den Mann besingen, der
das Steuer hält. Wir wollen den Krieg als die einzige Hygiene
der Welt glorifizieren, den Militarismus, den Patriotismus, die
schönen Ideen für die man stirbt, und die Verachtung des
Weibes. Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien
jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, kämpfen.
Wir wollen die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und
Werften besingen, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet
werden, die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen
verzehren, und die Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden
an den Wolken hängen.
Wegweisend für den Bereich der futuristischen Musik, dem Bruitismus,
wurde das im März 1913 veröffentlichte Manifest Die
Geräuschkunst, welches konzeptionell wesentliche Strömungen
der musikalischen Avantgarde des 20. Jahrhundert nachhaltig beeinflusste.
Luigi Russolo knüpfte darin an Veröffentlichungen von
Ferruccio Busoni und Filippo Marinetti an und formulierte das Konzept
einer neuen Geräuschmusik, welches sich völlig vom bis
dahin vorherrschenden Verständnis von Musik lossagte. Geräusche
wurden darin gleichwertig neben Töne gestellt, die von klassischen
Instrumenten erzeugt wurden, bzw. teilweise auch als höherwertig
angesehen, wobei die Quelle das entscheidende Merkmal der Einschätzung
bildete. Wenn wir eine moderne Großstadt mit aufmerksameren
Ohren als Augen durchqueren, dann werden wir das Glück haben,
das Brummen der Motoren, das Auf und Ab der Kolben, das Kreischen
der Sägewerke und die Sprünge der Straßenbahnen
zu unterscheiden. Wir wollen diese so verschiedenen Geräusche
aufeinander abstimmen und harmonisch anordnen. Jede Äußerung
unseres Lebens ist von Geräuschen begleitet. Das Geräusch
ist folglich unserem Ohr vertraut und hat das Vermögen, uns
unmittelbar in das Leben zu versetzen. Während der Ton, der
nicht am Leben teilhat, immer musikalisch eine Sache für sich
und ein zufälliges, nicht notwendiges Element ist. Die Geräuschkunst
darf sich nie auf eine imitative Wiederholung des Lebens beschränken.
Sie wird ihre größte emotionale Kraft aus dem akustischen
Genuss selbst schöpfen, den die Inspiration des Künstlers
aus den Geräuschkombinationen zu ziehen versteht.
Seine Überlegungen versuchte Russolo mit Hilfe selbsterbauter
Geräuschmaschinen, sogenannter Lärmtöner
in die Praxis umzusetzen, die wiederum in Summer, Reiber,
Rauscher, Zischer, Knisterer und Heuler unterteilt waren.
Die konkrete Umsetzung entsprach allerdings nur eingeschränkt
den theoretischen Ansprüchen, auch wenn sie von der breiten
Öffentlichkeit als skandalöse Provokation empfunden wurde.
Meist untermalten während der Aufführungen verschiedene
Geräusche, die von den Lärmtönern hervorgerufen
wurden, verhältnismäßig gewöhnliche Musikstücke.
Neben Russolo experimentierten eine Reihe weiterer Futuristen mit
musikalischen Ausdrucksformen. So entwickelten Giacomo Balla und
Francesco Cangiullo 1914 das Konzept der Tast-Stimme,
dem zufolge im obersten Stockwerk eines Treppenhauses ein stimmlicher
Klang erzeugt wurde, den dann das Geländer über die entsprechenden
Vibrationen weiterleitete. Eine weiter unten stehende Person nahm
mit der Hand die Schwingungen auf. Fortunato Depero entwarf daneben
mehrere Modelle akustischer Plastiken, wie zum Beispiel einen plastischen
motorisch tönenden Komplex mit farbiger Beleuchtung und Spritzern.
Die Konstruktionen konnten, sofern sie realisiert wurden, unter
anderem durch die Bedienung eines Blasebalgs verschiedene Geräusche
erzeugen, Lichtimpulse ausstrahlen und Flüssigkeiten verspritzen.
Gerade am Beispiel des italienischen Futurismus und der bruitistischen
Musik wird die Notwendigkeit deutlich, kulturelle Entwicklungen
im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Hintergründen zu
betrachten. Eine kulturelle oder politische Strömung kann in
Einzelbereichen durchaus einen fortschrittlichen und aufbrechenden
Charakter besitzen, wenn sie jedoch in ihrer Gesamtheit auf einer
rückschrittlichen Grundhaltung basiert, wendet sich letztlich
auch die Ausrichtung des Einzelbereichs in ihr Gegenteil. Daraus
folgend ist auch der eigentliche Charakter eines Musikstücks
immer abhängig von dem Zusammenhang in dem sich dieses befindet.
Eine losgelöste Betrachtung bewirkt oftmals eine verfälschende
Einschätzung. Entsprechend verschleiert die zumeist rein ästhetische
und musikgeschichtliche Darstellung des Bruitismus durch Teile der
bürgerlichen Musikwissenschaft den eigentlichen Charakter der
futuristischen Bewegung. Der formelle Ausbruch der italienischen
Bruitisten aus den Fesseln des bürgerlichen Musikverständnisses
offenbarte letztlich nicht in den innovativen Zügen seinen
eigentlichen Charakter, sondern vielmehr beispielhaft in aller Deutlichkeit
durch die Verherrlichung der maschinellen Klänge der Waffen
des ersten Weltkrieges.
GERÄUSCHE FÜR DIE NEUE WELT
Die Entwicklung des Futurismus in Russland unterschied sich
grundlegend von der in Italien. Zu den ursprünglich verbindenden
Elementen gehörten die Ablehnung der bürgerlichen bzw.
aristokratischen Kultur und die gleichzeitige Suche nach neuen zeitgemäßen
Ausdrucksformen, sowie die Begeisterung für die Errungenschaften
des Industriezeitalters. Im Gegensatz zu den reaktionären Positionen
des italienischen Futurismus propagierten die russischen Futuristen
jedoch eine befreiende gesellschaftliche Veränderung und unterstützten
1917 die sozialistische Oktoberrevolution. Entsprechend wurde auch
Fillipo Marinetti als Leitfigur des italienischen Futurismus während
einer Vortragsreise in Moskau scharf angegriffen.
Zu den herausragenden Werken des russischen Futurismus gehörte
die im Dezember 1913 erstmals aufgeführte Oper Sieg über
die Sonne in der bildnerische, musikalische und textliche
Elemente im Sinne eines Gesamtkunstwerks zu einer Einheit verschmolzen.
Inhaltlich wurde der Sieg der futuristischen Lebensauffassung über
die alten Werte dargestellt, welche durch die Sonne symbolisiert
wurden. Die Oper knüpfte an das wegweisende Manifest
des ersten pan-russischen Kongresses der Sänger der Zukunft
an, welches die Zerstörung der alten Werte als ersten Schritt
auf dem Weg zu einer freien Kultur beschrieb: Wir proklamieren
jetzt die Rechte der Sänger und Künstler, indem wir denen
die Ohren zerreißen, die unter dem Schlamm der Feigheit und
der Unbeweglichkeit vor Kälte zittern. Zerstören: die
wohlklingende russische Sprache, die kastriert und wegradiert wurde
von den Sprachen der Götter der Kritik und Literatur. Zerstören:
die überkommene Richtung des Denkens. Zerstören: Eleganz,
Leichtigkeit und Schönheit der billigen und prostituierten
Künstler und Schriftsteller.
Die inhaltliche Aussage der Oper fand eine Entsprechung in der Wahl
der künstlerischen Mittel, die fast durchgängig mit den
herkömmlichen Vorstellungen brachen und neue Ausdrucksformen
einführten. Der Text des Stückes wurde mit Ausnahme des
Prologs, der von Welimir Chlebnikow stammt, von Alexei Krutschonych
geschrieben, der einige Sequenzen in der von ihm entwickelten lauthaften
Za-um-Sprache formulierte. Der Maler Kasimir Malewitsch
entwarf die an kubistischen und futuristischen Formen ausgerichteten
Bühnenbilder und Kostüme, deren abstrakte Wirkung durch
den Einsatz von Scheinwerfern und damit verbundener Lichteffekte
noch verstärkt wurde. Die Musik komponierte Michail Matjuschin,
der sich auf die Verwendung von Vierteltönen konzentrierte,
wobei an einigen Stellen Geräusche, wie die Imitation des Ratterns
eines Flugzeuges, gezielt eingesetzt wurden.
Der Entwicklung einer bruitistischen Musik, welche auf der Verarbeitung
und Erzeugung von Geräuschen basierte, kam noch vor der Oktoberrevolution
das von Dziga Vertov gegründete Laboratorium des Gehörs
am nächsten. Vertov, der später zu den bedeutendsten sowjetischen
Filmregisseuren gehörte, analysierte dort verschiedenste Klänge
und Geräusche. Teilweise zeichnete er diese mit Phonographen
auf und schuf seinen Aufzeichnungen zufolge dokumentarische
Kompositionen und musikalisch-literarische Wortmontagen.
Nach der Sozialistischen Oktoberrevolution kam es zu einer grundlegenden
Veränderung der kulturellen Situation in Russland. Den kommunistischen
Zielsetzungen entsprechend wurde in den ersten Jahren die Kunst
an den Bedürfnissen breiter Schichten der Bevölkerung
ausgerichtet und blieb nicht länger einer kleinen privilegierten
Schicht vorbehalten. Durchgehend begrüßten die Futuristen
1917 die revolutionäre Machtübernahme der Bolschewiki.
Charakteristisch war das Bekenntnis Wladimir Majakowskis, der zu
den bedeutendsten kulturrevolutionären Dichtern der Zeit gehörte
und später mit den Marschgedichten eine wegweisende
Verbindung von Agitation und Lyrik schuf: Anerkennen oder
nicht anerkennen? Diese Frage existierte weder für mich noch
für andere Moskauer Futuristen. Das war unsere Revolution!
Zu den Aktivitäten der Futuristen in den Monaten nach der Revolution
gehörte die Gestaltung der zentralen 1.-Mai-Feier 1918 auf
dem Roten Platz in Moskau, der mit großformatigen Transparenten
geschmückt wurde, auf denen sich futuristische Graphiken und
revolutionäre Parolen befanden. Darüber hinaus beteiligten
sich die Futuristen an den Kulturbrigaden, sowie an den Fahrten
der Agit-Züge, die dazu beitragen sollten die Ideale der Revolution
auch in abgelegenen Landesteilen zu verbreiten. Mehrere Futuristen
engagierten sich zudem in den staatlichen Kulturgremien und übernahmen
dort leitende Positionen. In einem programmatischen Manifest hieß
es entsprechend: Von heute an, zugleich mit der Vernichtung
des Zarentums, wird abgeschafft das Dahinvegetieren der Künste
in Schlössern, in Galerien, Salons, Büchereien und Schauspielhäusern.
Maler und Schriftsteller werden verpflichtet, sofort die Farbtöpfe
zu ergreifen und mit den Pinseln ihrer Meisterschaft alle Flanken,
Stirnwände und Brustbreiten der Städte, der Bahnhöfe
und der ewig ausschwärmenden Eisenbahnwagen auszuschmücken.
Möge von nun an der Staatsbürger allerorten Musik der
vortrefflichen Tondichter hören: Melodien, Getöse, Geräusche.
Mögen die Straßen für jedermann zum Festtag der
Kunst werden. - Alle Kunst dem ganzen Volk!
Um 1920 löste sich in einem fließenden Prozess der Futurismus
als Bewegung weitgehend auf. Die meisten Futuristen, die sich später
mit anderen avantgardistischen KünstlerInnen in der Linken
Front der Künste (LEF) zusammenschlossen, hatten sich inzwischen
neuen Ansätzen geöffnet und die futuristischen Ausdrucksformen
weiterentwickelt. Gleichzeitig beeinflussten verschiedene Elemente
des russischen Futurismus nachhaltig verschiedene kulturelle Tendenzen.
So hatte das bruitistische Musikverständnis in den ersten Jahren
nach der Revolution einen großen Einfluss auf die Entwicklung
einer neuen Musikkultur. Im Moskauer Gewerkschaftspalast trat in
diesem Sinne mit den Ingenieuristen ein Geräuschorchester auf,
dessen Instrumente aus Motoren, Turbinen, Sirenen und Hupen zusammengesetzt
waren. Im Theaterbereich nutzen die Regisseure Wsewolod Meyerhold
und Nikolai Foregger bei einigen ihrer Aufführungen unter anderem
Maschinen, Metallstangen und Glasscherben zur Klangerzeugung.
Einen Schritt weiter ging Arseni Awraamow mit den Aufführungen
der von ihm unter der Bezeichnung Symphonie der Sirenen
konzipierten Produktionskonzerte, die sich in ihrer Umsetzung nicht
auf ein einzelnes Orchester bzw. einen Konzert- oder Theatersaal
beschränkten, sondern ganze Stadtteile in die Aufführungen
einbezogen. Als Instrumente kamen unter anderen Fabrikmaschinen,
Flugzeugmotoren, Schiffssirenen, Lastwagen und Maschinengewehre
zum Einsatz. Ein zentrales musikalisches Motiv der Konzerte bildete
das revolutionäre Arbeiterlied Die Internationale
an dessen Vortrag sich auch die ansässige Bevölkerung
beteiligte. Grundlegend für das Konzept der Produktionsmusik
war die Forderung nach einer zeitgemäßen proletarischen
Musik, die sich nicht nur inhaltlich von der bürgerlichen Musik
abgrenzte, sondern auch in ihrer konkreten akustischen Umsetzung.
Entsprechend wurden die klassischen Instrumente als rückständiger
Ausdruck einer unterdrückenden Kultur weitgehend abgelehnt
und stattdessen Instrumente eingesetzt, die den Arbeitsbereichen
des Proletariats entsprachen und die revolutionären Entwicklungen
angemessen umsetzten. Vor diesem Hintergrund gelang es durch die
Produktionskonzerte zumindest ansatzweise die vorherrschende Trennung
der Bereiche Kunst, Arbeit und Lebensalltag aufzuheben und damit
den Musik- bzw. Kunstbegriff neu zu definieren. Bis heute nahezu
einzigartig ist die Einbeziehung großer Teile der Bevölkerung
und die Ausweitung der Konzerte auf ganze Städte.
Einen anderen Weg ging Michail Matjuschin, der ab 1918 im staatlichen
Institut der Künste systematisch das Verhältnis von Licht,
Farbe und Ton untersuchte. In Rahmen verschiedener Aufführungen
in seiner Privatwohnung arbeitete Matjuschin gleichzeitig mit verschiedenen
Gemälden, Lichteffekten und Tönen und näherte sich
dabei seinem Ideal einer künstlerischen Ausdrucksform, welche
die Grenzen zwischen den einzelnen Kunstgattungen aufhebt. Ich
stelle mir eine rote Kugel von der Größe eines Kürbisses
vor, die wie ein Gong erklingt; ihr gegenüber einen grünen
Kubus, der ein prasselndes Geräusch von sich gibt. Oder eine
niedrige Kelchform von grüner Farbe, die wie die tiefe Baßsaite
eines Flügels klingt, und auf der gegenüberliegenden Seite
eine himmelblaue Spirale, die Pfiffe von sich gibt.
In der Mitte der zwanziger Jahre nahm der staatliche Druck auf experimentelle
und avantgardistische Kunstbewegungen kontinuierlich zu, auch wenn
ihnen ausdrücklich ein Bekenntnis zur Revolution zu Grunde
lag. 1932 kam es zur Durchsetzung des Sozialistischen Realismus
als einzige staatlich geduldete Kunstrichtung und damit zur Aufgabe
der Politik der Toleranz gegenüber verschiedenen kulturrevolutionären
Strömungen. In Folge wurden unter dem Vorwurf des Formalismus
und der Links-Abweichung alle fortschrittlichen KünstlerInnen
verfolgt, die sich nicht bedingungslos den staatlichen Vorgaben
unterordneten. Zwangsweise zu Ende ging dadurch eine Phase der Innovation
und des Experiments, die sich nicht auf die eingeschränkte
Sphäre avantgardistischer Kreise beschränkte, sondern
gesamtgesellschaftlich eine kulturell aufbrechende Bedeutung erlangt
hatte.
Vom Autor überarbeiteter Abschnitt aus dem Buch:
Wolfgang Sterneck:
Der Kampf um die Träume
- Musik und Gesellschaft. (1998).
contact@sterneck.net
www.sterneck.net
- * -

|